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E.R. Kästner

Das Dornröschen-Dorf

Hinter der Idylle lauert der Tod





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

PROLOG

 

Vergangenheit

 

Was, im Namen des Herren, tust du da?“

Seine Stimme ist brüchig, er erkennt sie selbst kaum wieder. Zögerlich legt er die Hand auf ihre Schulter, ein spitzer Knochen, der sich widerlich anfühlt. Seit Stunden ist sie im Keller verschwunden und steht an dem großen Tisch, der das Herzstück des niedrigen Raums bildet.

Sie beachtet ihn nicht, sondern hantiert mit roboterhaften Bewegungen auf der Tischplatte. Er tritt neben sie um sehen zu können, was sie dort so konzentriert, fast entrückt, tut.

Der Anblick schnürt ihm die Kehle zu, sein Gesichtsfeld verengt sich und dennoch nimmt er im Fokus seines Blicks in gnadenloser Schärfe wahr, was auf dem zerkratzten Rechteck liegt.

Nein, niemals. Das kann nicht sein!‹, kreischt sein Verstand und versucht krampfhaft, eine vernünftige Erklärung für den abscheulichen Anblick zu finden. Vergebens.

Am Rande registriert er das scharfe Küchenmesser mit dem roten Griff, mit dem sie sonst das Fleisch zum Abendessen zu Schneiden pflegt.

Nun tritt sie ein Stück vom Tisch zurück und begutachtet, offenbar befriedigt, ihr Werk.

Mama macht dich wieder heil, mein Schatz“, schnurrt sie wie eine zufriedene Katze und dreht sich nun langsam in seine Richtung.

Die Schneide des großen Fleischermessers in ihrer Hand blitzt im Schein der Kellerbeleuchtung auf. Der Ausdruck in ihren sonst so toten Augen lässt keinen Interpretationsspielraum zu.

Er wirft sich herum und rennt um sein Leben.

Kapitel 1: Das Dorf

 

Gegenwart

 

Das Leben in einem beschaulichen Dörfchen im norddeutschen Flachland ist auf den ersten Blick die perfekte Idylle. Reetgedeckte Anwesen mit Grundstücken, so weit das Auge reicht, eingefriedet durch bunt bepflanzte Natursteinmauern. Ehemalige Scheunen, modern saniert, bieten coolen Stadtflüchtlingen mit Hang zum hippen Vollbart und veganer Lebensweise Unterschlupf. Den Geländewagen vor der Tür (immer in schwarz, andere Lackfarben gibt es im oberen Preissegment offenbar nicht), das Sportwagen-Cabrio in der Doppel-Garage. Dazwischen quirlige Familien in ehemaligen Höfen, nun aufgeteilt in diverse Wohneinheiten, die munter mit Treckern und Quads durch die Gegend dröhnen.

Teilweise fällt die Konversation etwas schwer: Die Mischung aus norddeutscher Zurückhaltung (Es heißt ›Moin‹ - ›Moin Moin‹ ist schon Gesabbel) und tatsächlicher Schwierigkeiten, in ganzen Sätzen zu sprechen, gestaltet das Kennenlernen etwas holprig. Doch hat man sich erst einmal ein bisschen beschnuppert und kennengelernt,

plaudert man mal angeregt über’s Wetter („Heiß heute!“ - „Jo, heiß!“) oder hilft sich gegenseitig mit etwas nützlichem aus. Einer Heckenschere zum Beispiel. Aber natürlich nicht mit Heiligtümern wie dem Aufsitzrasenmäher oder dem gigantischen Häcksler. Ist auch nicht nötig, denn für so etwas beschäftigt der geneigte Städter einen Gärtner (oder einen ganzen Trupp). Man sieht zügig ein, dass man 3000 Quadratmeter Rasenfläche nur schlecht mit einem elektrischen Handmäher in Prada-Schläppchen kürzen kann. Das wächst einem schnell über den Kopf, im wahrsten Sinne des Wortes.

Es gibt auch viele ältere Herrschaften, die ihren Ruhestand mit Golfspielen, Tratschen und gutem Essen auf dem Land genießen. Jeder der Leute scheint eine Marotte zu haben, die kommentarlos akzeptiert wird. Ein ehemaliger Restaurantbesitzer betritt beispielsweise seinen eigenen Garten ausschließlich in voller Imker-Montur inklusive Hut und Gesichtsschutz. Nicht, dass er Bienenstöcke hätte.

Zwingend gehört ein Hund zum Leben: Jagdhunde und Labrador Retriever sind groß in Mode. Diese werden natürlich antiautoritär erzogen. Es reicht ja, sich wie ein Jäger in Barbour-Wachsjacke und Hunter-Stiefeln zu kleiden, der Rest kommt von allein. Ergo: Auf Spaziergängen ist man schnell im Gespräch. Denn niemand kann so schnell rennen wie eine aufgeregte Hundebande, die Frauchens Gebrüll ihrer Namen für begleitenden Lobgesang ihrer hündischen Heldentaten halten. Und keineswegs für einen Befehl, von ihrem Treiben abzulassen.

 

...

 

Der Mittelpunkt des Dorfs, die Kirche, thront im neugotischen Stil auf einer von riesigen Eichen gesäumten Erhebung im Ortskern und bietet mit ihrem spitzen Turm und den roten Backsteinen einen zauberhaften Anblick. Pünktlich zur halben und zur vollen Stunde erklingt die Glocke unter dem grünen Kupferdach des Kirchturms. Nachts allerdings, von Bodenlichtern sanft angestrahlt, verströmt dieses uralte Bauwerk eine gruselige Atmosphäre. Nicht wenige haben um Mitternacht aus der leeren Kirche Orgeltöne gehört. Herzzerreißende Melodien. Eine alte Legende besagt, dass sich vor vielen hundert Jahren der Organist aus Liebeskummer im Glockenstuhl erhängt hat.

Ich hingegen habe dort noch nie etwas merkwürdiges erlebt und erfreue mich einfach an der Schönheit der Architektur. Um die Kirche herum führt eine gepflasterte Straße zur Hauptdurchgangsstraße des Ortes. Diese nutzt der Schwerverkehr als kostengünstige Umgehung der Autobahn, weswegen ich stets froh bin, nicht im Ortskern zu wohnen.

 

Rechts der Kirche, am südlichen Ortsausgang, erhebt sich ein imposanter Backsteinbau. Der so genannte ›Dachsbau‹, ein ehemaliger Bauernhof, liegt brach.

Geborstene Fenster und ein Urwald aus Unkraut strafen die Gerüchte über ein geplantes Hotel, ein Restaurant, Hofladen oder was auch immer, Lügen. Das Gebäude wirkt, als hätte es seit Jahrhunderten niemand mehr betreten. Die Scheiben sind teilweise eingeschlagen, teilweise von vergilbten Gardinenfetzen verhangen. Auf dem maroden, mit roten Ziegeln gedeckten Dach sticht die Luftschutzsirene hoch in den Himmel. Heute glücklicherweise nur noch von der freiwilligen Feuerwehr genutzt. Bis jetzt habe ich den anhaltenden, an - und abschwellenden Alarmton zur ›Warnung der Bevölkerung‹ nur bei angekündigten Übungen gehört. Und verzichte auch in Zukunft dankend auf den Ernstfall. Trotzdem rutscht mir immer das Herz in die Hose, wenn die Sirene erklingt und ich warte wie paralysiert bis klar ist, dass sie drei Mal heult und somit nur die Feuerwehrleute zusammenruft. Zumal sich in ein paar Kilometern Luftlinie ein Atomkraftwerk befindet, welches zu Störfällen neigt. Die aber immer heruntergespielt werden. Kein Grund zur Besorgnis.

 

Neben dem Dachsbau steht ein historische Fachwerkscheune, die alte Geräte und Gerümpel beherbergt. Das tief heruntergezogene Dach ist so dicht von Moos bewachsen, dass es eine dunkelgrüne Farbe angenommen hat. Ein zweiflügeliges Scheunentor an der Frontseite ist drei Meter hoch und besteht aus Holz, welches ochsenblutrot getüncht wurde. Das Gebäude selbst ist aus dunkelbraunem Fachwerk erbaut, angefüllt mit roten Backsteinen.Über dem Scheunentor befindet sich ein blindes Bullauge, eingefasst von einem grünen Holzrahmen. ›Anno 1581. Erst nach der Arbeit ist gut ruhn‹ wurde in einen großen Balken über dem Tor geschnitzt. Die Buchstaben, ehemals golden angemalt, sind über die Jahrhunderte zu einem stumpfen Grau verblasst. An den Seitenwänden des bestimmt 200 Quadratmeter umfassenden Gebäudes ist eine Reihe kleiner Fenster eingelassen, durch die nicht mal ein Kopf passen würde. Die Scheune steht heute unter Denkmalschutz und verleiht der etwas öde anmutenden Ortseinfahrt zumindest ein wenig altertümliches Flair.

Dieser Sommer ist besonders heiß. Im Zuge des Klimawandels scheint zwar jeder Sommer der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, aber in diesem Fall stöhnen und murren die Leute zu Recht:

Seit fast drei Wochen war die Temperatur nicht mehr unter 20 Grad gefallen. Die Höchstwerte lagen, laut meiner persönlichen Wetteraufzeichnungen, bei 38 Grad im Schatten um 16 Uhr auf der Terrasse hinter unserem Haus.

Wohl dem, der einen eigenen Brunnen besitzt und seinen Garten mit kostenlosem Grundwasser sprengen kann. Der Rest der Natur, inklusive unseres Gartens, hat ein staubiges Gelbbraun angenommen. Die nahen Kiefernwälder sind so trocken, es vergeht kein Tag, an dem die Feuerwehr nicht ausrücken muss, um ein schwelendes Feuer zu ersticken. Im Radio wird regelmäßig gemahnt, keine Zigarettenkippen aus dem Autofenster zu werfen und nicht im Wald zu rauchen. Ach nee.

Die noch erträglichen Vormittage werden von hektischer Betriebsamkeit bestimmt. Man würde nie glauben, wie viel Verkehr in unseren Straßen herrscht. Jeder muss mindestens fünf Mal pro Tag losfahren:

Morgens zum Bäcker, vormittags einkaufen (Hälfte vergessen, nochmal losfahren), zum Mittag essen, zum Golf oder zu anderen Vergnügungen, abends zum Essen in ein Restaurant. So in etwa werden die Tage vom größten Teil der Einwohner zugebracht.

Doch an den schwül-heißen Nachmittagen verkneift man sich jede Bewegung und bleibt meist faul im eigenen, parkartigen Garten liegen. Mit Gucci-Sonnenhütchen, riesiger Sonnenbrille, diversen Zeitschriften und einem Kaltgetränk in der manikürten Hand lässt es sich aushalten.

Ich für meinen Teil schwitze zwar auch, gehöre aber noch zum arbeitenden Teil der Bevölkerung und kann mich erst gegen Abend so richtig gehen lassen.

 

Des Nachts ...

 

Ich wache niemals schreiend auf. Dieser Albtraum bleibt für immer. Ich kann nicht atmen, mich nicht bewegen. Ich kann nur eines: sehen. Meine Augen sind so weit aufgerissen, dass ich fühle, wie sie trocken werden und brennen. Ich versuche zu blinzeln. Vergebens. Trotzdem quellen Tränen aus meinen Lidern. Die Ränder meines Sichtfeldes verschwimmen, aber mein Blick bleibt starr auf das gerichtet, was sich in der Zimmerecke befindet.

 

Was in der Zimmerecke unter der Dachschräge kauert und auf mich wartet.

Geduldig und stumm. Jede Nacht.

 

Jede Nacht, bis ich seine tote Sprache spreche, bis ich seinen gärenden Atmen auf meinem Gesicht fühle und bis ich verstehe, was niemals jemand verstehen kann.

 

Oder sich eine kalte Klauenhand nach mir ausstreckt, mich an sich zieht und ich seine schwarzen, scharfen, zahnfleischlosen Zähne, die aus seinem knöchernen Oberkiefer ragen, an meinem Hals spüre.

 

Seine Schreie warten darauf, endlich gehört zu werden.

Kapitel 2: Der Brand

 

Drei Querstraßen vom Dachsbau und der Scheune entfernt liege ich langgestreckt auf meiner Couch. 19 Uhr vorbei, genau die Zeit, in der die Abendsonne von Osten durch die Fenster unseres Wohnzimmers scheint. Eigentlich tue ich gar nichts, außer vor mich hin zu schwitzen. Ich trage eine pinke Frottee-Hose und ein zerlumptes Tanktop. Warum auch nicht? Sieht mich ja keiner.

Zu meinen Füßen schnarcht meine Bulldogge, trotz der Hitze in unseren großen Hirtenteppich eingeschlagen. Diesen hält sie irrtümlicherweise für ihr Körbchen. Als Bullyhalter weiß man, dass man einem Bully nicht widerspricht, außer man riskiert traurige Blicke aus untertassengroßen Augen und herzerweichendes Stöhnen.

Ich bin hin - und hergerissen, was ich mit diesem schnöden Freitagabend als Strohwitwe noch anfangen soll. Fernsehen? Freitags kommt nie was vernünftiges. War vor Jahren der Freitagabend noch die Primetime mit allerhand guten Filmen, so scheinen die Sender diesen Tag heute schlicht aufgegeben zu haben. Außer man mag Spielshows, für die man entweder über 90 Jahre alt oder hirntot sein muss.

DVD? Online-Videos? Youtube? Letztlich kann ich mich für gar nichts erwärmen und schnaufe und schwitze tatenlos weiter.

Mein Mann ist bis Morgen geschäftlich außer Haus und ich neige nicht dazu, alleine etwas zu unternehmen. Klar könnte ich jetzt Freunde per WhatsApp kontaktieren. Aber dazu bin ich zu lethargisch. Am Ende hat wirklich jemand Zeit und will etwas mit mir unternehmen. Nä.

Ich hebe meine Arme und lasse etwas kühle Luft an meine triefenden Achseln. Mitten in der Bewegung erstarre ich. Die Luftschutzsirene heult los. Obwohl mein Herz los galoppiert und ich hochgeschnellt bin, meldet mein Verstand:

›Hey, es ist superheiß und furztrocken. Es brennt irgendwo!‹

Und recht hat der vernünftige Teil meines Gehirns: Im Abstand von ein paar Sekunden erklingt der Heulton drei Mal, dazwischen heben die Sirenen der Nachbardörfer ebenfalls an.

„Da brennt nicht irgendwas, da brennt irgendwas ganz gewaltig, wenn alle Wehren der Umgebung zusammen gerufen werden.“, murmele ich vor mich hin.

Weil ich jetzt schon aufrecht sitze, kann ich auch gleich rausgehen und eine rauchen. Wir rauchen eigentlich nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ok, ok, schlechter Scherz, aber immerhin rauchen wir nur außerhalb geschlossener Räume.

Ich sehe mit großem Missfallen einen Schweißfleck auf Höhe meines Hinterns auf den hellen Sitzpolstern der Couch. Das gibt sicher einen hässlichen Rand, wenn es trocknet. Egal.

Ich latsche zur Haustür. Meine verschwitzten Füße machen ein feuchtes, flapsendes Geräusch auf den kalten Fliesen. Der Bully öffnet nur ein Auge zu einem schmalen Schlitz und vergräbt dann mit einem Seufzen seine platte Schnauze noch tiefer im Teppich. Eine Bulldogge hat keine Sprechstunde mehr zu solch ›nachtschlafender‹ Zeit. Hätte er nicht schon zu Abend gefressen und sein Tagwerk damit erledigt, wäre er sofort mit mir aufgesprungen und erwartungsvoll in den Garten gestürzt.

 

Jetzt stehe ich vor der Haustür und greife nach meinem Feuerzeug. Gewohnheitsmäßig trete ich vor, um besser auf die Straße glotzen zu können (solche Art von Blockwart-Tätigkeit geht einem auf dem Dorf schnell in Fleisch und Blut über) und sehe überrascht ein mächtige, dunkelgraue Rauchwolke über den Tannen der Nachbarn. Ich überlege angestrengt, was sich dort befindet. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mit Feuer nicht gerade viel Erfahrung habe und somit nicht sagen kann wo es oder gar was da brennt.

Aber eines ist klar: Das kann ich nicht ignorieren. Am Ende brennt mir noch die eigene Bude ab.

Kippe ausgedrückt, ins Haus geflitzt, Jeans übergezogen, rein in die Turnschuhe, Schlüssel geschnappt, ein schnelles „Schön brav sein, bin ich gleich wieder da!“, als Abschiedsformel an meinen Bully (der nicht mal die Augen öffnet, sondern im Schlaf nur mit den Pfoten zuckt) und raus aus der Tür.

Nachdem ich unser quietschendes Tor hinter mir gelassen habe, wende ich mich nach Norden auf dem Weg zur Hauptstraße.

Irgendwie bin ich verwundert und auch ein wenig enttäuscht: Unterbewusst hatte ich mit einer kleinen Völkerwanderung in Richtung des Geschehens gerechnet. Ich meine: Jetzt ist doch wirklich mal was los? Wo sind denn alle?

Forschen Schrittes laufe ich Richtung Dorfkern. Kein einziges Auto quert die Hauptstraße. Doch als ich auf diese abbiege, wird klar warum: Sie ist für den Verkehr gesperrt.

Vor den weiß roten Absperrungen steht tatsächlich gaffenderweise ein Haufen Leute. Die meisten recken ihr Smartphone in die Höhe und filmen dieses aufregende Event. Langsameren Schrittes (ich will ja nicht wirken, als wäre ich ängstlich angerannt gekommen) nähere ich mich den Schaulustigen und nehme gleichzeitig die Feuersbrunst wahr, die sich weiter hinten in Richtung Ortsausgang abzeichnet. Offensichtlich steht die alte Fachwerkscheune neben dem Dachsbau in Brand.

Die Flammen tosen und brausen, lodern meterhoch und verschlingen gerade das Dach. Die bloßen Balken zeichnen sich vor dem strahlend blauen Himmel pechschwarz ab, das Gebäude selbst ist ebenfalls kohlrabenschwarz vor Ruß. Durch die kleinen Fensterchen scheint man einen Blick in die Glut der Hölle werfen zu können.

Ich zähle fünf Löschzüge mit rotierenden Blaulichtern und sehe mindestens fünfzig Feuerwehrleute im Einsatz. Allerdings ist abzusehen, dass sie den Kampf verlieren werden. Und höchstens noch den rechts stehenden Dachsbau und das alte Einfamilienhaus schräg dahinter, vor den Flammen bewahren können.

›Kontrolliertes Abbrennen‹ nennt man das, fällt mir gerade ein. Habe ich mal irgendwo gelesen. Obwohl ich hundert Meter weit weg stehe, spüre ich die gewaltige Hitzewelle, die von dem Feuer ausgeht, der Rauch legt sich schwer in meine Nebenhöhlen und kratzt mir im Hals. Trotzdem bleibe ich erst mal stehen und zünde mir eine Zigarette an. Kommt jetzt ja auch nicht mehr drauf an.

„Boar, laut, oder?“, quatscht es unvermittelt neben mir los.

„Hätte nie gedacht, dass Feuer so einen Lärm machen kann!“

Neben mit steht Anton, einer unserer Nachbarn. Anton ist um die Fünfzig, von quadratischer Statur mit grauem Bürstenschnitt. Er lebt mit seiner Frau Ina beschaulich direkt am Waldrand. Sein Lebensinhalt ist Golf. Handicap 9 - muss ich mehr sagen? Wie um das zu demonstrieren trägt Anton ausschließlich Golfkleidung in wilden Farb - und Mustermixen. Wahrscheinlich auch im Bett.

„Wem gehört die Scheune?“, frage ich ihn und er antwortet in seiner ihm eigenen Manier, die großen Interpretationsspielraum lässt:

„Ach hier, dem, weißte doch? ... Mhhh, die ganze Sippschaft, da ...!“, und schlägt mir lachend sanft mit dem Handrücken gegen die Schulter. Mit anderen Worten: Er hat keine Ahnung.

Wir wenden uns wieder dem Feuer zu und staunen in stummer Faszination.

Ich spüre den aufgeheizten Asphalt unter den Gummisohlen meiner dunkelblauen Stoffturnschuhe. Für den Augenblick reiße ich meinen Blick von den Flammen los und will mich nach einem Mülleimer für meine Kippe umsehen, als ich es plötzlich höre.

Ein Wimmern. Wie von einem Tier.

„Hörst du das?“, frage ich Anton. Er legt lauschend den Kopf zur Seite.

„Was meinst du?“ Seine grünlichen Augen blicken fragend in meine blauen.

„Da wimmert doch was?! So ein Jaulen? Nicht, dass da noch ein Tier drin ist?“, kläre ich ihn auf und recke suchend den Hals an den Leuten vor mir vorbei, um besser in die Scheune schauen zu können.

„Nö, ich hör nichts. Da kann nichts drin sein, was noch lebt.“

Womit er zweifellos recht hat. In diesem Meer aus Flammen und einstürzenden Dachbalken kann nichts lebendiges sein.

Aber dann wird es lauter. Es kreischt regelrecht. Ich habe einen solch entsetzlichen Laut noch nie gehört und bin geneigt, mir die Ohren zuzuhalten. Dieses schrille Geräusch schneidet mir wie ein Klinge durch meinen Kopf, mein Herz, meinen Bauch.

„Oh mein Gott!“, keuche ich, „Was ist das?!“

„Hä?“, fragt Anton leicht dümmlich, „Ich höre immer noch nichts. Wasn los mit dir, du bist so blass?“

Kein Wunder, dass ich blass bin, ich habe mittlerweile das Gefühl, dass ich entweder gleich umkippe oder mich in die Flammen werfen muss um das, was da schreit, eigenhändig zu retten.

Ich versuche tief durchzuatmen. Sehe die Menschen um mich herum, spüre mein Herz bis unter meine Schädeldecke klopfen, meine Ohren rauschen.

Und es kreischt und kreischt, höher, lauter, schriller. Niemand scheint etwas zu hören. Man hält das Smartphone hoch, witzelt miteinander, raucht die ein oder andere Zigarette. Da hinten hat sogar jemand eine Bierflasche in der Hand. Kostenlose Abendunterhaltung auf dem Lande.

Und dann sehe ich sie.

Viel zu nah an den Flammen steht eine Frau. Sie zittert und wabert in der Glut des Feuers. Ungefähr so, wie man flirrende Hitze wie Wasser auf kochend heißem Asphalt sehen kann.

Dunkelblonde, etwas fettige Haare bis zur Schulter, vereinzelte Strähnen fallen in ihr Gesicht. Sie ist viel zu dick angezogen, trägt einen zerschlissenen, grauen Cardigan, den sie fest vor ihrer Brust geschlossen hält. Ihre Finger sind so verkrampft, dass ihre Knöchel weiß hervortreten.

Ich fühle mich plötzlich wie in einen Kokon gehüllt. Nichts höre ich mehr. Nichts, außer der Frau, nehme ich mehr wahr.

Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihre Iris ist so schwarz, dass ich keine Pupille erkennen kann. Für einen flüchtigen Moment wundere ich mich, dass ich diese Details erkennen kann, denn ohne Brille sehe ich alles, was sich weiter als fünf Meter vor mir befindet, sehr unscharf.

Ich rieche etwas Furchtbares. Süßlich, wie verdorbener Parmesan, roh und erdig wie Kompost. Mein Mund füllt sich mit Speichel und dann mit einer Masse, die ich nicht definieren kann, fast wie Erde oder gemahlene Zähne ...

Dabei starre ich in diese abgründigen schwarzen Augen und bemerke völlig abgeklärt, dass ich keine Pupille sehe, weil das gesamte Auge aus ihr besteht. Wie schwarze Löcher ziehen diese Augen mich in ihren Bann.

Ich will wegsehen, will mich umdrehen und fortlaufen, aber ich kann mich nicht rühren. Ihr Mund öffnet sich nicht, aber ich kann ihre Gedanken hören:

›Geh‹, zischt es kaum vernehmbar, nur in meinem Kopf.

›Verschwinde. Ich warne dich ...‹

Eine echte laute Stimme dringt an mein Ohr, der Bann ist gebrochen.

„Ähm, ich glaube, hier hat jemand ‘ne Rauchvergiftung!“, höre ich Anton neben mir rufen. Glücklicherweise raffe ich schnell, dass er mich meint und reiße mich mit aller Gewalt in die Realität zurück. Er zeigt mit einem Finger hilfesuchend auf meinen Kopf.

Mit einem kräftigen Schlag auf seinen Oberarm (so kräftig man mit 45 Kilo Lebendgewicht eben schlagen kann) und einem gezischten „Halt die Klappe, Mann, alles in Ordnung!“, bringe ich ihn zum Schweigen und stoppe jede weitere Peinlichkeit, bevor jemand auf uns aufmerksam wird. Besorgt blickt er mich an.

„In Ordnung?! Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Du bist leichenblass und zitterst! Und außerdem hast du eben geschwankt, als würdest du gleich umkippen.“

Ich achte nicht auf ihn, sondern hebe den Kopf und schaue nach der Frau. Niemand steht mehr dort, der Platz ist leer.

Nachdem ich Anton erfolgreich abgeschüttelt habe, der mich freundlicherweise nach Hause bringen wollte, stehe ich fünf Minuten später wieder in unserem kühlen Hausflur. Ich atme immer noch zu schnell. Vor dem Flurspiegel halte ich inne und schaue mir ins Gesicht:

Für meine 37 Jahre und ein paar Zigaretten zu viel am Tag habe ich mich eigentlich ganz gut gehalten. Lange blonde Haare, ein schmales Gesicht mit einer etwas zu breiten Nasenspitze, einer hohen Stirn und blauen, leicht schrägen Augen. Ich arbeite seit vielen Jahren vom Home-Office aus als selbstständige Grafikerin. Neulich hat mich die Kassiererin im Supermarkt beim Zigaretten bezahlen ernsthaft gefragt, ob ich schon achtzehn bin. Habe mich dann erfreut bedankt. Da legte die Nebelkrähe den Kopf schief und sagte:

„Ach nee, jetzt sieht man es doch, im Gesicht!“ Schönen Dank auch.

Ich bin verheiratet, aber gewollt kinderlos. Meine größte Liebe, direkt NACH meinem Mann, ist unsere kleine dicke Bulldogge.

Ich betrachte mich im Spiegel und sehe, dass meine Oberlippe leicht zittert. Ich stoppe das mit einem auf die Lippe gelegten Finger und sage laut:

„Jetzt ist es so weit: Du wirst verrückt.“

Merkwürdigerweise trifft mich diese Erkenntnis nicht bis ins Mark. Bei mir braucht es manchmal etwas länger, bis der Groschen fällt. Auf einmal fühle ich mich todmüde und wie vom Laster überfahren. Ich werfe noch einen Kontrollblick auf die schlafende Bulldogge und gehe ins Bett.

 

...

 

Kurz vor dem Morgengrauen

Säuglinge schreien. Sie schreien vor Hunger oder wegen einer vollen Windel. Aber sie können auch kreischen. Kreischen wie kämpfende Katzen. Keine normale Mutter lässt es so weit kommen, das markerschütternde Crescendo dieses Brüllens hören zu müssen. So muss es klingen, wenn ein Baby verbrennt.

Der Rauch vermag es nicht gnädigerweise zu ersticken und erlaubt ihm nicht, das Bewusstsein zu verlieren, bevor die Flammen zunächst über die pfirsichzarte Haut lecken und dann fressen, fressen, fressen ...

Denn wer schon tot ist, der kann nicht ohnmächtig werden. Und wer aus dem Leben gerissen wurde, ohne überhaupt ein wirkliches Bewusstsein zu erlangt zu haben, der durchlebt den Moment des Todes immer und immer wieder.

Kapitel 3: Die Zigeunerin

 

Am nächsten Montagmorgen wache ich gewohnt früh auf, obwohl ich mir heute frei genommen habe und der Wecker nicht klingelt. Das ist eine der Schokoladenseiten der Selbstständigkeit, dass man sich so etwas erlauben kann. Als pflichtbewusste Beamtentochter gönne ich mir das ungefähr ein Mal im Jahr.

Meine innere Uhr weckt mich immer gegen 6.00 Uhr, das ist die Zeit, zu der ich unter der Woche aufstehe. Genüsslich strecke ich mich und drehe mich nochmal um, als mir klar wird, dass ich heute nichts arbeiten will und mir auch sonst nichts vorgenommen habe.

Mit einem zufriedenen Schnaufen ziehe ich mir meine Schlafanzughose aus der Pofalte, lausche kurz, ob der Bully im Wohnzimmer schon wach ist (das erkennt man an lautem Schmatzen und Grunzen) und schließe erneut die Augen, als ich nur leises Schnorcheln höre.

Ein Tuckern, dass rasch lauter wird und ausgerechnet direkt vor meinem Gartentor anhält, stört nachhaltig meine Entspannung. Türen klappen lautstark, ich höre ein Rumpeln, die ganze Zeit dröhnt der Motor weiter.

Wie ich das liebe: Aussteigen und den Motor laufen lassen.

Unser Schlafzimmerfenster geht zur Straße raus und wir schlafen bei gekipptem Fenster. Auf dem Land kann man das riskieren, denn die Quote der nachts fahrenden Autos liegt ungefähr bei null. Es röhrt und tuckert weiter, an Schlaf ist nicht mehr zu denken.

Missmutig schlage ich die Decke zurück und bin mit einem Schritt am Fenster. Getarnt durch die Vorhänge linse ich durch den Spalt. Vor unserer Gartentür parkt ein alter, schmutzig-weißer Transporter, beide Türen sind geöffnet und die Heckklappe wird gerade mit einem saftigen Krachen zugeschmissen. Nun ist mir alles klar: Heute ist Sperrmüll.

Nicht, dass ich es nicht schätzen würde, wenn alle vier Wochen Elektroschrott, Möbel und eben alle sperrigen Dinge bequem abtransportiert werden, ohne dass man selbst tätig werden muss. Was mich allerdings nervt ist, dass dieser Termin Schrottsammler aus allen Himmelsrichtungen anlockt.

Grundsätzlich heiße ich es gut, dass Leute mit unserem Wohlstandsmüll noch etwas anfangen können. Nicht so prall finde ich, dass sie schon am Tag vor dem eigentlichen Termin in ganzen Heerscharen durch unsere Straßen paradieren, im Schrott auf der Jagd nach Edelmetallen wühlen und allgemein ein riesiges Chaos anrichten, das man selbst wieder beseitigen darf.

Und außerdem habe ich immer den Verdacht, dass diese - zum Teil wirklich zwielichtigen Gestalten - die Häuser und Gärten ausspähen um des Nachts nochmal wieder zu kommen und die Dinge zu holen, die nicht auf den Müll gehören. Wie zum Beispiel Schmuck und Bargeld.

Dass sie wirklich alles mitnehmen, was irgendwie ›draußen‹ an der Straße steht (gerne auch Fahrräder), haben sie schon mehr als ein Mal bewiesen.

Einer der glorreichen Höhepunkte des Schrottsammelns bestand aus der Mitnahme einer Bodenfräse, mit der man Wurzelwerk entfernen kann. Sieht aus wie ein Mini-Bagger mit einer Fräse vorne dran. Kostenpunkt: etwa 20.000 Euro. Das gute Stück stand bei unseren Nachbarn am Bordstein. Die Gartenbaufirma, der sie gehörte, hatte sie schon zum Abtransport an die Straße neben ihren eigenen Transporter gestellt. Bereit, die Maschine auf den Anhänger zu verladen.

Es kam, wie es kommen musste: Ein Sammler hielt an und holte, zu meinem Erstaunen, eine lange Metallrampe aus seinen Hecktüren. In Null-Komma-Nichts war die Maschine von den Männern eingeladen worden. Ich wollte gerade losgehen und mich einmischen, als einer der Kerle nochmal ausstieg und selbst bei meinen Nachbarn klingelte.

Hinterher hat mir meine Nachbarin erzählt, dass der Typ dreist gefragt hatte, ob „sie noch mehr solche Maschinen hätten“. So konnte das Ganze dann doch recht schnell aufgeklärt werden.

 

Da ich nun vollständig wach bin, kann ich mich auch gleich anziehen. Puschen an und ab ins Bad. Als ich mein leicht aufgequollenes Gesicht im Spiegel anstarre und gedankenverloren dem Summen meiner elektrischen Zahnbürste lausche, fällt mir die Szene von gestern Abend wieder ein.

„Humbug“, blubbere ich zahnpastasprühend hervor.

Am helllichten Tag dieses Sommermorgens bin ich mir sicher, dass ich mir die Frau nur eingebildet habe. Wahrscheinlich hatte ich tatsächlich eine leichte Rauchvergiftung und außerdem gucke ich zu viele Horrorfilme.

Nach meiner Morgentoilette ist ein Becher Kaffee und ein Marmeladenbrötchen Pflicht. Während mein Kaffeeautomat los röhrt wie eine zweimotorige Cessna und die Bohnen frisch zerkleinert, buhle ich um die morgendliche Gunst der schläfrigen Bulldogge mit einem Hackbällchen. Nach dem Genuss des selben ist man gewillt aufzustehen und ein kleines Geschäft im Garten zu verrichten.

Während der Bully interessante Streck - und Dehnungsübungen ausführt, die platte Schnute in die Luft hält und wittert, ob des Nachts Feinde im Garten waren (Katzen! Rehe!) und sich dann auf den Rasen, beziehungsweise seine Toilette, trollt, lasse ich mir die erste Kippe des Morgens munden. Ich stoße eine Rauchwolke wie ein kleiner Drache aus und höre unseren Nachbarn seine Haustür aufschließen.

Bodo und seine Frau Hannelore verbringen die meiste Zeit des Jahres in ihrem Haus auf Gran Canaria. Bodo ist fast neunzig, taub wie ein Stock, aber ansonsten fit wie ein Turnschuh. Äußerst redselig und hat immer goldwerte Tipps auf Lager.

Wir wohnten schon ein halbes Jahr hier, als wir ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Er verriet uns mit verschwörerischer Miene, dass man mit dem Auto quer durch den Wald fahren könne. Dann käme man in einen größeren Ort namens B. Und dort gäbe es, hier senkte er seine Stimme, als würde er mir gerade den Aufbewahrungsort der Bundeslade verraten, einen REWE. Dort könne man sehr gut einkaufen. Ich war ihm natürlich sehr dankbar für diese Information. Nach sechs Monaten in der Einöde hat man schon tierisch Hunger - wir waren quasi kurz davor, den schimmeligen Kitt aus den Fugen im Bad zu fressen. Doch Dank Bodo wussten wir nun, wo man einkaufen kann.

Ich drücke schnurstracks meine Zigarette aus, pfeife nach dem Bully und verschwinde ins Haus. Bevor Bodo mich wittert und mir am Ende noch erklärt, dass Rauchen gar nicht so gesundheitsfördernd ist, wie ich mir denke.

Während der Bully ein ordentliches Frühstück genießt (Nierendiät - man hat es nicht leicht im Alter) und auch ich mein aufgetoastetes Fertigback-Brötchen verschlinge (mit Himbeermarmelade, ohne Stücke, ohne Kerne), texte ich via Smartphone mit meinem Mann. Nach dem üblichen Austausch darüber, dass wir beide mies geschlafen haben (wenn er da ist, schnarcht er laut und das stört mich. Wenn er weg ist, schnarcht nichts neben mir und das stört mich noch mehr) und uns vermissen, wische ich Marmelade vom Display meines Handys, kippe den letzten Rest Kaffee in meinen Rachen und greife im Flur zur Hundeleine.

Zeit für einen Gassigang.

Die phlegmatische Bulldogge versucht beim Anblick ihres Halsbandes zu fliehen, aber ich bin mit allen Wassern gewaschen und schneide ihr von der Küche aus den Weg ab.

 

...

 

„Was habt ihr am Wochenende gemacht, wart ihr mal wieder beim Golf, wie geht es Max?“

Eine Flut von Fragen prasselt auf mich ein. Das ist der Grund, warum ich am liebsten alleine spazieren gehe. Doch meine unvermeidliche Nachbarin Maria hat mich bereits von ihrem Fenster aus erspäht und mich zu sich rein gewunken. Ich überlege kurz, ob ich sie ignoriere und vortäusche, über Nacht erblindet zu sein, füge mich dann aber meinem Schicksal.

Marias Hund Simba ist eine herzige Mischung aus Dackel und Malteser, hat große Ähnlichkeit mit einem explodierten Wischmop und ist gesegnete neunzehn Jahre alt. Noch gut zu Fuß, schnüffelt er stundenlang duftendes Hündinnen-Pippi, wenn man ihn lässt. Dennoch wird der kleine Kerl eigentlich nur noch durch Marias Mutterliebe und Aufbauspritzen vom Tierarzt zusammengehalten. Mein Bully und Simba sind aneinander ungefähr so interessiert wie ich am Macrameeknüpfen und so schleichen wir, wie gewohnt, durch den angrenzenden Tannenwald.

Maria, heute angetan in einer hellblauen Steppjacke und bequemen, aber sündhaft teuren Turnschuhen, redet ohne Punkt und Komma.

Zunächst dreht sich das Gespräch um das Ereignis des Vortags: den Scheunenbrand. Maria hat schon mit allen interessierten Anwohnerinnen telefoniert und weiß bestens Bescheid:

„Das war Brandstiftung, ganz klar, warmer Abriss! Die durfte man nämlich nicht abreißen, weil sie unter Denkmalschutz steht. Wusstest du, dass die Scheune das älteste Gebäude im Dorf war? Über 400 Jahre alt!“

Ich verneine, diese Information ist mir neu.

„Warum wollte man sie denn abreißen?“, frage ich. Auch das weiß Maria natürlich genau:

„Du weißt doch, das große freie Gelände dahinter ist verkauft. Da sollen Doppelhäuser gebaut werden. Aber die haben keine vernünftige Zufahrt. Tja, jetzt haben sie eine, wo die Scheune aus dem Weg ist ...!“

„Was war denn da überhaupt drin?“, will ich wissen und sehe Maria von der Seite an. Ihr Lippenstift ist leicht verwischt.

„Keine Ahnung“, antwortet sie, „irgendwelcher alter Krempel.“

„Und wem gehörte sie?“, hake ich nach.

„Na, Feldhusens, natürlich!“ Eine der ehemaligen großen Familien im Ort.

„Der Alte ist ja vor Jahren gestorben und den Sohn hab ich auch schon ewig nicht mehr gesehen. Die haben doch im Dachsbau gewohnt. Aber dann war irgendwas mit seiner Frau ... Warte mal, das muss 1981 oder so gewesen sein ...“

Maria verstummt.

„Ja, uuuuuund? Was war denn?“

Immer wenn es spannend wird, verliert Maria grundsätzlich den Faden. Dabei ist sie keine vierzig Jahre alt und sollte eigentlich noch nicht dement sein.

„Hm, ich weiß nicht mehr. Die beiden hatten ein Baby und dann waren sie irgendwann einfach verschwunden. Das war ein Junge, daran erinnere ich mich genau. Wahrscheinlich sind sie weggezogen“, schließt sie schulterzuckend ihre Erzählung.

Wir gehen langsam weiter, der Bully wie ein pflügender Ochse an der Leine zerrend vorneweg, Simba wird von Maria an seine Flexileine hinterher geschleift.

„... und du glaubst es nicht, dann haben die im Reisebüro gesagt, wenn wir die Mexiko-Reise nun doch nicht antreten können, wir jeder 300 Euro Storno bezahlen müssen ... “, ... „Warst du auch bei Leininger zum Ausverkauf?! Die Sachen würden dir alle passen, die haben auch deine Größe, da solltest du unbedingt ...“

Maria redet immer noch sehr ausdauernd. Eigentlich habe ich abgeschaltet, dennoch liegt mir auf der Zunge, dass dieser Luxus-Laden bestimmt meine Größe führt, ich aber nur das Gewicht und keineswegs das Portemonnaie von Victoria Beckham habe. Das scheint Maria aber zu denken. Eines muss man ihr in ihrer Weltfremdheit lassen: Sie ist wirklich herzensgut, großzügig und immer für einen da, falls man sie mal braucht.

Während es, so glaube ich zumindest, nun um ihre wöchentliche Canasta-Runde geht, erreichen wir eine alte Forststraße, die für den Straßenverkehr freigegeben ist. Schon von Weitem sehe ich wieder einen der Schrottsammler-Transporter in einer Staubwolke anrollen. Diesmal einen rostroten Mercedes Sprinter, der schon bessere Tage gesehen hat.

Gewohnheitsmäßig nehme ich den Bully enger an der Leine (er gehorcht eigentlich gut, prüft vorher aber grundsätzlich seine Zuständigkeit) und dränge Maria mit Simba ein wenig an den Wegesrand.

Der Wagen kommt näher und kündigt sich mit durchdringendem Benzingeruch an.

›Himmel, hat das Ding noch keinen Kat?‹, schießt es mir durch den Kopf.

Auf unserer Höhe wird der Wagen langsamer, das Fenster wird herunter gekurbelt (echt oldschool, das habe ich das letzte Mal 1996 gesehen) und ein braunes Gesicht mit flacher Nase, erstaunlich hellen Augen und fast lila Lippen schaut heraus. Die Wangen sind mit dutzenden dunkler Muttermale gesprenkelt. Der fleischige Mund verzieht sich zu einem zahnlosen Grinsen, welches bestimmt freundlich wirken soll, bei mir aber alle Alarmglocken schrillen lässt.

Ohne Einleitung stößt er den Namen unseres Örtchens hervor. Ich wedele mit meinem Arm in die Richtung, in die er sowieso fährt. Er gestikuliert in Richtung Windschutzscheibe. Ich nicke.

„Ganz recht, immer dem Weg folgen, in fünf Minuten sind Sie da!“

Ein dicklicher Finger an einem Arm mit skurrilen Tätowierungen, die verdächtig nach mit Kugelschreiber gemachten Knast-Tattoos aussehen, schießt aus dem Beifahrerfenster und zeigt auf mich:

„Du! Metallschrott?“

Ahhh, ein Ratespiel. Was genau will der gute Mann von mir wissen? Ob ich aus Metallschrott gefertigt bin? Das muss ich verneinen. Ob ich Metallschrott in meiner Jackentasche mit mir führe? Auch hier fällt die Antwort negativ aus.

Maria glotzt neben mir nur, plötzlich stumm wie ein Fisch. Simba schnüffelt an einem undefinierbaren Stück Irgendwas am Wegesrand, der Bully nutzt die unverhoffte Pause und räkelt sich genüsslich grunzend auf dem Rücken. Zumindest sind die Hunde wirklich abschreckend, falls man mal belästigt werden sollte. Obwohl ich mich eigentlich nicht zu derlei Konversationen mit Halbidioten hinreißen lassen will, höre ich mich fragen: „Metallschrott? Was meinen Sie?“

Bevor er antworten kann, berührt mich etwas am Ärmel. Ich fahre erschrocken herum, denn Maria kann es nicht sein, die befindet etwas abseits mit Simba. Sie schaut nun fragend und leicht angeekelt auf etwas hinter mir.

Dort steht die wahrscheinlich älteste Frau, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe. So ewas kennt man eigentlich nur aus Filmen. Sie ist mir so nahe, dass ihr Antlitz mein gesamtes Blickfeld ausfüllt. Und das ist nicht gerade ein schöner Anblick: Haut kann man diese dunkelbraune Masse aus Falten kaum noch nennen. Ihre Nase ist riesig und geformt wie eine überdimensionale Knolle, auf deren Seite ein fleischiges Gebilde thront, welches nur ein bösartiger Tumor sein kann. Schwärzlich und irgendwie nass. Breit wie eine Euro-Münze.

Es ist unhöflich, auf die weniger schönen Teile eines Menschen zu starren und so zwinge ich meinen Blick höher zu ihren Augen. Trüb, das Weiß wie alte Eierschalen, die Iris, ehemals braun, verwaschen und von einem hellen Beige. Die Pupillen sind winzig, aber sie setzen sich messerscharf ab und scheinen ihren Blick direkt in mein Gehirn zu bohren.

In diesem Moment dringt mir ihr Geruch in die Nase: Eine Mixtur aus feuchten Kellerräumen, altem Schweiß und einer kräftigen Nuance Eau de Pisse. Meine Nase meldet noch irgendwas, was mir plötzlich schreckliche Angst macht. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, was es ist, das mein Herz rasen lässt und einen unwiderstehlichen Drang zur Flucht in mir auslöst. Durch meinen Magen pumpt ein Adrenalinstoß, meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich spüre, wie mir in Zeitlupe ein Schweißtropfen unter dem rechten Arm an den Rippen runterrinnt. Unwillkürlich schrecke ich zurück, um Abstand zwischen mich und dieses albtraumhafte Gesicht zu bringen. Das Ganze geschieht im Bruchteil einer Sekunde.

Jetzt, da ich etwas weiter weg stehe, sehe ich, dass sie ein braunes Strick-Kleid trägt. Ihr unfassbar faltiger Hals, wie bei einem Truthahn, ragt aus einem vergilbten Spitzenkragen hervor. Das Kleid ist vorne mit blinden Messingknöpfen besetzt, ihre Füße stecken in derben braunen Sandalen. Trotz der hohen Temperaturen trägt die alte Frau eine durchsichtige Strumpfhose, wie es Omas immer zu tun pflegen. Ich würde das verstehen, wenn die Strumpfhose ihre abstoßenden Zehen verbergen würde. Der Fuß wurde offenbar so lange in schlechtes Schuhwerk gepresst, bis die Zehen allesamt endgültig in Richtung der großen Zehs gequetscht wurden und sich regelrecht überlappen.

Mir kriecht Übelkeit den Hals hoch, als ich den schwarzen, bröckeligen Nagel ihres großen Zehs wahr nehme, der schief sitzt und den Anschein hat, als würde er nur noch von der Strumpfhose an Ort und Stelle gehalten werden. Igitt, das ist wohl Nagelpilz im Endstadium.

Erstaunlich schnell schießt sie vor, eine knorrige Hand langt nach meiner. Aber ich bin jünger und schneller und ziehe sie reflexartig weg.

„Was soll das, hauen sie ab!“,spucke ich ihr entgegen.

Ich bin sonst eigentlich immer viel zu höflich, aber wenn man versucht mich anzufassen, werde ich wild.

Die Alte fixiert mich. Immer noch sagt sie kein Wort. Dafür spricht nun wieder der Fahrer des Transporters, an die alte Hexe gewandt. In einer Sprache, die ich noch nie gehört habe, fordert er sie offensichtlich zum Einsteigen auf. Sie verschwindet recht zügig im hinteren Teil des Transporters, den ich nicht mal aufgehen gehört habe.

Weitere Wortfetzen fallen im Inneren, es hört sich an wie: ›mort‹, ›koopiii‹, ›djawoll‹, ein langgezogenes ›rauuuuuuu‹ und anderes, undefinierbares, Kauderwelsch. Ich stehe so unter Strom, dass sich mir die merkwürdigen Laute regelrecht ins Hirn brennen.

Der Transporter gibt endlich Gas und lässt uns in einer Staubwolke zurück. Maria kommt wieder näher. „Kanntest du die?!“, fragt sie mich.

„Klar, das war meine Mutter ... Soll das ein Witz sein? Natürlich nicht!“ antworte ich ihr stirnrunzelnd.

„Aber sie kannte deinen Namen ...?“

„Waaasss? Quatsch, die hat doch gar nichts gesagt“

„Doch, als sie eingestiegen ist, hat sie vor sich hin gemurmelt. Und da kam dein Name drin vor!“, erwidert Maria mit Nachdruck.

„Nee, da hast du dich bestimmt verhört!“

Langsam werde ich sauer, klar, die Alte kennt mich, wahrscheinlich aus meiner Canasta-Runde.

„Ich meine es doch nicht böse! Ich habe es aber genau verstanden ...“, besteht Maria auf das, was sie gehört hat:

„Sie sagte: Isa, vergiss die Kinder.

 

...

 

Später, an einem anderen Ort

 

Gedankenverloren steht Johanna an der vor Dreck starrenden Fensterscheibe. Wie jeden Tag. Sie schaut auf die Straße.

Da ist sie wieder: Die kleine blonde Frau mit dem gedrungenen Hund mit dem platten Gesicht. Der Hund schnüffelt an einem Laternenpfahl, während Frauchen geduldig wartet. Johanna schließt die Augen. Sie hat Angst vor dieser Frau. Sie sieht aus wie ein Engel, aber sie ist der Teufel.

Sie kennt ihr Geheimnis und wenn sie nicht aufpasst, wird sie ihr ihren größten Schatz wegnehmen. Sie hält inne und lauscht. Gabriel schläft. Der kleine Sonnenschein gibt keinen Laut von sich. Was weiß er schon von dieser grausamen Welt?

„Ich werde dafür sorgen, dass dir niemals ein Leid geschieht!“, flüstert Johanna kaum hörbar.

Ihr Atem beschlägt die Fensterscheibe, die fast blind ist. Das merkt Johanna nicht. Sie lebt und atmet nur für ihren Sohn.

Doch da! Ein leises Quäken aus dem oberen Stockwerk. Er wird wach und hat bestimmt Hunger. Johanna dreht dem Fenster den Rücken zu und huscht geschwind über das verkratzte, über die Jahre stumpf gewordene Eichenparkett. Ihre bloßen Füße hinterlassen Spuren in der Staubschicht, ihr flotter Schritt wirbelt Staubflocken unter das alte Sofa mit den gehäkelten Schondeckchen, auf dem schon ihre Großeltern saßen.

Das Haus ist düster, aber Johanna braucht kein Licht. Hier ist sie aufgewachsen, hier findet sie sich mit verbundenen Augen zu recht. Vorbei an dem altem Lehnstuhl mit dem gut sichtbaren Fettabdruck, an dem Großvaters Kopf ruhte.

In den kalten Flur, die schmale Holztreppe hinauf, deren fünfte und achte Stufe bedenklich ächzen. Der weiße Lack des Geländers ist abgeplatzt, in ihre Hand bohrt sich ein Lacksplitter. Johanna hat schon lange kein Schmerzempfinden mehr, den Splitter wird sie erst in ein paar Tagen bemerken, wenn sich die Stelle am Handballen entzündet hat und anschwillt. Sie hört und spürt nur Gabriel. Mittlerweile weint das Baby laut und fordernd.

„Ich komme, mein Kleiner, Mama ist gleich da!“, ruft sie in beruhigendem Ton nach oben und bewegt sich noch schneller. Der obere Flur ist dunkel, nur ein kleines rundes Fenster an der Stirnseite lässt etwas Tageslicht herein. Es stinkt modrig, vor Jahren gab es einen Wasserschaden. Das Dach ist undicht, die Wand an der Nordseite des Flurs ist schwarz vor Nässe. Schimmel hat sich gebildet, auf der Tapete schwären gelbliche Pilze und Flechten, die Verwesungsgestank ausdünsten. Das Linoleum hat seine grüne Farbe eingebüßt und ist nur noch von einem trüben Grauton, als ihre nackten Füße darüber laufen.

Schnell, schnell, Gabriel ruft.

Ihre Hand findet die Klinke des Kinderzimmers und drückt sie nieder. Totale Düsternis empfängt sie. Die Klappläden vor den drei Fenstern sind dicht verrammelt. Es ist eiskalt. Dafür sorgt Johanna pflichtbewusst. Die Wände sind mit einer fröhlichen hellblau-gestreiften Tapete versehen, auf einer umlaufenden Borte auf Kopfhöhe tanzen niedliche Bärchen mit bunten Luftballons in den Tatzen. Auf dem Boden ein hellblauer, dicker Teppich, ideal für zarte Kinderfüßchen. Rechts der Tür eine weiß lackierte Wickelkommode mit ordentlich aufgereihten Utensilien zur Babypflege, links ein mannshohes Regal mit unzähligen Teddybären. Die schwarzen Knopfaugen der Bären sind allesamt auf das in der Mitte des Zimmers stehende Prunkstück ausgerichtet: der Wiege.

Vier große, schmiedeeiserne Räder tragen einen dicht geflochtenen Bastkorb. Über diesen spannt sich ein Himmel aus schneeweißer Spitze. Johanna muss nichts sehen, ihr Mutterinstinkt geleitet sie zielsicher zur Wiege, ein wenig trübes Restlicht fällt von der geöffneten Tür aus dem Flur in das Kinderzimmer. Die Geborgenheit, die dieser Raum ausströmt und das kräftige Hungergebrüll eines gesunden Kindes füllen Johannas Herz mit Stolz und unendlicher Liebe zu ihrem Sohn.

Sie streckt die Arme nach dem kleinen Jungen aus, und legt ihn sachte mit dem Köpfchen an ihre Schulter. Sanft streicht sie über den samtweichen Flaum seines Hinterkopfes und drückt ihre Lippen an seine Stirn.

„Ruhig, ruhig, Mama ist hier“, flüstert sie und saugt seinen zarten unschuldigen Babyduft ein. Mit Gabriel auf dem Arm geht sie in die Zimmerecke und nimmt auf ihrem Stillsessel Platz. Sie öffnet ihre Bluse und legt den kleinen Körper quer an ihre Brust. Sie spürt, wie er gierig zu trinken beginnt. Johanna seufzt und schließt die Augen.

 

 

Kalt, er ist so eiskalt. Er wiegt weniger als ein Vögelchen. Der winzige Körper unter dem Strampelanzug fühlt sich wie ein mit Stroh gefülltes Säckchen an. Das Gesicht ist blauschwarz angelaufen, die Augen blicken gebrochen und trüb ins Leere. Die Zungenspitze ist leicht grünlich und lugt zwischen den blassen Lippen hervor.

Vorsichtig, ganz vorsichtig, entfernt sie den Strampelanzug und inspiziert den kleinen Körper. Zärtlich streicht sie über die Brust und das aufgedunsene Bäuchlein. Sie prüft genau die groben Nähte am Hals, den Armen und Beinen. Als sie testweise auf den knotig hervorstehenden Nabel drückt, versinkt ihr Finger mit einem Übelkeit erregenden Schmatzen im Leib des Jungen. Resigniert zieht sie ihn zurück. Eine dunkle, dickflüssige Masse klebt daran und rinnt aus der Vertiefung hervor.

Keine Angst mein Schatz, Mama hilft dir“, wispert sie kaum hörbar und pustet beruhigend zum Trost auf das klaffende Loch, wo einst der Nabel war.