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Susanne Talabardon

Chassidismus

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG

Inhaltsverzeichnis

Copyright / Impressum

UTB Band 4676

ISBN print 978-3-8252-4676-1

e-ISBN EPUB 978-3-8463-4676-1

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© 2016 Mohr Siebeck Tübingen.

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e-ISBN EPUB978-3-8463-4676-1

Fußnoten

Gen 10,89 Nimrod, der in der jüdischen Tradition als großer Frevler gilt.

Wie Kain, Gen 4,14.

Anspielung auf die Jotamsfabel (Ri 9,14), in der ausgerechnet der Dornbusch den anderen Bäumen seinen Schatten (!) anbietet.

Vgl. bBQ 92b. Kontext: „Was mit dem Unreinen verbunden, ist unrein, was mit dem Reinen verbunden, ist rein. […] R. Elieser sagte: Nicht umsonst ging der Star zum Raben, sondern weil er zu seiner Art gehört.“

Vgl. Dtn 18.

Es gibt noch zwei kleinere Zweige der Skver-Chassidim, genannt Skver-Boro Park und Skver-Flatbush.

Die Dependance in Haifa (d.i. Seret-Vizhnitz) verfügt über einen eigenen Rebben: Eli’eser Hager.

|1|Vorwort

Diese Einführung in ‚den Chassidismus‘ kommt in mancherlei Beziehung viel zu früh. Die moderne Forschung zu jener vielgestaltigen, dynamischen jüdischen Strömung steckt noch in ihren Anfängen. So sind zwar außerordentlich tragfähige und teilweise umfassende historische und religionsgeschichtliche Arbeiten zu den frühen chassidischen Meistern entstanden, zu bemerkenswerten späteren Entwicklungen existieren jedoch allenfalls Einzelstudien. Manche Region, die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts bedeutende chassidische Gruppierungen beheimatete – man denke an das slowakisch-ungarische Grenzgebiet oder Bessarabien – hat bisher kaum systematische Beachtung erfahren. Einen wirklichen Überblick über die höchst verschiedenfarbigen Gemeinschaften und ihre theoretischen Konzepte, inklusive ihrer Entstehungsbedingungen oder der Wechselwirkungen zwischen ihnen, kann derzeit eigentlich niemand wissenschaftlich verantwortlich vermitteln. Das vorliegende Buch kann daher höchstens als deskriptive Momentaufnahme einer baulichen Struktur gelten, deren Konstruktionspläne noch nicht bekannt sind.

Andererseits erscheint es für den deutschen Sprachraum überfällig, eine auf modernen Forschungen basierende Übersicht zur Geschichte des Chassidismus anzubieten. Trotz grundlegender Arbeiten deutscher Judaisten wie Karl Erich Grözinger oder Michael Brocke ist das Bild jener osteuropäischen Reformbewegung in der hiesigen Öffentlichkeit noch weithin geprägt von den romantischen Entwürfen Martin Bubers (18781965). In der Tat spielte der Religionsphilosoph eine entscheidende Rolle dabei, den Westen Europas auf den Chassidismus aufmerksam zu machen. Dass Bubers Hörer und Leser es letztlich allerdings mit einer von ihm selbst transformierten und den westlichen Bedürfnissen angepassten Form jüdischer Theosophie und Lebensweise zu tun bekamen, ahn(t)en die meisten nicht.

Auch das zweite, im deutschen Sprachraum weit verbreitete Referenzwerk, die zweibändige „Geschichte des Chassidismus“ von Simon Dubnow, entspricht in vielerlei Hinsicht nicht dem gegenwärtigen Forschungsstand. Das gilt insbesondere für dessen Grundannahme, der Chassidismus sei etwa ab dem Jahre 1815 zu einem „Zaddikismus“, einer blindwütigen, von abergläubischen Vorstellungen gespeisten Verehrung von chassidischen Heiligen degeneriert. Krisen- und Katastrophentheorien, die bis in die achtziger |2|Jahre des 20. Jahrhunderts die Forschungslandschaft prägen sollten, werden heute kaum mehr vertreten. Wer indessen derlei neuere wissenschaftliche Erkenntnisse in deutscher Sprache rezipieren möchte, ist in der Regel an Essays oder Aufsätze gewiesen, die nur Teilaspekte des Gesamtbildes in neuer Perspektive vermitteln können.

Angesichts dieser Diagnose könnte man den Versuch einer umfassenden Darstellung des osteuropäischen Chassidismus (in deutscher Sprache) legitimieren. Es ist womöglich besser, etwas Vorläufiges zur Kenntnis zu nehmen, als sich mit veralteten oder nicht als wissenschaftliche Darstellung gedachten Auskünften zum Thema zufrieden zu geben.

Leider müssen wir diesen ersten Warnhinweisen weitere Einschränkungen folgen lassen. Die vorliegende Einführung hat aus der Vielzahl der Phänomene, Gruppen und Strömungen eine Auswahl treffen müssen, die sich vor allem an der vorfindlichen Forschungslage und der Bedeutung einiger Spielarten des Chassidismus für die Gegenwart orientiert. Manche Regionen, die insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert (vor der Schoa) bedeutende chassidische Dependancen aufzuweisen hatten, wie vor allem Ungarn, die Bukowina und Moldawien, finden sich im Folgenden kaum berücksichtigt. Gleiches gilt für den Chassidismus in Westeuropa nach 1945.

Etliche Probleme bereiteten auch die geographischen Bezeichnungen für Orte und Regionen in Ost- und Mittelosteuropa. Die häufig wechselnden Zugehörigkeiten bestimmter Landschaften zu polnischen, russischen oder österreichischen Herrschaftsräumen, manch kurzes nationalstaatliches Intermezzo, die zumeist multiethnische Besiedlung, die späte Herausbildung von Namen für Territorien und für deren Bewohner (man denke nur an „Ukraine“ oder „Weißrussland“), sorgen für konstante Verwirrung. Je nachdem, ob man eine polnische, russische, hebräische oder jiddische Quelle nachschlägt, differieren die Bezeichnungen für ein und dieselbe Stadt- oder Landgemeinde erheblich. Die Notlösung für die folgende Darstellung besteht darin, in der Regel die polnische Bezeichnung für einen Ort zu verwenden, ungeachtet etwaiger Herrschaftswechsel in späterer Zeit. Für die chassidischen Gruppen und deren Rebbes, die sich nach einer bestimmten (galizianischen, podolischen, wolhynischen) Lokalität benannten, wurde hingegen – so der Name etabliert ist – auf die zumeist dem Jiddischen entlehnte Bezeichnung zurückgegriffen (etwa: Lubawitscher, statt Ljubavicher). In einer Synopse am Schluss des Buches kann man sich über die verschiedenen Namensvarianten in anderen gängigen Sprachen informieren. Die wenigen in deutschem Gebrauch fest verankerten Bezeichnungen (zum Beispiel Warschau, Wilna oder Lemberg) wurden beibehalten.

|3|Noch ein wenig komplexer gestaltete sich die Suche nach praktikablen Benennungen der regionalen Schauplätze des osteuropäischen Chassidismus. Hier hat man in der Regel die Wahl zwischen historischer Korrektheit (Podolien, Wolhynien, Galizien) – wobei kaum jemand diese Landschaften heutzutage noch orten kann – oder Verständlichkeit bei gleichzeitig schwerem Anachronismus (etwa Ukraine oder Weißrussland). Eine wirklich befriedigende Lösung, so muss die Verfasserin eingestehen, wurde nicht gefunden. Der Kompromiss besteht darin, wo immer möglich die historisch korrekten Termini zu verwenden und dem Buch mehrere Landkarten beizufügen. Schwierigkeiten bereitete insbesondere das Territorium zwischen Litauen und dem südlich davon gelegenen Gebiet Podolien. Es ist für die Entwicklung des Chassidismus essentiell, hatte aber im 18. und 19. Jahrhundert keinen allgemein anerkannten Namen. Ich habe es hin und wieder als Weißrussland bezeichnet, wohl wissend, dass es nicht wirklich stimmt.

Vom Chaos bei Personennamen und den vielfältigen Transkriptionstücken will ich gar nicht erst anfangen. Auch hier häufen sich Kompromisse. Die Transkription hebräischer, jiddischer und russischer Begriffe und Bezeichnungen orientiert sich an deutschen Ausspracheregeln und erhebt nicht den Anspruch, eindeutig zu transliterieren.

Für Leser/innen, die mit der jüdischen Tradition noch nicht so vertraut sind, empfiehlt es sich, das zweite Kapitel der Darstellung zunächst zu überspringen. Es enthält eine sehr kurzgefasste Beschreibung der Entwicklung der Begriffe Chassid und Zaddik im Laufe der jüdischen Religionsgeschichte.

Ohne die Hilfe und die Mitwirkung etlicher Freunde und Kollegen wäre das vorliegende Buch vermutlich nichts geworden. Ich danke von ganzem Herzen meinem verehrten akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Karl Erich Grözinger, für allerlei fachliche Unterstützung und seinen steten moralischen Beistand, Herrn Raphael Pifko für Losch’n-Hilfe und guten Rat und Herrn Dr. Felix Schnell für seine äußerst kundige Unterstützung bei der Navigation durch osteuropäische Geschichte und Geographie. Meine Studierenden in Bamberg waren dazu bereit, sich lesenderweise durch Probekapitel und hörenderweise durch eine Vorlesung über den Chassidismus zu quälen, und halfen mir, klarer zu denken, indem sie meine Ausführungen mitunter als zu kompliziert brandmarkten. Annette Strobler, der eigentliche spiritus rector meiner Professur, half mir beim Korrekturlesen – aus reiner Freundlichkeit. Ihnen allen sei ganz herzlich gedankt!

(Alle verbleibenden Fehler und Unzulänglichlichkeiten sind natürlich von mir selbst zu verantworten.)

|5|1. Warum es so schwierig ist, den osteuropäischen Chassidismus zu beschreiben

Dan, Joseph, A Bow to Frumkian Hasidism, Modern Judaism 11, 1991, S. 175193.

Davidowicz, Klaus, Gerschom Scholem und Martin Buber. Die Geschichte eines Mißverständnisses, Neukirchen-Vluyn 1995, besonders S. 104143.

Elior, Rachel, The Mystical Origins of Hasidism, Oxford, Portland 2008, besonders S. 195205.

Etkes, Immanuel, The Study of Hasidism: Past Trends and New Directions, in: Rapoport-Albert, Ada (Hg.), Hasidism Reappraised, London, Portland 2008, S. 447464.

Grözinger, Karl Erich, Chassidismus und Philosophie – Ihre Wechselwirkung im Denken Martin Bubers, in: Licharz, Werner/Schmidt, Heinz (Hg.), Martin Buber (18781965). Internationales Symposium zum 20. Todestag. Bd. 1: Dialogik und Dialektik, Frankfurt/M. 1989, S. 281294.

Schatz-Uffenheimer, Rivka, Hasidism as Mysticism: Quietistic Elements in Eighteenth Century Hasidic Thought, Princeton, Jerusalem 1993, S. 1551.


Der Chassidismus, der im Ostmitteleuropa des 18. Jahrhunderts seine historischen Wurzeln hat, gehört heute zu den einflussreichsten jüdischen Strömungen. Die Zahl derjenigen, die sich zu einer seiner zahlreichen Gruppierungen zählen, steigt beständig. Die Vielfalt, Wandlungsfähigkeit und das gleichzeitige Beharrungsvermögen, die diesen haredischen (‚orthodoxen‘) Zweig des Judentums kennzeichnen, erstaunen so manchen Beobachter. Seit dem erstmaligen Auftreten seiner ungewöhnlichen sozialen Struktur und seiner auffälligen spirituellen Ausdrucksformen fragen sich sowohl Sympathisanten als auch Gegner, Zeitzeugen und Wissenschaftler, weshalb sich der osteuropäische Chassidismus so geschwind verbreitete und warum er bei weiten Teilen der jüdischen Bevölkerung Podoliens, Wolhyniens, Galiziens und Kleinpolens derartige Erfolge verzeichnete.

1.1. Im Schatten der Aufklärung

Die ersten, die sich dem Phänomen Chassidismus gewissermaßen als Außenbeobachter widmeten und eine westeuropäisch geprägte Öffentlichkeit davon in Kenntnis zu setzen suchten, waren Maskilim – von der jüdischen Aufklärung (השכלה/Haskala) geprägte Intellektuelle |6|wie Josef Perl (17731839) oder Isaak Ber Levinsohn (17881860). Josef Perl und Isaak LevinsohnFür diese Männer, die sich dem Kampf um die moderne Bildung und Emanzipation der osteuropäischen Juden verschrieben hatten, stellte sich der Chassidismus als Rückfall in äußerste Rückständigkeit und als ein Paradebeispiel für denjenigen Obskurantismus dar, den man unbedingt bekämpfen wollte. In Denkschriften an die christliche Obrigkeit – wie Perls „Uiber das Wesen der Sekte der Chassidim. Aus ihren eigenen Schriften gezogen“ (1816) – und in zahlreichen Satiren und Parodien (vgl. die דברי צדיקים/Divré Zaddiqim; „Worte der Gerechten“, die Perl gemeinsam mit Levinsohn verfasste) attackierten sie die sich weiter ausbreitende Bewegung.

Heinrich GraetzEine ähnliche Haltung eignete auch dem großen Historiker Heinrich Graetz (18171891), der in seiner berühmten „Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (11 Bände, 18531875) „das neue Chaßidäertum“ (Bd. 11, S. 95) geradezu als Trotzreaktion der ‚Altfrommen‘ gegen das vernünftige Denken Moses Mendelssohns (17291786) deutete.

Die neue Sekte, eine Tochter der Finsternis, ist im Dunkel geboren und wirkt auch noch heute auf dunkeln Wegen fort. Nur wenige Umstände, die zu ihrer Entstehung und Fortpflanzung beigetragen haben, sind bekannt. Ihre ersten Begründer waren Israel aus Miedziboz (geb. 1698, starb 1. Juni 1759) und Beer aus Mizricz (geb. um 1700, starb 1772). Der erstere erhielt von seinen Verehrern und Gegnern in gleicher Weise den Beinamen […] Baal-Schem oder Baal Schemtob und in der damals beliebten Abkürzung Bescht. So unschön wie der Name Bescht, war das Wesen des Stifters und der Orden, den er ins Leben gerufen hat. (Graetz, ibid., S. 96; Hervorhebungen im Original)

Simon DubnowEtwas differenzierter, aber dennoch von der aufklärerischen Gegnerschaft zu „Wunderglauben“ und „Phantasmen“ (Bd. 1, S. 23) bestimmt, beschrieb Simon Dubnow (18601941) in seiner „Geschichte des Chassidismus“ (Berlin 1931) das nämliche Phänomen. Das zweibändige Werk, während seines Berliner Exils vollendet, wird noch heute viel rezipiert. Es ist die erste Arbeit, die tatsächlich auf umfangreichem Quellenstudium fußt. Andererseits sah sich der Historiker Dubnow, der damaligen Interpretation von Wissenschaft folgend, in einer Doppelrolle als „Forscher und Richter“ (S. 12), was den Wert seiner Darstellung zuweilen beeinträchtigt. So nahm er den osteuropäischen Chassidismus als eine nach einigen hoffnungsfrohen Ansätzen degenerierte Unternehmung wahr. Während er den charismatischen Führungsgestalten (צדיקים/Zaddikim) der ersten Generationen noch kreative und innovative Ansätze zugestand, betrachtete er die Strömung ab etwa 1815 wegen des „Zaddikismus“, dem alle positiven Ansätze absorbierenden Kult um den Zaddik, als im Niedergang begriffen.

|7|1.2. Sozial-ökonomisch geprägte Ursachenforschung

Ein kollektiver Hang zum Obskurantismus konnte jedoch die Verbreitung des osteuropäischen Chassidismus nicht befriedigend erklären. Die Doyens seiner wissenschaftlichen Erforschung wie Simon Dubnow, Benzion Dinur (18841973) oder Raphael Mahler (18991977) interpretierten daher die Entstehung und den Erfolg des Chassidismus als ein Krisenphänomen. Dubnow erblickte im sozial-ökonomischen Niedergang der jüdischen Gemeinden innerhalb der polnischen Adelsrepublik im Gefolge der Chmielnicki-Massaker 1648/49 eine wesentliche Ursache für den Erfolg der chassidischen ‚Erweckung‘:

Der Chassidismus stellt als Ganzes betrachtet eine der bedeutendsten und originellsten Erscheinungen nicht allein in der Geschichte des Judentums, sondern auch in der Entwicklungsgeschichte der Religionen überhaupt dar. […] Mit den Mitteln mächtiger seelischer Beeinflussung gelang es dem Chassidismus, den Typus eines Gläubigen zu schaffen, der die Innigkeit des Gefühls höher als die Werkheiligkeit, die Gottseligkeit und religiöse Inbrunst höher als Spekulation und Thorastudium stellte. […] Zugleich bot aber der Chassidismus ein Gegenmittel auch gegen die Not und Unterdrückung, die im jüdischen sozialen Leben herrschte […]. Zwar dachte der Chassidismus nicht im entferntesten daran und konnte auch nicht daran denken, die Entrechtung und Knechtung der Juden zu beseitigen, gleichwohl erreichte er kraft der von ihm ausgehenden psychischen Einwirkung, daß seine Anhänger für das Joch der Sklaverei und des Galuth [des Exils] weniger empfindlich wurden. (Dubnow, Geschichte, Bd. 1, S. 6768; Hervorhebung im Original)

Benzion DinurDer Zionist Benzion Dinur betrachtete den (vermeintlichen) Niedergang des polnischen Judentums hingegen eher als eine politische Führungskrise mit sozialen Auswirkungen. Das Scheitern der messianischen Hoffnungen, die sich auf Schabtai Zvi (16261676) gestützt hatten, sowie der Untergang der überregionalen jüdischen Selbstverwaltung (ועד ארבעת ארצות/Wa’ad Arba’at Arazot; Vier-Länder-Kongress) im Jahre 1764/65 hätten das Vertrauen in die Führungsschicht nachhaltig erschüttert. Der Chassidismus präsentierte sich ihm als eine Strömung, welche die messianischen Energien der jüdischen Bevölkerung und deren Erwartungen an die eigene Elite in neue Bahnen lenkte.

Raphael MahlerAuch der (marxistisch geprägte) Raphael Mahler beschrieb jene osteuropäische Reformströmung als ursprünglich sozial orientierte Opposition, die den jüdischen Massen die Möglichkeit zum Widerstand gegen die verbreitete ökonomische Unterdrückung eröffnete. Erst nachdem sich die neue chassidische Führung mit ihren einstigen Gegnern (Mitnagg’dim), der traditionell-rabbinischen Elite, zusammengetan habe, um mit ihnen gemeinsam die Haskala zu |8|bekämpfen, habe der Chassidismus seine sozial-revolutionäre Ausprägung verloren (vgl. Hasidism and the Jewish Enlightenment).

1.3. Die zweite Generation von Historikern des Chassidismus

Die von Dubnow, Dinur und Mahler gebotene monokausale Erklärung für die Entstehung einer derart tiefgreifenden Reformströmung als Resultat einer sozial-ökonomisch bzw. politisch konnotierten Krise wurde durch eine zweite Generation von Gelehrten, die sich dem osteuropäischen Chassidismus widmeten, heftig kritisiert. Zu jenen Wissenschaftlern gehören an erster Stelle Jacob Katz, Jeschajahu Schachar (19351977), Schmu’el Ettinger und Israel Halperin (19101971).

Jacob KatzJacob Katz (19041998) beschrieb in seiner einflussreichen Studie „Tradition and Crisis“ (erstmals im Jahre 1958 auf Hebräisch veröffentlicht) Chassidismus und Haskala als wesentliche Wendepunkte der traditionellen jüdischen Gesellschaft. Die Auffassung, der Chassidismus ließe sich auf einen wirtschaftlichen Niedergang oder auf die Unzufriedenheit der unterdrückten jüdischen Bevölkerungsmehrheit mit ihren Lebensumständen – also wesentlich auf äußere Umstände – zurückführen, könne einen so weit reichenden innerjüdischen Umbruch nicht erklären. Katz diagnostizierte eine Erosion traditioneller Strukturen im Innern des polnisch-litauischen Judentums, die er als eine Schwächung der Bindung des Individuums an kommunale Institutionen und deren Repräsentanten beschrieb. Allerdings, so müsse einschränkend festgehalten werden, könne ein Verlust an innerem Zusammenhalt zwar den Erfolg des Chassidismus in bestimmten Regionen Ost- und Ostmitteleuropas verstehen helfen, nicht aber die Entstehung des Chassidismus als solchem.

Wir sehen uns daher zu dem Schluß gezwungen, daß die neue Bewegung des Chassidismus in der Tat dank bestimmter sozialer Umstände entstehen und auf der Grundlage früherer religiöser Veränderungen und Prozesse wachsen und gedeihen konnte, was ihre Inhalte und Werte, ihr Erscheinungsbild und ihre historische Entwicklung betrifft, jedoch etwas Neues darstellte. Alle vorherigen Entwicklungen sollten allenfalls als konstituierende oder stimulierende Elemente der Bewegung verstanden werden. […] Die chassidische Bewegung läßt sich am besten mittels eines Vergleichs mit ähnlichen geschichtlichen Erscheinungen verstehen, insbesondere mit den Ausbrüchen charismatischer Religiosität, deren Kraft und Autorität auf das Bewußtsein einer unmittelbaren Berührung mit der Sphäre des Göttlichen zurückgehen. (Katz, Tradition, S. 231)

|9|Für Katz präsentierte sich der osteuropäische Chassidismus als eine spirituelle Revolution, die auf einem „Ausbruch“ an charismatischen Führungspersönlichkeiten basierte. Diese, die Zaddikim, hätten den bisher marginalisierten jüdischen Massen einen institutionellen Rahmen geboten, durch den sie Anteil an der spirituellen Nähe des Charismatikers zum Ewigen erlangten. Infolge dieser neuen Konstellation sei es insofern zu einer „doppelten Revolution“ gekommen, als dass die neuen religiösen Erfahrungen zu tiefgreifenden Änderungen der Sozialstruktur geführt hätten (S. 242245).

Schmu’el EttingerSchmu’el Ettinger (19191988) betonte in seinen zahlreichen Essays zum Thema (vgl. On the History of the Jews in Poland and Russia. Collected Essays, Jerusalem 1994) hingegen eher die Kontinuität und Kooperation zwischen den Zaddikim und dem kommunalen Establishment. Er vermochte in den Aktionen der chassidischen Führungspersönlichkeiten und ihrer Anhänger weder einen revolutionären Bruch, noch eine subversive, die traditionelle Gesellschaft unterminierende Absicht zu erkennen.

1.4. Die Suche nach dem religionshistorischen Kontext des Chassidismus

Die Zurückweisung monokausaler Erklärungsmuster für die Entstehung und den Erfolg des osteuropäischen Chassidismus lenkte die Aufmerksamkeit auf die spirituellen und theologischen Eigenheiten dieser komplexen jüdischen Strömung. Diese waren offensichtlich stärker in Betracht zu ziehen, als es in der frühen Phase ihrer Erforschung nötig schien.

Wie schon aus den Erklärungsansätzen des Jacob Katz ersichtlich, verschiebt sich die Perspektive erheblich, sobald man die Entstehung des Chassidismus unter religionsgeschichtlichen oder theologischen Prämissen beobachtet.

Martin Buber und Gershom ScholemDie ersten maßgeblichen wissenschaftlichen Versuche, den osteuropäischen Chassidismus primär unter dem Blickwinkel seines spirituellen Profils zu beschreiben, mündeten in eine heftige Auseinandersetzung zwischen Martin Buber (18781965) und Gershom Scholem (18971982) um die bestimmenden Charakteristika jener Bewegung. Buber meinte, vor allem in seinen theoretischen Schriften zum Thema, einen deutlichen Bruch zwischen der von ihm als „gnostisch“ apostrophierten Kabbala und dem Chassidismus wahrnehmen zu können. Scholem hingegen definierte die osteuropäische Bewegung als ebendies: als letzte Phase der des Öfteren gnostische Züge aufweisenden jüdischen Mystik. An jenen beiden einflussreichen Denkern lässt sich nachgerade idealtypisch |10|beobachten, wie methodische Zugangsweisen und inhaltliche Prämissen das Ergebnis einer Untersuchung präjudizieren.

Buber näherte sich dem Chassidismus als „rezipierender Erbe“ (Grözinger, Chassidismus, S. 281), indem er sich gewissermaßen selbst in diese Geschichte hineinschrieb – Scholem sollte dies als „Neochassidismus“ kritisieren. Scholem hingegen untersuchte jene osteuropäische Strömung mit den kritischen Methoden eines Religionshistorikers und unterstellte der Position seines Kontrahenten Buber einen (wissenschaftlichen) Anspruch, den jener gar nicht erhoben hatte.

Die Kontroverse, welche Bubers letzte Lebensjahre überschattete, ist forschungsgeschichtlich längst zugunsten Gershom Scholems entschieden. Insofern Martin Buber jedoch, vor allem für ein deutschsprachiges und mehrheitlich nichtjüdisches Publikum, noch immer als eine Art autoritativer Interpret des Chassidismus gilt, erscheinen einige Bemerkungen zu jenem Konflikt angezeigt.

Martin BuberMartin Buber verbrachte seine frühen Jahre bei seinem Großvater Salomon Buber (18271906), dem berühmten Erforscher des rabbinischen Midrasch und Sammler von chassidischen Traditionen. Als Kind besuchte er mehrfach die kleine Stadt Sadagóra. Die prunkvolle Residenz der dortigen Zaddikim und das fürstliche Gepräge ihrer Bewohner befremdete ihn (vgl. Mein Weg, S. 183). Seine spätere Faszination für den Chassidismus dürfte Buber wesentlich westeuropäischen Impulsen verdanken, die er als Student in Wien, Leipzig, Zürich und Berlin empfing: Sie könnte mit der im deutschen säkularen Judentum entstandenen Sehnsucht nach ‚authentischem Judentum‘ zu tun haben, wie sie zur Jahrhundertwende deutlich wahrnehmbar war. Seine ‚Entdeckung‘ des Chassidismus stützt sich denn auch nicht auf Begegnungen mit ‚real existierenden‘ Anhängern der Strömung, sondern auf romantisierende Darstellungen wie die von Jitzchok Leib Perez (Ch’sidish, 1908; Folkstimlikhe geshikhten, 1909) oder Micha Josef Berdiczewsky (Die Seele der Chassidim, 1899), die im Chassidismus eine Rebellion gegen das traditionelle Establishment sahen.

So erstaunt es nicht, dass Buber insbesondere die Erzählungen über die Zaddikim für die maßgebliche Quelle hielt, die das Wesen jener inspirierenden Strömung zum Ausdruck brachte. Zahlreiche seiner Werke zum Chassidismus sind daher ebendies: Nacherzählungen und Adaptionen von Legenden, wie er sie auswählte und durch das „Sieb“ seines Herzens rinnen ließ (Buber, Antwort, S. 632).

Ich trage in mir das Blut und den Geist derer, die sie schufen, und aus Blut und Geist ist sie mir neu geworden. Ich stehe in der Kette der Erzähler, ein Ring zwischen den Ringen. Ich sage noch einmal die alte Geschichte, und |11|wenn sie neu klingt, so schlief das Neue in ihr schon damals, als sie zum erstenmal gesagt wurde. (Buber, Legende des Baalschem, S. II)

Für Buber enthielten jene Erzählungen die Essenz des Chassidismus. Die umfangreichen und schwergewichtigen theoretischen Abhandlungen der Zaddikim waren seiner Ansicht nach zu sehr der Tradition verhaftet und spiegelten das wirklich Neue jener Strömung nicht:

Weil dem so ist, weil der Chassidismus in erster Reihe nicht eine Kategorie der Lehre, sondern eine des Lebens bedeutet, ist unsere Hauptquelle zu seiner Erkenntnis seine Legende, und erst nach ihr kommt seine theoretische Literatur. Diese ist der Kommentar, jene der Text, wiewohl ein in äußerster Korruptheit überlieferter, in seiner Reinheit unwiederherstellbarer. Es ist töricht einzuwenden, die Legende übermittle uns nicht die Wirklichkeit des chassidischen Lebens. Natürlich ist die Legende keine Chronik, aber sie ist wahrer als die Chronik für den, der sie zu lesen versteht. (Buber, Die chassidische Botschaft, S. 35)

Gershom ScholemScholem, dem der religionsphilosophische und autobiographische Zugriff Bubers natürlich nicht entgangen war, sah sich trotzdem genötigt, den älteren Kollegen zu attackieren – eben weil dessen begeistertes Publikum annahm, er präsentiere ihm den authentischen Chassidismus. Der Religionshistoriker Scholem widersprach dem „Zaddik von Heppenheim“ (Scholem über Buber) methodisch und inhaltlich. Die Legende sei keinesfalls der theoretischen Literatur vorzuziehen, schon allein deswegen nicht, weil der von Buber so genannte „Kommentar“ den Erzählungen zeitlich deutlich voraufgeht (Scholem, Martin Bubers Deutung des Chassidismus, S. 177).

Wenn man indessen jene theologischen Abhandlungen, die Homilien und Kommentare der Zaddikim, einer Darstellung des Chassidismus zugrunde lege, gelange man notwendig zu einem völlig anderen Eindruck vom Wesen jener Bewegung:

Offensichtlich betrachtete Buber diese Quellen als viel zu abhängig von der älteren kabbalistischen Literatur, um als echt chassidisch angesehen werden zu können. Und diese Abhängigkeit springt in der Tat in die Augen. Viele von ihnen, darunter einige der berühmtesten chassidischen Bücher, sind vollständig in der Sprache der Kabbala geschrieben, und es ist ein tiefliegendes Problem der Forschung, genau zu bestimmen, worin eigentlich ihre Ideen von denen ihrer Vorgänger abweichen. (Scholem, Deutung, S. 178179)

Folgerichtig sollte Scholem den osteuropäischen Chassidismus als „letztes Stadium“ der jüdischen Mystik beschreiben (Mystik, S. 356). Dem sich für Buber aus der Legende ergebenden zentralen Neuansatz, wonach der Hiatus zwischen der materialen Existenz im Diesseits und einer Sehnsucht nach einem transzendenten Jenseits |12|in eine umfassende Heiligung des Lebens hinein aufgehoben wird, konnte Scholem nur radikal widersprechen. Es sei eben gerade nicht die physische Wirklichkeit, auf die sich das Interesse der chassidischen Autoren richtete, sondern – wie ehedem – die Transzendenz, in die hinein sich die materiale Wirklichkeit letztlich auflöst.

In manchen Punkten waren die beiden jedoch einer Meinung: Sie deuteten die chassidische Reform vor dem Hintergrund des gescheiterten Sabbatianismus als einen Versuch, jedweden akuten Messianismus zu unterdrücken (Buber) bzw. messianische Konzepte zu „neutralisieren“ (Scholem). Des Weiteren stimmten sie darin überein, dass ein wesentliches revolutionierendes Element des Chassidismus in seiner Gemeinschaftsbildung zu sehen ist. In den Worten Scholems:

Was dem Chassidismus seine besondere Formung gegeben hat, war vor allem die Begründung einer religiösen Gemeinschaft […] In dem Moment, in dem der Mystiker aus seiner einsamen Erfahrung die Anregung und Berufung schöpfte, dieser Erfahrung im Leben seiner Gemeinde Dauer zu schaffen und zu dieser Gemeinde nun nicht in seinen Begriffen, sondern in den ihren zu sprechen unternahm, war der neue Ausgangspunkt gegeben, um den sich mystische Bewegung als soziales Phänomen kristallisieren konnte. […] Diese ganze Entwicklung findet ihren vornehmsten Ausdruck in der Geschlossenheit der individuellen chassidischen Heiligenfigur, die etwas durchaus Neues ist. Die Lehre ist hier ganz in Persönlichkeit verwandelt, und was dadurch an Rationalität verlorenging, wurde an Wirkungskraft gewonnen. (Scholem, Mystik, S. 375.377; Hervorhebungen im Original)

Jeschajahu Tishby und Joseph WeissDie durch Buber und Scholem aufgeworfene Frage nach dem spirituellen proprium des Chassidismus beschäftigte auch die nächste Generation der Forscher – repräsentiert durch die Scholem-Schüler Jeschajahu Tishby (19081992), Joseph Weiss (19181969), Rivka Schatz-Uffenheimer (19271992) oder Joseph Dan (geb. 1935). Die Versuche – insbesondere Tishbys und Weiss’ – griffen den Ansatz Scholems auf, das Spezifische jener osteuropäischen Strömung in vergleichender Abgrenzung von ihren Vorläufern, wie der lurianischen Kabbala oder der Bewegung um Schabtai Zvi zu formulieren. Für Scholem und Weiss vollzog sich die Herausbildung chassidischer Positionen vor allem in der Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Sabbatianismus, wobei insbesondere dessen akut-messianische Prägung „neutralisiert“ (Scholem) worden sei. Jeschajahu Tishby, der den Chassidismus in eine enge Verbindung mit dem Denken des Kabbalisten Mosche Chajim Luzzato (17071746) brachte, konnte dieser These nicht viel abgewinnen.

Joseph Weiss und Rivka Schatz-UffenheimerInsbesondere im Werk der beiden Scholem-Schüler Weiß und Schatz-Uffenheimer zeichnete sich ein Trend ab, der die nachfolgenden |13|Forschungsanstrengungen prägen sollte: Beide wandten sich der Analyse einzelner chassidischer Meister, wie Dov Ber von Międzyrzecz (Weiss, Uffenheimer) oder Nachman von Brazlaw (Weiss), zu. Sie wollten durch eine methodische Untersuchung von deren Texten überhaupt erst die Voraussetzung für eine synthetisierende Darstellung der Gesamtströmung gewinnen. Darüber hinaus leisteten sie insofern Pionierarbeit, als dass sie ihren Blick auch auf spätere Exponenten des Chassidismus, wie Mordechai Josef Leiner von Iżbica (18001854), richteten. Nach den großen Überblicksdarstellungen wie derjenigen des Simon Dubnow hatten sich die Gelehrten nämlich Jahrzehnte lang vor allem mit den Gründungsvätern der Strömung befasst und deren weitere Entwicklung aus den Augen verloren.

Gedalja Nigal und Joseph DanAuf das Konto dieser Generation von Wissenschaftler/innen gehen zudem die ersten kritischen Editionen bedeutender chassidischer Werke. Dazu gehören, wiederum, Rivka Schatz-Uffenheimer mit ihrer Ausgabe des Hauptwerks des Dov Ber (מגיד דבריו ליעקב/Maggid Devaraw le-Ja’aqov) oder Gedalja Nigal (geb. 1927), der sowohl den נועם אלימלך /No’am Elimelekh des Elimelech von Leżajsk als auch zahlreiche bedeutende Sammlungen von chassidischen Erzählungen edierte. Die nach dem heftigen Streit zwischen Buber und Scholem gewissermaßen in Turbulenzen geratene Legendenliteratur erfuhr durch Gedalja Nigal (הסיפרת החסידית/Ha-Śipporet ha-chassidit, Jerusalem 1981) und Josef Dan ihre erste wissenschaftliche Würdigung. Insbesondere Dans Werke zur chassidischen ‚Novelle‘ (הנובילה החסידית/Ha-Novela ha-Chassidit, Jerusalem 1966) und zur Erzählung (הסיפור החסידי/Ha-Śippur ha-Chassidi, Jerusalem 1975) legten die Basis künftiger Forschung zum Thema.

1.5. Die gegenwärtige Forschungslandschaft

Der deutlich sichtbare Graben zwischen historischer und religionswissenschaftlicher Betrachtung des osteuropäischen Chassidismus hat sich trotz einiger Interferenzen und beiderseitiger Annäherungsbemühungen noch immer nicht geschlossen. Die einstmaligen Antagonismen zwischen beiden Forschungsfeldern sind jedoch überwunden.

Moshe Rosman und Gershon D. HundertDie bislang jüngste Phase der historischen Rückfrage nach den Ursachen des Chassidismus wurde wesentlich inspiriert durch das Ende des Kalten Krieges, da es westlichen Forschern möglich wurde, in vormals unerreichbare Archive der osteuropäischen Welt zu gelangen. Autoren wie Moshe Rosman (geb. 1949) oder Gershon D. Hundert (geb. 1946) konnten aufgrund der veränderten |14|Quellenlage zeigen, dass der sozial-ökonomische Niedergang der jüdischen Gemeinschaft nach den Chmielnicki-Massakern zur Zeit der Entstehung des Chassidismus längst überwunden war. Zudem verwarfen sie den Ansatz, die Protagonisten jener Strömung als Volkshelden zu zeichnen, die etwa aus den Reihen der verachteten jüdischen Massen emporgewachsen wären. Die Zaddikim gehörten vielmehr – wie ihre Gegner – der traditionell gebildeten gesellschaftlichen Elite an. Die sozial-romantischen Krisentheorien der ersten Forschergeneration können somit als widerlegt gelten.

Bereits die ersten wissenschaftlichen Darstellungen des Chassidismus konzentrierten sich zumeist auf dessen frühe Entwicklung; es dominierte die Auseinandersetzung mit dessen Gründungsfiguren wie dem Ba’al Schem Tov oder Dov Ber von Międzyrzecz. Umfassende historiographische oder religionsphänomenologische Werke – wie beispielsweise dasjenige Dubnows – waren die Ausnahme. In der gegenwärtigen Forschungslandschaft hat sich dieser Trend noch verstärkt. Sowohl im eher ‚historisch‘ arbeitenden, als auch im ‚religionswissenschaftlich‘ ausgerichteten Lager (deren Grenzen derzeit nicht mehr so strikt gezogen werden wie ehedem) versucht man sich durch Fall- und Regionalstudien sukzessive eine valide Basis für eine irgendwann einmal neu zu beginnende Gesamtdarstellung des überaus vielfältigen Phänomens zu erarbeiten. Einblicke in den gesamten Stand der Dinge lassen sich derzeit am ehesten durch Sammelbände zum Thema, wie dem von Ada Rapoport-Albert edierten ‚Hasidism Reappraised‘ gewinnen.

Gegenwärtige ForschungsfelderDie Erforschung des osteuropäischen Chassidismus hat sich vor allem in Israel, den USA und Großbritannien zu einem der innovativsten Bereiche der jüdischen (Religions-)Geschichte entwickelt. Vom sich rapide vergrößernden Kreis von interessanten Forschungsfeldern seien exemplarisch die folgenden genannt, die derzeit auch einem breiteren Publikum zugänglich sind:

|15|Historischer Kontext; Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Dynner, Men of Silk;

Hundert, Jews in Poland;

Rosman, Founder of Hasidism.

Wichtige Quellen in Übersetzung

Dan, Teachings (Anthologie);

Grözinger, Geschichten;

Green, Fire (Anthologie);

Green, Language;

Green, Menahem Mendel;

Lamm, Religious Thought (umfassende Anthologie);

Mark, Scroll of Secrets.

Einführungen und (umfangreiche) Lexikonartikel

Assaf, Hasidism;

Elior, Mystical Origins;

Idel, Hasidism.

Literaturgeschichte (chassidische Genres, Druckgeschichte)

Gries, Book;

Bartal, Imprint;

Nigal, Hasidic Tale;

Rapoport-Albert, Hagiography.

Chassidismus und konkurrierende Strömungen

Etkes, Gaon;

Nadler, Faith;

Wilensky, Polemics;

Wodziński, Haskalah and Hasidism.

Früher Chassidismus

Etkes, Ba’al Schem Tov;

Schatz-Uffenheimer, Hasidism [Dov Ber]; Dresner, The Zaddik [Jakob Josef].

Spirituelle Praxis

Jacobs, Everyday Life;

Jacobs, Hasidic Prayer;

Wertheim, Law and Custom.

|17|2. Chassid und Zaddik: Thema und Variationen in der jüdischen Tradition

Albertz, Rainer, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Teil 2: Vom Exil zu den Makkabäern, ATD Grundrisse zum Alten Testament, Bd. 8/2, Göttingen ²1992.

Becker, Michael, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum. Studien zum Phänomen und seiner Überlieferung im Horizont von Magie und Dämonismus, WUNT 144, Tübingen 2002.

Grözinger, Karl Erich, Jüdisches Denken: Theologie, Philosophie, Mystik, Bd. 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, Frankfurt/M., New York 2005.

Marcus, Ivan G., Piety and Society: The Jewish Pietists of Medieval Germany, Leiden 1981.

Schäfer, Peter, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: Hengel, Martin/Heckel, Ulrich (Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT 58, Tübingen 1991, S. 125175.

Schwartz, Seth, Imperialism and Jewish Society 200 B.C.E. to 640 C.E., Princeton, Oxford 2001.

Tishby, Isaiah, The Righteous and the Wicked, in: ders., Wisdom of the Zohar. An Anthology of Texts, Bd. 3, London, Washington 1994, S. 14071497.


Der osteuropäische Chassidismus, eine jüdische Erweckungs- bzw. Reformströmung, die sich ab dem späten 18. Jahrhundert in Podolien und Wolhynien zu entfalten begann, entwickelte eine besondere Struktur von Führung (Zaddikim) und Anhängern (Chassidim). Die Verwendung der Begriffe Zaddik und Chassid lässt bereits auf einige Spezifika dieser Bewegung schließen. Daher sollen zunächst die Wandlungen und Konstanten jener Termini im Laufe der jüdischen Traditionsgeschichte vorgestellt werden.

Nahezu jede Epoche der Geschichte des Volkes Israel entwickelte eigene Vorstellungen davon, welchen Anforderungen ein Mensch in seinen Beziehungen zu Gott und zu seinen Mitmenschen genügen sollte. Mit Ausnahme des osteuropäischen Chassidismus (!) bezeichnete man denjenigen, der den allgemeinen Normen entsprach, als Zaddik (צדיק; in etwa: Gerechter) und stellte ihm den Frevler (רשע/Raschà) gegenüber. Wer sich indessen einer besonderen Nähe zu Gott rühmen konnte oder sein Verhalten besonderen Standards unterwarf, konnte als Chassid (חסיד; in etwa: Frommer) betrachtet werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass vor allem die Konzeption des herausragend Frommen starken Veränderungen unterworfen war.

|18|2.1. In der Epoche des Zweiten Tempels (4. Jh. BCE bis 1. Jh. CE)

Chassidim in der Zeit des Zweiten TempelsIn der Zeit der Makkabäer bzw. Hasmonäer (2. Jh. BCE) traten erstmalig jüdische Traditionalisten in Erscheinung, die sich als „Chassidim“ titulierten. Im Ersten Makkabäerbuch (1 Makk 2,42; 7,13) erscheinen sie als eine Gruppe von Gelehrten, die sich dem militanten Widerstand gegen die Hellenisierungspolitik des seleukidischen Königs Antiochos IV. Epiphanes (um 215164 BCE) angeschlossen hatten (vgl. 2 Makk 14,6). Später bemühten sich diese Chassidim jedoch um einen friedlichen Ausgleich zwischen den Hasmonäern und den „Hellenisten“ – den jüdischen Parteigängern der griechischen Herrscher. Im Jahre 153 BCE598605664676182527