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Inhaltsverzeichnis
Das weltliche Weltgericht Eine Einleitung
TEIL I: Von Nürnberg nach Den Haag
Saal 600
Richter statt Soldaten
Die letzte Nacht in Rom
TEIL II: Das Verfahren
Grenzen des Rechts
Blutspuren
Staatschefs auf der Anklagebank
Von Angesicht zu Angesicht
Ohne jeden Zweifel
Check-in im »Hilton«-Trakt
TEIL III: Nach dem Urteil
Das Leben danach
Macht und Machtlosigkeit
Anhang
Anmerkungen
Über den Autor
Impressum

Fiat iustitia, ne pereat mundus.

Es geschehe Gerechtigkeit, und die Welt wird nicht untergehen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1821

Das weltliche Weltgericht
Eine Einleitung

Die Luft ist kühl auf der Haut. Vielleicht ist es die Klimaanlage. Oder das Gefühl, dass es hier immer kühl ist und der bloße Ort die Gänsehaut verursacht. Im Zuschauerraum des Internationalen Strafgerichtshofs reihen sich die Klappsitze aneinander, nach oben ansteigend wie in einem Theater. Der Gerichtssaal selbst ist durch eine schusssichere Glaswand abgetrennt und hinter einem dicken Vorhang verborgen. Geht der Vorhang auf, erscheint die Szenerie, und das Stück beginnt.

Ein Gerichtsdiener hastet zu einem Mikrofon bei der Tür und ruft: »All rise, veuillez vous lever!« Der Saal erhebt sich. Richter in ehrwürdigen Gewändern schreiten herein.

Auf der Bühne sitzen zur Linken die Ankläger, daneben die Vertreter der Opfer. In der Mitte die Richter in marineblauen Roben mit weißem, plissiertem Barett. Aus Sicht der Zuschauer rechts die Verteidiger. Hinter ihnen, in der letzten Reihe, ist der Platz des Angeklagten. Man erkennt ihn sofort, da er als Einziger im Saal einen Anzug und keine Robe trägt. Direkt hinter der Glasscheibe, mit dem Rücken zu den Zuschauern, werden die Zeugen Platz nehmen. Auf dem Tisch stehen ein Mikrofon, ein Bildschirm, auf dem Beweismaterial und Dokumente gezeigt werden, und manchmal eine Schachtel mit Papiertaschentüchern. Für die Tränen.

Immerzu die gleiche Szene vor derselben Kulisse, nur die Akteure verändern sich im Lauf der Jahre. Seit 2010 beobachte ich die Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof und habe seither unzählige Stunden dem Treiben beigewohnt. Präsidenten und Milizionäre gingen hier ein und aus. Darunter Präsident Uhuru Kenyatta aus Kenia, der erste amtierende Staatschef auf der Anklagebank. Oder der gealterte Präsident der Elfenbeinküste, Laurent Gbagbo mit den kleinen Augen.

In den vergangenen Jahren habe ich Zeugen zugehört, die manchmal als die Einzigen ihres Dorfes ein Blutbad überlebt haben. Frauen, Männer, Mädchen, Kinder, Kindersoldaten, die die vergessenen Verbrechen aus so fernen Regionen wie Norduganda, der Zentralafrikanischen Republik oder der Provinz Ituri im Ostkongo ganz nahe gebracht haben.

Manche haben geweint. Andere haben ihre Antworten auf die Fragen der Anwälte wie Computerstimmen heruntergerattert. Sie erzählten von Familien, die verbrannten. Von Babys, die an die Wand geschlagen wurden. Von Jungen, denen die Hand abgehackt wurde.

Als ich in Den Haag meine Arbeit aufnahm, stellte ich fest, dass ich nicht im Ansatz eine Vorstellung davon hatte, was Menschen zu tun in der Lage sind. Eine der erfahrensten Ermittlerinnen der Vereinten Nationen, Carla Del Ponte, drückte es einmal so aus: »Das Geräusch der Macheten, die durch Fleisch schneiden, die Schreie in der Nacht, das Weinen der Kinder, die wütenden Befehle des Wahnsinns kann ich mir wohl ausmalen, aber ich weiß zugleich, dass der wirkliche Schrecken meine Vorstellungskraft übersteigt.«1

Die Haager Völkerrechtsprozesse kehren die Weltpolitik um. Präsidenten ordnen sich Richtern unter. Recht gegen Macht. Gut gegen Böse. Blut, Verschwörungen und Verstrickungen. Und am Ende ein Urteil.

Der Weg zu mehr Gerechtigkeit und Frieden ist jedoch lang und beschwerlich. Ein gewöhnlicher Tag am Internationalen Strafgerichtshof ist spektakulär unspektakulär. Die tägliche Arbeit des Gerichts gleicht oft dem Bohren eines Tunnels im Gebirge – es geht nur zentimeterweise vorwärts. An manchen Tagen, wenn sich das Umfeld als besonders hart erweist, geht gar nichts. Ein Fortschritt ist kaum spürbar. Erst aus der Vogelperspektive, im Nachhinein, wenn der Durchbruch geschafft ist, wird das Spektakuläre sichtbar.

Der Internationale Strafgerichtshof ist eine bisher einzigartige Einrichtung. Nie zuvor gab es ein internationales Gericht, vor dem sich Präsidenten, hochrangige Militärs oder Rebellenführer verantworten mussten. Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 standen in den internationalen Beziehungen die Souveränität und die Eigenständigkeit von Staaten über allem. Was innerhalb eines Landes geschah, ging folglich andere Regierungen oder die Staatengemeinschaft nichts an.

Genau 350 Jahre später, 1998, wurde auf einer Staatenkonferenz in Rom der Internationale Strafgerichtshof gegründet. Mehr als 120 Staaten haben sich inzwischen freiwillig seiner Gerichtsbarkeit unterworfen, indem sie dem Römischen Statut beigetreten sind, dem Gründungsvertrag des Gerichts. Sie erlauben damit den Ermittlern des Strafgerichtshofs, im eigenen Land einzugreifen. Die Länder erkennen zudem an, dass es keine Immunität mehr gibt – nicht einmal für Staatsoberhäupter. Sie verpflichten sich sogar, eigene Staatsbürger nach Den Haag auszuliefern, wenn diese schwerer Verbrechen verdächtigt werden.

Das ist das Prinzip, mit dem der Internationale Strafgerichtshof in eine neue Welt vorgestoßen ist. Recht gilt im 21. Jahrhundert für alle, auch für die Mächtigen. Das Recht eines Souveräns, seine eigene Bevölkerung abzuschlachten, wird nicht länger geduldet. Dafür legen sich die Juristen mit den Mächtigen an.

Die Idee entstand in Nürnberg 1945, als die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes vor ein Gericht stellten. Bis zu den Nürnberger Prozessen galt internationales Recht – das Völkerrecht – als eine Angelegenheit von Regierungen. Staaten gingen Verträge ein, erklärten Kriege und schlossen Frieden. Sie waren die einzigen im internationalen Recht haftbaren Akteure. In Nürnberg wich man zum ersten Mal von diesem Prinzip ab: Völkerrecht wurde nicht mehr nur auf Staaten angewendet, sondern auch auf Einzelpersonen. »Verbrechen gegen internationales Recht werden von Menschen begangen, nicht von abstrakten Einheiten«, erklärten die Richter im Urteil von Nürnberg.2 Nicht »Staaten« oder »Regierungen« sind für Kriegsverbrechen verantwortlich, sondern Soldaten, Generäle und Präsidenten.

Der Grundsatz, dass eine Einzelperson für Verletzungen des internationalen Rechts angeklagt werden kann, ist heute im Völkerstrafrecht verankert. Die vier völkerstrafrechtlichen Kategorien von Verbrechen sind im Gründungsvertrag des Internationalen Strafgerichtshofs festgelegt. Es sind die vier schwersten Verbrechen der Welt: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression.

Die Hauptakteure

Vom siebten Stock aus, dem hoch gelegenen dritten Gerichtssaal, sieht man am Horizont einen Streifen der Nordsee. Direkt hinter dem Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs im Norden von Den Haag beginnen Dünen aus Sand, die mit Buschgras bewachsen die Stadt vom Meer trennen. Im ersten Jahrzehnt war das Gericht in einem ehemaligen Bürohochhaus der Telekom untergebracht, das Parkhaus zu Gerichtssälen umgebaut. Seit Ende 2015 residiert das Strafgericht in einem eigenen Glasbau im Norden der Stadt.

Die oberen Stockwerke des Gebäudes bieten einen Rundumblick über Den Haag, das in den vergangenen Jahren zur Welthauptstadt des Friedens und des Rechts gewachsen ist. Das Tribunal für das ehemalige Jugoslawien, das die Verbrechen der 1990er Jahre auf dem Balkan aufarbeitet, hat seinen Sitz nur ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt. Auch das Tribunal für den Libanon, wo die Ermordung des libanesischen Premierministers Rafik Hariri 2007 untersucht wird, befindet sich in der Stadt, in jenem Gebäude, in dem zuvor das Tribunal für Sierra Leone die Verbrechen während des Bürgerkriegs in Westafrika verfolgte.

Mit all diesen Einrichtungen hat der Internationale Strafgerichtshof nicht viel zu tun. Zwei wesentliche Dinge unterscheiden sie: Die sogenannten Ad-hoc-Tribunale wurden von den Vereinten Nationen gegründet. Deshalb sind sie UN-Organe und erhalten – theoretisch – die Unterstützung aller 193 UN-Staaten. Vom UN-Sicherheitsrat geschaffen und kontrolliert, sind sie auch ihm Rechenschaft schuldig.

Der Internationale Strafgerichtshof ist dagegen keine UN-Einrichtung: Staaten müssen dem Römischen Statut, dem Gründungsvertrag des Gerichts, ausdrücklich beitreten. Zurzeit sind mehr als 120 Länder Mitglied des Strafgerichtshofs, der auch von diesen kontrolliert wird.

Der zweite Unterschied ist die Gerichtsbarkeit: Die Tribunale sind beschränkt auf einen bestimmten Zeitraum und eine bestimmte Region. Wenn alle Fälle abgeschlossen sind, machen sie dicht. Der Internationale Strafgerichtshof dagegen kann zeitlich und geografisch fast uneingeschränkt in Konflikte und Bürgerkriege eingreifen. Er obliegt keinem Verfallsdatum und ist somit das erste ständige internationale Strafgericht der Welt. Eine Einrichtung, die bleibt.

Er verfügt über eine eigene Anklagebehörde, die den Hergang von Verbrechen ermittelt, Anklageschriften verfasst und im Gerichtssaal Beweise und Argumente für die Schuld eines Angeklagten präsentiert. Etwa 800 Angestellte mit 100 Nationalitäten arbeiten insgesamt am Gericht. Knapp die Hälfte davon, 380, sind in der Anklagebehörde beschäftigt: Juristen, Ermittler, Sprachwissenschaftler, Forensiker, Computerexperten, Psychologen. Sie wühlen sich durch Dokumente, heben Massengräber aus, ordnen Verdächtigen Telefonnummern zu und befragen Zeugen.

Auf der anderen Seite die Verteidigung. Die Anwälte, die die Angeklagten vertreten, sind unabhängig und kommen von außen. Das Gericht führt eine Liste mit den Namen von mehreren Hundert Anwälten, die zugelassen und befähigt sind, in einem Kriegsverbrecherprozess aufzutreten. Weil die Verfahren so komplex sind, steht den Angeklagten ein Team aus mehreren Verteidigern zur Seite.

Zwischen den Parteien arbeitet die streng unabhängige Verwaltung des Strafgerichtshofs: Die Kanzlei (Registry) plant die Sitzungstermine, übersetzt die Dokumente, dolmetscht während der Verhandlungen, verwaltet Einnahmen und Ausgaben und organisiert das Zeugenschutzprogramm.

Eine besondere Abteilung stellt die Opfervertretung dar, in der Anwälte beispielsweise die Interessen von Dorfgemeinschaften oder anderen Geschädigten vertreten. Einzelpersonen der betroffenen Gegenden können sich dort registrieren und als Opfer anerkennen lassen. Sie werden dann gemeinschaftlich von einem Anwalt in Den Haag vertreten. Oft ist ein Anwalt dann für mehrere Hundert Menschen zuständig. Die Opfervertretung ist keine Partei im Prozess, nimmt aber an den Sitzungen teil und kann Anträge stellen.

Hinzu kommen Abteilungen wie der Treuhandfonds für Opfer, der nach einer Verurteilung Entschädigungen verteilt, das Zeugenschutzprogramm oder die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, die in den betroffenen Gebieten versucht, die Verfahren näher an die Bevölkerung zu bringen.

Schließlich arbeiten insgesamt 18 Richter am Strafgerichtshof, die von den Mitgliedsstaaten für je neun Jahre nominiert und gewählt werden. Je nach Stadium eines Verfahrens sitzen sie allein, zu dritt oder zu fünft auf der Richterbank.

Die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs ist vielfältiger und komplexer als die eines nationalen, »gewöhnlichen« Gerichts. Die große Entfernung zwischen Den Haag und den Tatorten überall auf der Welt erschwert das Finden von Beweisen und die Festnahme der Verdächtigen. Die Art der Fälle, hochkomplex und hochpolitisch, macht die Arbeit heikel und gefährlich.

Wie jedes Gericht kann der Strafgerichtshof Haftbefehle ausstellen, Zeugen aufrufen, Beweise beantragen, Urteile fällen, Vorladungen verschicken. Im Gegensatz zu einem nationalen Gericht steht Den Haag aber keine eigene Polizei zur Verfügung, um Entscheidungen in der Praxis durchzusetzen.

Deshalb ist der Strafgerichtshof auf die Mitarbeit der Mitgliedsländer angewiesen: Der Opferfonds muss von Regierungen gefüllt werden; die Ermittler brauchen Visa für ihre Reisen an die Tatorte; die verurteilten Kriegsverbrecher müssen von einem Land aufgenommen werden, weil der Strafgerichtshof kein eigenes Gefängnis besitzt.

In den folgenden Kapiteln soll es darum gehen, wie der Internationale Strafgerichtshof funktioniert und wie er kämpft: um Anerkennung und Auslieferungen, um die Mitarbeit von Staaten, um Finanzmittel, Zeugen – und um Gerechtigkeit.

Die Gründung des Gerichts war eines der gewagtesten Experimente der Weltpolitik. Die Verwirklichung eines Traums, der die Menschen seit Jahrhunderten beschäftigte. Vielleicht der Beginn einer neuen Ära, in der am Ende Gerechtigkeit über Gewalt siegt.

Ein Jahrzehnt nach der Gründung wird deutlich, wie lang der Weg noch ist, bevor das Gericht diese Ideale erreicht. Die weiteren Kapitel geben einen Eindruck von den mühsamen Ermittlungen und den langwierigen und teuren Prozessen. Es mangelt an Geld und Willen seitens der Regierungen, Verdächtige festzunehmen und auszuliefern. Manche Länder wehren sich grundsätzlich gegen die neue Welt und lehnen das Gericht ab. Wie gerecht kann das Gericht aber sein, wenn es nur bestimmte Fälle bearbeiten kann, weil ihm aus politischen Gründen regelmäßig das Mandat fehlt – beispielsweise in Syrien? Gibt es überhaupt eine gerechte Strafe für hundert- oder tausendfachen Mord? Oder sprengen die Verbrechen, die heute in Den Haag verhandelt werden, ohnehin »die Grenzen der Gesetze«, wie die Philosophin Hannah Arendt schrieb? Sind sie also gar nicht »verhandelbar«?

Wer wagt diesen Kampf um Gerechtigkeit? In Den Haag kämpft Fatou Bensouda, die Chefanklägerin, jeden Tag für die Durchsetzung der Ideale. Madame Fatou, wie sie in ihrem Büro genannt wird, ist eine lächelnde, kräftig gebaute Gambierin. Sie ist ein zurückhaltender, höflicher Charakter und sehr angesehen wegen ihrer Strenge.

Wer sind die Angeklagten? Einer, der im Buch immer wieder auftaucht, ist Thomas Lubanga, Anführer der kongolesischen Miliz UPC. Er war der allererste Angeklagte des neuen Gerichts. Ein anderer ist Bosco Ntaganda, genannt der »Terminator«, der den militanten Flügel der UPC angeführt hat. Lubangas und Ntagandas Gegner im Kongo waren Germain Katanga und Mathieu Ngudjolo Chui, die später ebenfalls in Den Haag vor Gericht erschienen. Lange standen sich die Truppen der vier früheren Feinde auf den Schlachtfeldern im Kongo gegenüber. Später, im Haftzentrum des Internationalen Strafgerichtshofs in den Niederlanden, aßen sie am selben Tisch gemeinsam zu Abend.

Die Notwendigkeit

Massengewalt ist weder zeitlich noch geografisch weit entfernt. Es ist auch kein Ausnahmephänomen, wie der Harvard-Politologe und Publizist Daniel Jonah Goldhagen in seinem umfangreichen Werk zu Massenmorden anmerkt. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts kamen vorsichtigen Schätzungen zufolge mindestens 83 Millionen Menschen dabei um. Ein ganzes Deutschland. Oder zwei Prozent der Weltbevölkerung. Nimmt man die höhere Schätzung von 175 Millionen als Grundlage, wären es sogar vier Prozent.3

»Unsere Epoche ist ein Zeitalter des Massenmords«, schreibt Goldhagen. »Massenvernichtung und -eliminierung sind kein Ad-hoc-Problem, das von Fall zu Fall für Bewohner der westlichen Welt gewöhnlich an scheinbar weit entfernten Orten auftaucht.« Vielmehr sind es ständig wiederkehrende Phänomene.

Nun gibt es zum ersten Mal eine Instanz, die dem ein Ende setzen soll. Der Internationale Strafgerichtshof hat den Auftrag, so steht es in der Präambel des Gründungsvertrags, »die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren«, zu verfolgen. Die Verbrechen, die die Gründer des Gerichts 1998 in das Römische Statut aufgenommen haben, sind nicht nur Angriffe auf die direkten Opfer, sondern auch auf die Werte, denen sich die Weltgemeinschaft verbunden und verpflichtet fühlt.

Doch Normen, Gesetze und Regeln sind nur wenig wert, wenn sie niemand einfordert. Aus diesem Grund gibt es den Internationalen Strafgerichtshof.

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TEIL I:
Von Nürnberg nach Den Haag

Saal 600

Was sollte man tun, wenn Adolf Hitler plötzlich vor einem stünde?4 Ivor Thomas, ein Abgeordneter der britischen Labour-Partei, fragte im März 1945 im Unterhaus des britischen Parlaments, ob es »die Pflicht eines britischen Soldaten wäre, Hitler zu töten oder zu versuchen, ihn lebend zu fangen«.5

Außenminister Anthony Eden hatte keine Antwort. »Ich bin sehr geneigt, diese Entscheidung dem jeweiligen britischen Soldaten zu überlassen.« Hitler sei der Hauptkriegsverbrecher, sagte Eden. Sollte er jedoch lebend angetroffen werden, würde er bestraft. So hätten es die Alliierten zuvor abgesprochen.

Die Idee der Bestrafung geht zurück auf die Initiative mehrerer Regierungen. Als nahezu der gesamte europäische Kontinent in die Hände der Deutschen gefallen war, kamen im Juni 1941 die Vertreter aus den besetzten Ländern im St. James’s Palace in London zusammen. Die britische Hauptstadt beherbergte nicht weniger als neun Exilregierungen. Und während auf dem Kontinent der Krieg tobte, dachte man auf der Insel bereits über die Zeit nach einem Ende der Tyrannei nach.

Die neun Exilregierungen sowie Vertreter von Großbritannien, Australien, Kanada, Neuseeland und Südafrika präsentierten im Januar 1942 eine Erklärung, in der sie forderten, »die Bestrafung der für die Verbrechen Verantwortlichen durchzusetzen, und zwar im Wege der Rechtsprechung, gleichgültig, ob die Betreffenden alleinschuldig oder mitverantwortlich für die Verbrechen waren, ob sie sie befohlen oder ausgeführt haben oder ob sie daran beteiligt waren«.6 Die Verantwortlichen sollten unabhängig von ihrer Nationalität aufgespürt, angeklagt und gerichtet werden. Die verhängten Strafen müssten vollstreckt werden.

Den Großen Drei der Alliierten – Großbritannien, den USA und Russland – erschien diese Idee zunächst recht blauäugig. Der britische Premierminister Winston Churchill, der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der Führer der Sowjetunion, Josef Stalin, trafen sich in den letzten Kriegsjahren immer wieder. In erster Linie galt es, die Strategie der Kriegsführung zu koordinieren und die Zukunft Deutschlands zu besprechen. Wie mit den Nazis weiter verfahren werden sollte, war zunächst zweitrangig. Stalin hatte dafür bereits eine Lösung vorgeschlagen: einfach erschießen.

Im Herbst 1943 besannen sich die USA, Großbritannien und Russland in der Moskauer Konferenz der alliierten Außenminister auf die Erklärung von St. James und einigten sich schließlich darauf, die deutschen Täter – sollten sie aufgegriffen werden – nicht zu töten. In der abschließenden Deklaration legten sich die Regierungen auf zwei wesentliche Prinzipien fest. Erstens: Täter sollten in den Ländern vor Gericht gestellt werden, in denen die Verbrechen begangen wurden. Zweitens: Die Hauptkriegsverbrecher sollten von einem internationalen Militärtribunal angeklagt werden, dessen Planung das amerikanische Kriegsministerium übernahm.

1945 beschlossen die Alliierten das Londoner Statut, den Gründungsvertrag des Internationalen Militärtribunals (IMT).7 Darin ist festgelegt, dass das Gericht die Verbrechen der europäischen Achsenmächte Deutschland und Italien verfolgen soll und für drei Kategorien von Verbrechen zuständig ist: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Nun mussten die Juristen noch einen Weg finden, die Verantwortlichen anzuklagen. Das Militärtribunal sollte wie später der Internationale Strafgerichtshof nicht einzelne Soldaten verfolgen, die selbst an Massakern beteiligt waren – sondern die Hintermänner, die Auftraggeber und die Planer. Der amerikanische Kriegsminister Henry Stimson und seine Juristen tüftelten deshalb das Konzept »Gemeinsamer Plan oder Verschwörung« aus. Damit wollten sie die Taten der Nationalsozialisten als Ganzes verfolgen. Statt einzelne konkrete Akte anzuklagen, sollte der gesamte Krieg als große Verschwörung angesehen werden. Die Massaker in den besetzten Gebieten und die Verbrechen an der Zivilbevölkerung wurden als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« betrachtet und als solche angeklagt. Sie bezeichnen systematische Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Diese Rechtskategorie war in Nürnberg neu geschaffen worden, sollte aber erst in den Jahrzehnten danach an Bedeutung gewinnen und die Strafverfolgung von Verbrechen ermöglichen, die zu Friedenszeiten und an der Bevölkerung begangen werden.

Die Anklage konzentrierte sich vor allem auf den Krieg und das Kriegsvölkerrecht. Letzteres umfasst zwei Elemente: ius in bello, das Recht im Krieg, welches die Normen und Regeln der Kriegsführung festschreibt und zum Beispiel regelt, wie mit der Zivilbevölkerung, Kriegsgefangenen und Kulturgut umgegangen werden muss. Und ius ad bellum, das Recht zum Krieg, das auf die grundsätzliche Frage antwortet, was einen Krieg überhaupt erst legitimiert.

Für den ersten Aspekt, das Verhalten im Krieg, legen schon die Genfer Konventionen von 1864 und 1906 fest, was im Einzelnen auf dem Schlachtfeld erlaubt ist. 1899 und 1907 ergänzten dies die Konferenzen in Den Haag mit Verträgen zur Kriegsführung an Land und auf See. Verstöße gegen jene Vertragsregeln sind seither Kriegsverbrechen, so das Misshandeln und Töten von Kriegsgefangenen oder der Zwang zur Sklavenarbeit. Das alles kannte man schon.

Neu dagegen war die Anwendung des ius ad bellum – die Frage nach der Legalität des Kriegs. Der Angriffskrieg Deutschlands stellte zweifelsfrei eine Verletzung des Völkerrechts dar, weil kein Land ein anderes Land einfach angreifen darf. Die Idee der Alliierten, nun Einzelpersonen zur Rechenschaft zu ziehen, war so radikal wie bahnbrechend. Es war der entscheidende Durchbruch: Das ius ad bellum wird nicht nur auf Staaten angewendet, sondern auf Menschen aus Fleisch und Blut. Diese Idee brachte ein 300 Jahre geltendes Konzept ins Wanken, denn seit 1648, dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, und der mit dem Westfälischen Frieden von Osnabrück und Münster geschaffenen modernen Weltordnung waren Staaten untereinander gleich und selbstständig und souverän. Staaten verhandelten Verträge miteinander, erklärten Kriege, schlossen Frieden. Das ist das Fundament des heutigen internationalen Strafrechts, ohne das der Internationale Strafgerichtshof nie hätte gegründet werden können.

Auf dieser Grundlage schrieben die Alliierten die Anklage gegen die Nazis.

Prominente Angeklagte

Nur ein paar Tage nachdem Adolf Hitler sich das Leben genommen und das Deutsche Reich kapituliert hatte, nahm der amerikanische General Lucius Clay den Richter des amerikanischen Gerichtshofs, Robert Jackson, mit nach Nürnberg. Jackson sollte Hauptankläger des Tribunals werden. Im Mai 1945 landete er in einer Stadt, wo Bombenangriffe 90 Prozent der Gebäude in der Innenstadt zerstört hatten.

Genau hier sollte der Prozess stattfinden: In Nürnberg hatte Hitler die Massenversammlungen der NSDAP abgehalten und auf einem Parteitag die »Rassengesetze« verabschieden lassen. In Nürnberg wurde die juristische Basis für die Judenverfolgung gelegt. Die Wahl des Ortes war von großer symbolischer Bedeutung, hatte aber vor allem politische und praktische Gründe. Denn Nürnberg lag in der amerikanischen Besatzungszone. Ausschlaggebend war zudem, dass der Justizpalast an der Fürther Straße fast unzerstört aus den Ruinen ragte. Auch die angeschlossene Haftanlage war noch intakt. Im Sommer räumten deutsche Kriegsgefangene die Trümmer rund um das Gebäude auf. Ein hölzerner Korridor wurde gebaut, durch den die Gefangenen von den Zellen im Gefängnis hinter dem Justizpalast direkt in den Saal geführt werden konnten. Im Innern des Schwurgerichtssaals 600 verlegte der Technologiekonzern IBM Kabel für Kopfhörer und Mikrofone – die erste Simultanübersetzungsanlage der Welt.

Am 20. November 1945 wurde der Hauptkriegsverbrecherprozess eröffnet. Auf der Anklagebank: die 21 Führungspersönlichkeiten des Naziregimes. Sie saßen auf Holzbänken, leicht erhöht und eingerahmt von Militärpolizisten. Die Angeklagten waren gezielt ausgewählt worden und sollten die verschiedenen Teile der Machtstruktur repräsentieren. Allen voran Rudolf Heß, »Stellvertreter des Führers«, Hermann Göring, Hitlers designierter Nachfolger, Außenminister Joachim von Ribbentrop, Julius Streicher, verantwortlich für das Propagandablatt »Der Stürmer«. Für das Militär saß unter anderem Wilhelm Keitel in Nürnberg, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Für die Wirtschaft Hjalmar Schacht, Präsident der Reichsbank.

Statt der bis dato üblichen Hinrichtung erwartete die Hauptkriegsverbrecher ein rechtsstaatliches Verfahren. »Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richterspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat«, sagte Chefankläger Jackson in seinem Eröffnungsplädoyer.

Moral triumphiert über Macht, Gerechtigkeit über Krieg, Recht über Straflosigkeit: Jacksons Haltung ist bis heute das Erbe von Nürnberg.

»Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben«, sagte Jackson. Das Tribunal sollte die Werte der Völkergemeinschaft beschützen, das begangene Unrecht sühnen und Frieden wiederherstellen. Dafür war es notwendig, die Grundlagen des Völkerrechts zu ändern und die westfälische Ordnung, in der Staaten jahrhundertelang die einzigen Akteure darstellten, aufzubrechen. Plötzlich konnten Personen angeklagt werden, die sich bisher vor Strafverfolgung sicher wähnten. Bis 1945 galt nicht allein die Souveränität von Staaten, sondern auch die Unberührbarkeit ihrer Führer. Staatschefs und hohe Regierungsfunktionäre, genau wie Diplomaten, waren von der Strafverfolgung ausgenommen, sie genossen Immunität. Folglich war es unmöglich, sie anzuklagen. »Rex non potest peccare«, der König kann kein Unrecht tun und deshalb auch nicht verfolgt werden. Wenn die Taten so schwer sind, dass sie die ganze Menschheit berühren und erschüttern, wäre es jedoch Unrecht, gerade jene mit der größten Verantwortung auszunehmen. Es gab nur eine Lösung: Auch Staatschefs sollten verfolgt werden können und sich verantworten müssen. Artikel 7 des Gründungsvertrags des Militärtribunals entzieht Funktionären jeglichen besonderen Schutz. Das offizielle Amt eines Angeklagten, ob als Staatschef oder Regierungsvertreter, soll ihn nicht von seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit befreien, heißt es da.

Am 30. September und am 1. Oktober 1946, zehn Monate nach der Eröffnung des Prozesses, sprachen die Richter in Nürnberg die Urteile. Zwölf Angeklagte wurden zum Tode durch den Strang verurteilt, drei zu lebenslanger Haft und vier zu Haftstrafen zwischen zehn und 20 Jahren. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. Am 16. Oktober wurden die Todesurteile in einer Turnhalle hinter dem Justizpalast vollstreckt.

Die Verteidiger hatten noch versucht, sich auf die alte Ordnung zu stützen, und argumentiert, eine Einzelperson, die im Auftrag eines Staates handle, könne nicht persönlich haftbar gemacht werden. Zudem beschränke sich Völkerrecht auf Angelegenheiten zwischen Staaten. Im Urteil von Nürnberg fegten die Richter diesen Grundsatz vom Tisch. »Verstöße gegen internationales Recht werden von Menschen begangen, nicht von abstrakten Einheiten.«8

Mit der Verkündung des Urteils im Herbst 1946 war eine neue Norm im Völkerrecht geschaffen: Immunitäten gelten seither für bestimmte internationale Verbrechen nicht mehr.9 1948 fand das Prinzip Eingang in die Konvention gegen Völkermord; 1973 in die Konvention gegen Apartheid und 1984 in die Anti-Folter-Konvention sowie 1993 und 1994, als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda ins Leben rief, wurden auch dort die besagten Immunitäten aufgehoben. So stand im Jugoslawien-Tribunal, das die Verbrechen des Balkankriegs aufarbeitete, Slobodan Milošević vor Gericht. Vor dem Ruanda-Tribunal musste sich Jean Kambanda, der Präsident des extremistischen Regimes, für den Völkermord 1994 verantworten.

Der Internationale Strafgerichtshof schreibt die Grundlagen von Nürnberg ein für alle Mal fest. Und niemand ist davon ausgenommen. Der Gründungsvertrag – das Römische Statut – hebt jegliche Immunitäten für die vier Verbrechen auf, die der Strafgerichtshof verfolgen kann: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression.

In den ersten Jahren leitete das Gericht Verfahren gegen vier ehemalige, amtierende und zukünftige Staatschefs ein: Laurent Gbagbo, ein abgewählter Präsident der Elfenbeinküste; Uhuru Kenyatta, der frisch gewählte Präsident von Kenia; Libyens Herrscher Muammar al-Gaddafi und schließlich Omar al-Baschir, der Präsident des Sudan, gegen den gleich zwei Haftbefehle erlassen wurden.

Der Chefankläger des Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, schreckte nicht davor zurück, wie auch in Nürnberg die höchste Staatsebene zu verfolgen. Die Idee vom Ende der Straflosigkeit und der Immunitäten schien sich durchgesetzt zu haben – zumindest theoretisch.

Die Unberührbaren?

Der Präsident entkam nur knapp. An einem Samstagabend im Juni 2015 jettete Omar al-Baschir ins südafrikanische Johannesburg, um in Sandton, dem Vorort der Reichen, an einem Gipfeltreffen teilzunehmen. Beim Gruppenfoto der Staats- und Regierungschefs stellte sich der kräftig gebaute Präsident der Republik Sudan in seinem marineblauen Anzug in die erste Reihe, legte die Hände ineinander und lächelte.

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