Kussmaul, André Blut will Blut

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-98273-3

Dezember 2016

© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Piper Verlag GmbH, München 2016

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: © Denis Belitsky/shutterstock.com

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Meine Hände sind so blutig wie die deinen, doch ich schäme mich, dass mein Herz so weiß ist.

Lady Macbeth aus Shakespeares Macbeth, zweiter Akt, zweite Szene

Gesprächsprotokoll

Niederschrift Tonbandaufzeichnung vom 3. November 1987:

»Dort steht sie am Wasser in der Steppe – diese eine Antilope unter den vielen. Mein Blick bleibt an ihr hängen. Ich bin der Löwe, der Jäger. Unter Tausenden erkenne ich sofort ihre Schwäche, ihre Verletzlichkeit. Ich bin geübt, einen Blick dafür zu haben, wer in der Herde die leichteste Beute ist.«

»Sie sprechen von einer Antilope – ein Tier, das sich vom Rest unterscheidet? Sie haben vier Mädchen entführt und brutal misshandelt. Welches der Mädchen meinen Sie? Wer ist diese eine Antilope?«

»Hannah.«

Kapitel 1

Sie ließ den Hund von der Leine und lief in den Park. Der braun-schwarz gescheckte Terrier bellte einmal laut, dann rannte er auf die verschneite Wiese und wälzte sich im Neuschnee. In den letzten Minuten hatte es wieder stärker angefangen zu schneien. Auch wenn sie sonst eigentlich nicht zu den Frühaufstehern gehörte, so genoss sie die knappe Stunde zwischen Dunkelheit und Tag, in der ihr Kopf frei von quälenden Gedanken war. Kaum einer war unterwegs, die Stadt noch still und die Luft roch frisch. An diesem Morgen hatte das Thermometer auf ihrem Balkon minus siebzehn Grad angezeigt. Sie war warm in ihren Parka eingepackt, trug eine Russenmütze aus Kunstfell, die sie bei einem der Touristenhändler am Checkpoint Charlie gekauft hatte, schwarze Boots und zwei lange violette Schals ineinander verschlungen um den Hals. Schnee löste sich vom Ast eines Baumes und rieselte auf ihre linke Schulter herab. Sie wischte ihn weg und blickte dabei die lange Allee hinunter, an deren Ende sich am Großen Stern die Siegessäule wie ein riesengroßer Monolith gegen den dunkelgrauen Himmel abzeichnete.

»Anton! Hierher!« Der kleine Terrier gehörte nicht ihr. Er war der Hund ihrer Mutter, die seit über einer Woche mit einer Grippe im Bett lag. Sich um ihn zu kümmern war ihr eher lästig. Sie machte sich nichts aus Haustieren und würde sich auch nie eines anschaffen. Anton schüttelte sich den Schnee aus dem Fell und sprang ihr hinterher. Plötzlich blieb sie stehen. Nicht weit entfernt, genau dort, wo der von Bäumen gesäumte Weg dunkler wurde, stand jemand. Sie erkannte schemenhaft die Umrisse einer Gestalt. Ihr Herz schlug schneller. Normalerweise hätte sie in dieser Situation nicht ängstlich reagiert und auch keine Gefahr gewittert. Aber seit ein paar Wochen fühlte sie sich verfolgt. Das erste Mal hatte sie den Mann an der alten Gaslaterne vor ihrer Wohnung stehen und zu ihrem Fenster hinaufblicken sehen. Auf dem Weg zum Supermarkt war ein Auto ganz langsam hinter ihr hergefahren und im Büro hatte sie das Gefühl gehabt von einer Person durch das Fenster beobachtet zu werden. Nie war zu erkennen gewesen, wer er war, weil er den Schild seiner Basecap tief ins Gesicht gezogen hatte.

Sie bog links ab, beschleunigte ihre Schritte. Immer wieder schaute sie, ob die Gestalt ihr folgte, aber da war niemand. Vielleicht hatten ihre Gedanken einfach nur verrücktgespielt und die Gestalt war nur ein morgendlicher Spaziergänger wie sie. Sie marschierte weiter durch ein kleines Waldstück und gelangte schließlich zu einer schmalen Steinbrücke, die über einen zugefrorenen Teich führte. Vorsichtig hangelte sich am Brückengeländer entlang. Sie wusste, dass der Boden unter der dünnen Schneedecke gefroren war. Plötzlich hörte sie entfernt ein Krächzen, das sich schnell näherte. Schrill und aufgeregt. Sie duckte sich, als sie einen kalten Windhauch spürte und etwas über ihren Kopf hinwegschoss. Aus den Augenwinkeln nahm sie schwarze unförmige Kreise wahr, die alle in die gleiche Richtung flogen. Sie hob den Kopf und schaute auf die Eisfläche des Teichs. In der Morgendämmerung konnte sie einen schwarzen Haufen aus aufgeregt schlagenden Flügeln ausmachen. Was ist da?

Sie nahm Anton auf den Arm und näherte sich vorsichtig dem Teich. Je näher sie dem mysteriösen Schauspiel kam, umso lauter wurde das Kreischen der Vögel. Angst kroch in ihr hoch. Sie spürte, dass sich dort etwas Schreckliches ereignete. Sie war nur wenige Schritte entfernt, als sie erkannte, auf was die Brut einhackte. Auf der aufgebrochenen Eisschicht, halb im Wasser, lag eine Leiche mit dem Gesicht nach unten. Ein Mann, komplett schwarz gekleidet. Einige Raben saßen auf seinem Hinterkopf und hackten mit ihren blutigen Schnäbeln auf den Schädel ein. Anton begann auf ihrem Arm zu zappeln. Durch ihre Handschuhe konnte sie seinen schnellen Herzschlag spüren. Ihr wurde übel. Etwas an der Hand des Toten fiel ihr ins Auge, etwas, das sich sofort in ihr Bewusstsein brannte: ein auffallend großer goldener Ring mit einem eingefassten Amethysten.

Das ist … o mein Gott, das ist er!

Sie bewegte sich keinen Millimeter und starrte auf die Raben, die ein größeres Stück seines Ohrs abgehackt hatten und nun wild kreischend, mit flatterndem Gefieder darum kämpften. Während sie daran herumzerrten, fiel es mehrmals aus ihren Schnäbeln und hinterließ Blutflecken auf dem Eis.

Das ist dein Werk!, hörte sie auf einmal eine männliche Stimme in ihrem Kopf. Diese Stimme hatte sie schon sehr lange nicht mehr gehört. Sie begann zu zittern, ihr wurde übel. Sie übergab sich in den Schnee. Anton nutzte den Moment, um sich aus der Umklammerung zu befreien, sprang von ihrem Arm herunter und fing an, die Raben anzukläffen. Sie flogen nicht davon, sie wollten in ihrem Blutrausch noch mehr Fleisch. Die Beine sackten unter ihr weg und sie fiel auf den eiskalten Boden. Sie saß eine ganze Weile da. Die Kälte spürte sie nicht und auch das Kläffen von Anton und das Kreischen der Raben nahm sie nur noch wie durch Watte wahr.

Als der Hund an ihrem Ärmel zerrte, wurde sie wieder in die Realität zurückgerissen. Sie fingerte schnell ihr Smartphone aus der Tasche und wählte eine Nummer. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich am anderen Ende eine verschlafene Frauenstimme meldete: »Hannah, warum rufst du denn so früh an?«

»Du musst sofort kommen. Die kleine Brücke im Tiergarten … Da liegt die Leiche von Ku…« Mehr konnte sie nicht sagen. Sie japste nach Luft.

»Hannah! Hannah! Sag doch was!«

Das Telefon fiel aus Hannahs Hand in den Schnee.

Kapitel 2

Das gleißende Licht der Lampe blendete, und sie senkte ihre Lider.

»Bitte wieder öffnen!«, hörte sie die eindringliche Stimme des Arztes.

Sie befolgte, wenn auch etwas zögerlich, seine Aufforderung. Sie musste blinzeln und Wasser schoss ihr in die Augen. Eine Träne kullerte ihre rechte Wange hinab. Als das Licht ausgeschaltet wurde, sah sie für einen Moment verschwommen.

»Alles in Ordnung.« Der Arzt steckte die dünne Spaltlampe in die Tasche seines Kittels und setzte sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Er schaute in die Akten und notierte etwas. »EKG-Werte normal.« Er blickte auf und schaute zu der jungen Schwester, die vor einem Hängeschrank zwei schmale Behälter beschriftete. »Bis wann haben wir die Ergebnisse der Blutproben?«, fragte der Arzt.

Die Schwester drehte sich zu ihm um. »In zwei, drei Tagen«, antwortete sie und lächelte. Sie war hübsch – blond und noch recht jung.

»Gut«, erwiderte der Arzt. »Wenn Sie jetzt noch bitte diesen Fragebogen ausfüllen, Frau Schrader.«

Frau Schrader? Für einen Augenblick war ihr der eigene Name so fremd wie der Arzt und die Schwester. Sie stand von der Liege auf und nahm den Fragebogen entgegen. Durch das große Fenster hinter dem Schreibtisch starrte sie hinaus auf den weißen Sandstrand mit den sanft geschwungenen Dünen, auf denen vereinzelt vom Wind gebogene karge Sträucher wuchsen. Dahinter schimmerte blau das Meer. Dicht über der Wasseroberfläche glitten Möwen dahin. Wellen rollten heran und brachen und die Gischt wurde an den Strand gespült. Die schöne Szenerie löste bei ihr keine angenehmen Gefühle aus. Ihr Kopf fühlte sich so leer an.

Der Arzt reichte ihr einen Stift und sagte: »Sobald wir die Ergebnisse haben, können die klinischen Tests beginnen.«

Plötzlich wurde sie unruhig. Ihre Augen rollten in den Höhlen mehrmals hin und her. Ihr Blick fing das Waschbecken mit dem Spiegel in der Ecke des Raumes ein. Sie legte Fragebogen und Stift auf die Liege und lief wie ferngesteuert los.

»Frau Schrader?«, hörte sie den Arzt mit irritierter Stimme sagen. Sie blickte in den Spiegel und sah eine Frau in den Vierzigern. Im Kontrast zu ihrem blassen Teint stachen ihre blauen Augen besonders hervor. Wer bist du? Sie begann vorsichtig ihre Wangen, die Nase, die Stirn abzutasten, so als wollte sie sich selbst versichern, dass sie es war. Sofia. Dann fing sie an zu schreien. Sie sah hinter sich einen Mann stehen, der sie ausdruckslos anstarrte. Sein Gesicht war blutverschmiert. Sie schoss herum. Ihr Herz schlug bis zum Hals und sie atmete stoßartig. In ihren Augen lag Verzweiflung.

»Frau Schrader, was ist denn los? Soll ich ihnen ein Medikament geben?« Doch das gezwungen freundliche Lächeln der jungen Schwester, die vor ihr stand und jetzt die Hände auf ihre Schultern legte, wirkte nicht beruhigend. Im Gegenteil: Ihr Gesicht verzerrte sich, der Puls begann zu rasen, ihr Herz noch wilder zu schlagen. Schwindel überkam sie. Sie taumelte nach vorn, ihre Beine knickten ein und sie fiel der Schwester in die Arme.

Kapitel 3

Mein Gott, waren das wilde Zeiten gewesen: Jungs und Ausgehen, nichts anderes hatten sie und Inga im Sinn gehabt. Es hatte kein Wochenende gegeben, an dem sie nicht im Black Horse rumgehangen hatten – damals in den Achtzigern, als sie noch Teenager waren. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Inga hatte Charly, den Betreiber vom Black Horse, gut gekannt. Damit sie nicht um Mitternacht rausgeworfen wurden, hatte Inga ein einziges Mal mit ihm geschlafen, in seinem aufgemotzten VW Scirocco auf dem Parkplatz vor der Disco. Danach durften sie immer länger bleiben. Wenn gelegentlich die Polizei wegen Kontrollen aufgetaucht war, hatte er sie einfach im Getränkekeller versteckt.

Hannah saß am Fenster auf einem Stuhl. Ihr linker Arm hing schlaff an der Stuhllehne hinunter. In der anderen Hand hielt sie ihr Handy, auf dessen Anrufliste ganz oben der Name ihrer besten Freundin Inga stand. Ihr Kopf brummte noch immer und tat weh. Schmerz- und Beruhigungsmittel hatten einen Schleier über die schrecklichen Bilder im Tiergarten gelegt. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie einen alten grauen Transporter zwischen den anderen Autos auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus entdeckte. Er machte einen recht schäbigen Eindruck. Zwischen die Gedanken aus vergangenen Tagen drängte sich sofort ein anderes Bild: Der Fiat-Ducato-Kastenwagen mit der blauen Aufschrift Wäscherei Bader, bei dem die Buchstaben e und i halb abgeblättert und kaum mehr erkennbar waren. Sie hörte jetzt wieder das Quietschen der Türen beim Öffnen und das blecherne Geräusch beim Zuschlagen. Und dann sah sie nichts als Finsternis. Die Erinnerung beunruhigte sie und sie musste zweimal tief durchatmen.

»Hey, Hannah!«

Ihr Gedankenfluss riss ab. Inga stand mit einem Strauß violetter Blumen in der Tür. Die dunkle Strickmütze hielt sie in der anderen Hand. Ihre kurz geschnittenen braunen Haare standen in alle Richtungen ab.

»Gibt’s hier irgendwo eine Vase?«, fragte sie.

Hannah drückte sich mühsam vom Stuhl hoch und deutete zu einem Schrank neben dem Waschbecken. Ein stechender Schmerz fuhr ihr vom Nacken in den Kopf. Sie stöhnte kurz auf.

»Alles okay?« Inga schaut sie sorgenvoll an.

Hannah winkte ab: »Alles gut.« Sie ging zum Bett, schlug die Decke zurück, richtete das Kissen und setzte sich.

Inga öffnete den Schrank und nahm die Vase heraus. Sie platzierte die Blumen auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster. Schnell strich sie ihre Haare glatt, zog ihre kurze, dicke Bomberjacke und die festen Handschuhe aus und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Sanft streichelte sie Hannah über die rechte Wange. Ihre Hand fühlte sich warm an. »Du machst Sachen«, sagte sie, während sie den Druckverband auf Hannahs Stirn betrachtete.

»Ich hatte Glück. Gott sei Dank habe ich bei dem Sturz auf die Baumwurzel keine Gehirnerschütterung davongetragen. Der Arzt sagt, dass die Wunde nicht tief ist und bald verheilen wird. Er will mich heute noch hier behalten, zur Kontrolle.« Hannah blickte hinaus. Auf dem Ast des Baumes vor dem Fenster ließ sich ein schwarzer Vogel nieder. Die Angst stieg wieder in ihr hoch. »Was ist mit der Leiche?«

»Nachdem du mich angerufen hast, hab ich sofort die Polizei verständigt.« Inga sah kurz auf ihre abgekauten Nägel, bevor sie weitersprach. »Da war keine Leiche.«

»Was?« Hannah riss den Kopf zu ihr herum, was ihr einen erneuten Stich versetzte. Vor Schmerz verzog sie ihr Gesicht. »Das ist jetzt ein Witz, oder?«

»Nein«, antwortete Inga.

»Ich habe die Leiche gesehen. Ich bilde mir das nicht ein.« Hannah bemerkte, wie Inga ihrem Blick auswich.

Charlotte betrat den Raum. Sie sah müde, bleich und alt aus. Normalerweise wurde sie wegen ihrer jugendlichen Ausstrahlung, der schlanken Figur und der für ihr Alter straffen Haut für jünger als neunundsechzig gehalten. Ihr modischer Stil trug dazu bei. Charlotte reagierte sofort auf die angespannte Stimmung: Ihr Lächeln fror ein. Sie setzte an, etwas zu sagen, aber Hannah ließ sie nicht zu Wort kommen: »Inga glaubt, dass ich mir die Leiche eingebildet habe.«

»Das hab ich so nicht gesagt.« Inga erhob sie sich vom Bett.

Hannah ließ nicht locker: »Aber das glaubst du doch.«

Inga blickte zur Seite.

»Schatz«, sagte Charlotte. Hannah hasste den sorgenvollen Ton in der Stimme ihrer Mutter, die wegen der Grippe rau klang. Ihren mitleidsvollen Blick mochte sie auch nicht. Warum in aller Welt können wir nicht einmal normal und entspannt miteinander umgehen?

»Du denkst das doch auch!«, fuhr sie ihre Mutter an.

Charlotte hatte ihre Jacke auf dem Stuhl am Fenster abgelegt und trat jetzt ans Bett. »Komm erst mal wieder auf die Beine.« Sie legte beschwichtigend ihre Hand auf Hannahs Schulter, doch diese wehrte barsch ab.

»Es war Kuon«, platzte es aus ihr heraus.

»Das meinst du doch nicht im Ernst, Hannah.« Inga schaute entsetzt.

»Ja, du hast richtig gehört. Das war Kuons Leiche.«

»Hannah!« Charlottes Tonfall wurde schärfer.

Doch Hannah fuhr davon unbeirrt fort: »Er trug diesen Ring, Inga, du weißt schon welchen. Den Ring hab ich kein zweites Mal gesehen.«

»Fang nicht wieder damit an!« Inga klang ein wenig wütend.

»Kuon sitzt hinter Gittern. Das wissen wir alle«, sagte Charlotte emotionslos.

»Bist du dir da so sicher?«, entgegnete Hannah. »Das ist über zwanzig Jahre her. Wer weiß, vielleicht wurde er bereits aus der Haftanstalt entlassen und läuft wieder frei herum.«

»Und was sollte er hier in Berlin wollen?« Inga wirkte gereizt. Man merkte ihr an, dass es ihr nach all den Jahren immer noch schwerfiel, darüber zu reden.

»Erinnerst du dich an den Mann, von dem ich dir erzählt habe – der mir nachstellt?«

Inga nickte.

»Was, wenn das Kuon ist?«

»Okay, wenn das so ist, warum liegt dann seine Leiche im Tiergarten? Das ergibt für mich keinen Sinn.«

Hannah dachte über Ingas Einwand nach. Irgendwie hatte sie Recht. Das ergab tatsächlich wenig Sinn. Aber angenommen, das mit der Leiche war wirklich nicht real und sie hatte sich das alles nur eingebildet. Was bedeutete das dann? Der Beginn einer Schizophrenie? Waren das die Spätfolgen ihres Traumas? Eine Gedanke, bei dem ihr übel wurde.

»Hannah, du musst aufhören, uns alle verrückt zu machen und die Vergangenheit ruhen lassen.« Der Satz ihrer Mutter klang fast wie ein Flehen. »Das, was du gesehen hast, das gab es nicht.«

Kapitel 4

Hannah betrat den Saal im Institut für Forensische Psychiatrie ganze zehn Minuten zu spät. Das Kolloquium hatte bereits begonnen. Einige der Anwesenden drehten die Köpfe, als sie durch den Mittelgang zu ihrem Platz in der dritten Reihe schlich und sich neben ihren Kollegen Doktor Marc Leutner setzte.

Marc grinste boshaft. Doktor Claudia Jessel war durch Hannahs verspätetes Erscheinen mit ihrem Vortrag »Die Behandlung entlassener Sicherungsverwahrter in der Forensisch-Therapeutischen Ambulanz« kurz ins Stocken geraten. Jetzt warf sie einen bösen Blick in ihre Richtung, bevor sie sich einmal räusperte und dann fortfuhr.

»Ein weiterer Abzug in der B-Note«, säuselte Marc ihr scherzhaft ins Ohr. Normalerweise schoss Hannah zurück. Sie und Marc hatten daraus ein richtiges Spiel entwickelt: ein pingpongartiger Schlagabtausch. Heute erwiderte sie nichts. Sie war in Gedanken. Eigentlich hatte sie sich nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus zuhause noch einen Tag ausruhen wollen, aber wenn ihre Chefin einen Vortrag hielt, war es besser zu erscheinen.

»Wie ist das denn passiert?«, fragte Marc leise, als er das Pflaster auf ihrer Stirn bemerkte. »Eine schiefgelaufene Botox-Behandlung?«, zog er seine Frage gleich wieder ins Lächerliche. Von dem Unfall und ihrem Aufenthalt im Krankenhaus wusste er noch nichts. Bis gestern war er mit seiner Familie auf einem Kurztrip in Paris gewesen. Solche Familienurlaube konnten in Stress ausarten, dachte Hannah. Er sah aber erholt aus und war sogar leicht gebräunt, was sein Gesicht mit der markanten Nase und den tiefen männlichen Furchen um seinen Mund noch attraktiver machte.

Hannah schaute ihn einen Moment lang entgeistert an, dann rang sie sich ein Lächeln ab und antwortete: »Erzähl ich dir nachher.« Von der ersten Minute an konnte sie sich nicht auf den fünfundvierzigminütigen Vortrag konzentrieren. Die ganze Zeit geisterte ihr der Vorfall im Tiergarten durch den Kopf.

»Mein Gott, war das wieder öde. Kein Wunder, dass man der Jessel bisher keine Professur angetragen hat. Aber jetzt erzähl! Was ist passiert?«, fragte Marc neugierig, als sie den Saal verließen und über den langen grauen Flur im ersten Stock ihr Büro ansteuerten.

Hannah erzählte ihm, was passiert war, nachdem sie das Büro betreten und sich gesetzt hatten.

»Das ist ja starker Tobak!« Er zwirbelte eine Locke seines dunklen Haars zwischen Daumen und Zeigefinger, was er immer dann tat, wenn er über etwas nachdachte. »Hast Du eine Vermutung?«, fragte er nach einer Weile.

Sie dachte, dass er sich zu keiner Spekulation hinreißen lassen wollte und den Ball in ihr Feld spielte. »Ich kann mir keinen Reim auf die Sache machen.«

Marc kannte, wenn auch nicht im Detail, Hannahs Geschichte. Er setzte einen analysierenden Blick auf.

»Schau mich nicht so an! Ich weiß, du denkst, dass das mit meiner Vergangenheit zu tun hat. Daran habe ich auch bereits gedacht. Aber es ist nicht pathologisch.«

Marc schwieg, was Hannah so interpretierte, dass er alle Optionen für möglich hielt – auch eine psychische Erkrankung. Hannah konnte ihm deswegen nicht böse sein. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass dies eine Möglichkeit war.

»Wenn du dir die Sache nicht eingebildet hast, warum gab es dann keine Leiche?«

Diese Frage trieb Hannah auch schon die ganze Zeit um. Sie zuckte mit den Schultern.

»Wurde sie vielleicht von jemandem weggeschafft?«, führte Marc den Gedanken fort.

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber von wem?«

»Logischerweise von demjenigen, der Kuon ermordet hat – wenn er ermordet wurde.«

»Richtig. Wenn es keine Leiche gibt, dann gibt es auch keinen Mord«, erwiderte Hannah nachdenklich.

»Du hast diesen unbekannten Mann erwähnt, diesen möglichen Stalker. Wenn es nicht Kuon war, dann könnte ein anderer dahinterstecken.«

Als forensische Psychologin hatte sie schon mit einigen Stalkern zu tun gehabt. Am Institut beschäftigten sich sie und ihre Kollegen besonders mit Fällen von solchen, die straffällig geworden waren. Studien bestätigten, dass besonders Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen einem hohen Risiko ausgesetzt waren, selbst Opfer von Stalkern zu werden.

Marc ließ die eine Locke los und nahm eine andere zwischen seine Finger. »Hat die Polizei den Tatort nicht nach Spuren untersucht?«

»Ja, hat sie, aber nichts gefunden. Sie verfolgen den Fall nicht weiter.« Sie machte eine kurze Pause. »Was, wenn sie etwas übersehen haben?«

»Wenn du dir so sicher bist, dass es eine Leiche gab, dann solltest du als erstes herausfinden, was mit diesem Kuon passiert ist«, sagte Marc.

Hannah nickte.

Marc griff in seine braune abgewetzte Aktentasche und zog eine Flasche Whiskey heraus. »Wir sollten uns dabei nicht erwischen lassen.« Er grinste. »Das ist ein erstklassiger Whiskey: Mackmyra, aus einer schwedischen Destillerie, von meinem Vater zu meinem Dreiundvierzigsten.«

»O nein, hab ich schon wieder deinen Geburtstag vergessen?« Hannah hielt sich peinlich berührt die Hand vor den Mund.

»Wie jedes Jahr, Chérie.« Er schraubte die Flasche auf, holte zwei Gläser aus dem Rollcontainer unter seinem Schreibtisch und schenkte ein.

Hannah lächelte, sagte »Happy Birthday« und kippte den Whiskey hinunter.

»Noch einen?«, fragte Marc.

Hannah nickte und Marc schenkte nach. Ein wohliges Gefühl der Entspannung stellte sich ein.

Kapitel 5

Hannah verließ das Institut für Forensische Psychiatrie am späten Nachmittag und stieg in ihren alten Citroen 2CV, den sie bereits zu Uni-Zeiten besessen hatte. Obwohl die Ente allmählich den Geist aufgab und es äußerst schwierig war, Ersatzteile zu beschaffen, konnte sie sich schwer von dem Fahrzeug trennen. Deshalb nahm sie gern in Kauf, dass der 2CV häufig nicht ansprang, auch mal liegenblieb und es durch alle Öffnungen hereinpfiff, was besonders jetzt im Winter äußerst unangenehm war. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, sich von ihrer geliebten Kiste zu trennen. Bis dass der Tod euch scheidet – oder ein Totalschaden –, galt auch für die innige Liebe zu ihrem Wagen. Außerdem hegte sie nostalgische Gefühle beim Gedanken an ihre Studentenzeit, die nach ihren schrecklichen Teenagertagen eine Befreiung gewesen war: eine Zeit wilder Partys mit viel Alkohol und Drogen, eine Zeit des Vergessens.

Sie zog den Kaltstarter und drückte das Gaspedal. Sie musste diesen Vorgang mehrmals wiederholen, bis das Auto schließlich ansprang. Sie zog die Revolverschaltung im Armaturenbrett heraus, drehte, legte den ersten Gang ein und fuhr in Richtung Tiergarten los. Während der Fahrt ging sie noch einmal die Ereignisse durch, doch sie fand keine Lösung, egal wie sie die Dinge auch drehte und wendete. Sie musste an Marc denken, der noch ein, zwei Stunden im Institut sitzen würde, bevor auch er nach Hause ging. Sie dachte daran, wie er sie den ganzen Tag über immer wieder mit seinem eindringlichen Blick bedacht hatte. Sie wusste, dass er der Sache mit der Leiche äußerst skeptisch gegenüberstand und wohl eher an den Beginn einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung dachte. Er musste nur eins und eins zusammenzählen: das traumatische Erlebnis als Jugendliche, ihren Hang zu Alkohol, von dem er wusste und den sie vor ihm auch im Büro nicht verbergen konnte, ihre Paranoia verfolgt zu werden. Hätte er gewusst, dass sie nicht nur Marihuana rauchte, sondern auch gelegentlich Ketamin-Kristalle schnupfte, die ihr, wenn auch nur für eine Stunde, tiefen innerlichen Frieden verschafften, wäre er womöglich gleich mit der Diagnose schwere posttraumatische Störung, beginnende Schizophrenie zur Hand gewesen.

Sie erreichte den Tiergarten, parkte den Wagen in einer Parkbucht am Rande des Parks und lief zu der Brücke, wo sie die Leiche gesehen hatte und ohnmächtig geworden war. Sofort lief ihr ein Schauer über den Rücken, als sie die Stelle erreichte. Es war jetzt kurz vor sechzehn Uhr und in nicht einmal einer halben Stunde würde es dunkel werden. In den letzten beiden Tagen war wieder Schnee gefallen. Ihr war klar, dass dadurch alle Spuren verwischt worden waren. Eigentlich war es überhaupt sinnlos hier zu sein, da sie nicht einmal wusste, wonach sie suchte. Sie ging in die Knie und betrachtete eingehend den Boden, dann begann sie den Schnee mit ihren behandschuhten Händen großflächig wegzuschaufeln. Doch sie fand nichts. Das Loch im Eis war bereits zugefroren. Sie zuckte zusammen, als sie eine Krähe dicht über ihrem Kopf krächzen hörte. Das Viech flog weiter und verschwand irgendwo im Gehölz.

Im Laufe ihres Berufslebens hatte sie schon etliche Täterprofile erstellt und es gehörte zu ihren Aufgaben, sich in den Kopf eines Psychopathen zu versetzen. Doch hier gab es keine Leiche, die Rückschlüsse auf den Täter erlaubt hätte. Trotzdem versuchte sie einen möglichen Tathergang zu rekonstruieren. Sie stand auf, klopfte sich den Schnee von den Handschuhen und schaute zu der Brücke und dem kleinen Pfad, der zum Ufer des Teichs hinabführte. Nach ihren Überlegungen gab es mehrere Szenarien, wie die Leiche hierhergelangt sein konnte. Sie hatte das schon mehrmals durchgespielt, aber jetzt war ihre Vorstellung viel plastischer.

Szenario eins war das Unfallszenario: Kuon war so wie sie in den frühen Morgenstunden im Park unterwegs gewesen, war über die Brücke gekommen, tödlich gestürzt oder einem Herzanfall erlegen. Aber warum hatte sie ihn unten am Teich aufgefunden? Dass er dort hinuntergerollt war, war mehr als unwahrscheinlich, denn es gab kaum Gefälle. Vielleicht war er hinuntergelaufen. Aber was hatte er dort unten gewollt? Außerdem: War es nicht ein völlig unwahrscheinlicher Zufall, dass gerade sie ihn an jenem Morgen gefunden hatte? Ein bloßer Unfall schien ihr deshalb mehr als fraglich.

In Szenario zwei war Kuon das Mordopfer und der Täter hatte ihm im Tierpark aufgelauert und ihn dort getötet. Allerdings war ihm dabei Hannah in die Quere gekommen und er hatte die Leiche erst wegschaffen können, nachdem sie in Ohnmacht gefallen war. Dies erklärte auch die unbekannte Gestalt, die sie am Morgen im Park gesehen hatte. Szenario zwei erschien ihr schon deutlich logischer als das erste Szenario.

Aber was, wenn der Tote gar nicht Kuon gewesen war? Vielleicht hatte der Mann, dessen Gesicht sie nicht erkannt hatte, nur einen ähnlichen Ring getragen wie er. Das hätte längst verdrängte Gefühle und Bilder hervorholen und sie zu den falschen Schlüssen führen können. Szenario drei war also eine durchaus vorstellbare Variante.

Szenario vier – Halluzinationen als Symptom einer beginnenden Schizophrenie – wollte sie nicht gelten lassen, auch wenn der Fakt einer fehlenden Leiche diese Möglichkeit am wahrscheinlichsten machte. Sie musste deshalb vorsichtig sein, ihre Vermutungen weiter lautstark zu verbreiten, bevor sie nicht einen Beweis oder ein Indiz in Händen hielt, etwas, das die Existenz einer Leiche belegen würde. Sonst würde man sie am Ende wirklich für verrückt erklären. Marc hatte recht: Es galt sich Gewissheit über Kuon zu verschaffen. Morgen würde sie in der Haftanstalt anrufen, aus der er möglicherweise entlassen worden war. Schon morgen würde sie Gewissheit haben. Sie fröstelte und zog ihren Parker enger zusammen. Die Nacht schien besonders kalt zu werden.

Kapitel 6

»Minus 23,4 Grad – die kälteste Winternacht seit zwanzig Jahren«, schepperte am Morgen die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem kaputten Lautsprecher des kleinen alten Fernsehers mit dem schlammbraunen Holzchassis, der über dem Tresen hing. Der letzte Gast war zehn Minuten zuvor stocktrunken aus der Bar in die eiskalte Nacht hinausgetorkelt. Hoffentlich fällt der alte Mann nicht wieder hin und bricht sich was, dachte Lara. Im letzten Jahr hatte man ihn halb erfroren auf der Straße aufgelesen. Er war Stammgast und wohnte in der Nachbarschaft. Joey´s Pub war nicht nur für ihn die einzige Anlaufstelle, sondern auch für andere einsame Seelen. Lara kannte fast jeden Gast mit Namen. Die meisten Gäste, hauptsächlich Männer, kamen täglich und da sie sonst kaum Freunde außerhalb des Pubs hatten, waren die anderen Trinkbrüder ihre Familie.

Vor vielen, vielen Jahren, als Lara noch hochfliegende Pläne und Träume hatte, hätte sie sich nie im Leben ausgemalt, einmal als Thekenkraft mit tiefem Ausschnitt in einer verrauchten Eckkneipe zu landen. Früher war sie einmal schlank und weniger üppig gewesen, jetzt mit fortschreitendem Alter hatte sie reichlich Speck angesetzt und der Umfang ihrer Brüste beachtlich zugelegt, was in so einem Etablissement ein klarer Vorteil war, besonders wenn es ums Trinkgeld ging. Sie arbeitete schon eine kleine Ewigkeit in der Bar, wie viele Jahre konnte sie schon gar nicht mehr sagen. Sie polierte noch ein paar Gläser und wischte den Tresen sauber, bevor auch sie sich ihren Mantel überwarf, die Lichter löschte, abschloss und hinaus in die Kälte trat.

Wie an den Tagen zuvor fielen auch in diesen Stunden dicke Flocken vom Himmel, so dass man beinahe die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Sie wurde sofort von dicken Schneeflocken eingehüllt, während sie zu ihrem Wagen in der kleinen Seitenstraße stapfte. Innerhalb von Sekunden legte sich eine weiße Schicht auf ihre Kleidung. Der kleine blaue schon sehr in die Jahre gekommene Hyundai lag unter Schneemassen begraben. Weil sie ihre Handschuhe in der Bar vergessen hatte und sich die Finger nicht abfrieren wollte, zog sie die Ärmel ihres Mantels über die Hände und wischte mit ihren Unterarmen die Scheiben notdürftig frei. Hoffentlich geht die Karre auf. Sie musste mit dem Schlüssel ein paarmal im zugefrorenen Schloss herumruckeln, doch dann konnte sie die Tür öffnen. Sie setzte sich hinters Steuer und startete den Motor. Ohne zu stottern, lief er an und schnurrte dabei wie ein zufriedenes Kätzchen. Gut, dass sie vor Beginn der Kälteperiode noch die Batterie gewechselt hatte. Sie schaltete das Gebläse und die Heizung auf höchste Stufe, damit die Scheiben enteisten und so dauerte es nur einen Moment, bis sie freie Sicht hatte und losfahren konnte.

Vorsichtig steuerte sie den Hyundai über die matschigen Straßen und fuhr weiter zur Bundesstraße Richtung Eberswalde. Obwohl die Fahrbahn einigermaßen geräumt war, kam sie nur langsam voran. Der dichte Schneefall behinderte die Sicht. Sie musste sich höllisch konzentrieren, weil sie nur wenige Meter sehen konnte. In diesem Schneckentempo brauche ich eine Ewigkeit, fluchte sie innerlich vor sich hin. Ab und zu schälten sich aus den Schneewehen vor ihr die blinkenden orangefarbenen Rundumleuchten der sie überholenden Winterdienstfahrzeuge. Sie fuhr eine Weile, dann bog sie auf die Landstraße ab.

Sie schob eine CD mit ruhiger Musik in den Schacht des CD-Players. Die Anspannung fiel nicht so schnell von ihr ab wie sonst. Am Abend hatte es mal wieder nach längerer Zeit eine schwere Schlägerei in der Bar gegeben und sie hatte die Polizei rufen müssen. Außerdem hatte sie Ärger mit Loretta, der Besitzerin von Joeys´s Pub, die ihr unterstellte, dass sie ein Auge auf ihren Lebensgefährten Freddie geworfen hätte. Dieser Nichtsnutz, der immer ab zweiundzwanzig Uhr in der Bar abhing und sich als Chef aufspielte, nachdem er die Tageseinnahmen von Loretta in einem Wettbüro verspielt hatte, war ihr tatsächlich nachgestiegen. Nicht einmal mit der Kneifzange würde sie diesen alten, widerlichen Trunkenbold anfassen, aber so drastisch konnte sie das Loretta natürlich nicht sagen, die ihn aus unerfindlichen Gründen liebte.

Das gelbe Straßenschild Eberswalde neun Kilometer kurz vor dem Waldstück, durch das sie jetzt fuhr, hatte sie nur unterbewusst registriert. Sie erschrak ein wenig, als auf einmal ihr Handy dumpf in der Handtasche klingelte. Wer ist denn das? Sie drehte die Musik leiser, nahm die Tasche vom Beifahrersitz und kramte darin nach ihrem Telefon. Sie starrte auf das erleuchtete Display, das Unbekannt anzeigte. Normalerweise ging sie dann nicht ran. Sie konnte es nicht leiden, wenn Leute sich nicht zu erkennen gaben und die Nummer unterdrückten. Sie ließ den Anrufer dann erst einmal auf die Mailbox sprechen. Aber um diese Uhrzeit hatte sich entweder jemand verwählt oder es musste etwas ganz Dringliches sein. Sie zögerte kurz, ließ es noch zweimal läuten, dann nahm sie ab. Zunächst war es ganz still in der Leitung. Hallo? Sie wollte schon wieder auflegen, doch dann knackste es einmal und sie vernahm ein Keuchen. Wollte sie da jemand verarschen? Oder war das irgendein Perversling? War das vielleicht dieser Idiot Freddie? Sie wollte schon ins Telefon brüllen, überlegte es sich aber noch einmal anders und legte einfach auf. Sie platzierte das Handy auf der Ablagefläche des Armaturenbretts. Einen Moment starrte sie noch darauf, weil sie erwartete, dass der unbekannte Anrufer erneut anrief, aber das Telefon blieb still. Sie drehte die Musik wieder lauter und summte das Lied mit, das gerade lief. Einige Minuten später hatte sie den Anruf bereits vergessen. Es schneite nicht mehr ganz so stark und so konnte sie in der Ferne hinter dem Waldstück bereits die Lichter der Tankstelle erkennen. Jetzt war es nicht mehr weit. Sie freute sich schon auf ihr Bett.

Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als hinter ihr zwischen den Schneewehen die Lichter eines Wagens auftauchten. Das Fahrzeug schoss für die Straßenverhältnisse ungewöhnlich schnell heran und bedrängte sie mit der Lichthupe. Ihre beiden Stoßstangen trennte nur noch ein halber Meter. Ist der verrückt? Sie drehte sich um, schimpfte: »Fahr vorbei, du Idiot!«, und zeigte ihm den Mittelfinger. Dann drosselte sie das Tempo, doch er überholte nicht, sondern blieb weiter an ihr kleben. Sie schaute in den Rückspiegel und konnte schemenhaft die Umrisse des Fahrers erkennen. Er trug eine Basecap. Freddie stülpte sich auch immer diese Basecaps über sein fettiges langes Haar. Aber soweit sie erkennen konnte, hatte der Fahrer keine langen Haare. Adrenalin schoss in ihr Blut und ihr Herz pochte laut. Nichts wie weg hier! Nur noch einen Kilometer bis zum Ortsschild.

Sie drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die Räder drehten durch, wirbelten den Untergrund auf und schleuderten dem Fahrer eine Masse aus Schnee und kleinen Kieselsteinen auf die Windschutzscheibe. In ihrer Panik vergaß sie jedoch, dass die Straße nur schlecht geräumt war. Obwohl die Strecke gerade war, geriet ihr Fahrzeug gefährlich ins Rutschen, kam von der Straße ab und schrammte die Leitplanke. Metall kreischte und Funken schossen durch die Nacht. Hektisch riss sie das Steuer herum und kam wieder auf die Spur. Sofort nahm sie den Fuß vom Gaspedal. Der Wagen rollte aus und kam zum Stehen. Ihr Adrenalinspiegel war am Anschlag, ihr Puls trommelte. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und atmete tief durch. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie im Spiegel noch die grell leuchtenden Scheinwerfer des Fahrers, die wie Irrlichter auf sie zurasten, bevor er mit voller Wucht auf sie drauf krachte. Ein lauter Knall, das Knacken der Stoßstange, das Ächzen von Metall. Sie wurde brutal nach vorn geschleudert. Der Sicherheitsgurt zog an, sie spürte einen stechenden Schmerz im Brustkorb und ihr Gesicht versank im Airbag, der aus dem Lenkrad hervorschoss. Dann war es vorbei.

Für eine kurze Zeit fiel sie in einen ohnmachtsähnlichen Taumel, bis ihr bewusst wurde, dass sie noch lebte. Sie lebte! Sie stützte ihre Arme gegen das Armaturenbrett und drückte sich nach hinten. Vorsichtig mit zitternden Fingern tastete sie ihr Gesicht ab. Gott sei Dank. Sie war unverletzt, kein Blut, keine Prellungen. Erleichtert atmete sie auf. Sie blickte in den Rückspiegel: Kein Licht war zu sehen in der stockdunklen Nacht. Wo war der andere Wagen abgeblieben? Mit zitternden Händen drehte sie den Schlüssel im Zündschloss. Der Motor sprang sofort wieder an. Gott sei Dank, jetzt nur schnell wegfahren. In dem Moment als sie den Gang einlegte, hörte sie, wie die Fensterscheibe neben ihr mit einem lauten Knall zerbarst, und kleine Bruchstücke Sicherheitsglas rieselten auf sie nieder. Sie nahm den Schatten an der Tür wahr, riss den Kopf zur Seite. Kalte Luft strömte ins Innere des Wagens, vermischt mit einem Geruch, der so gar nicht zu der Reinheit der kalten Luft passte: der Duft eines ungewöhnlich herben Parfums.

Kapitel 7

Professor Frenzen, der Leiter der Curtius Klinik für Psychosomatische Erkrankungen, saß auf seinem schwarzen Ledersessel in dem ansonsten weiß gehaltenen Raum. Er war mittleren Alters, trug ein dunkles figurbetontes Jackett, dazu ein weißes Hemd, der obere Knopf geöffnet. Sein braunes Haar war weder modisch noch besonders elegant, aber akkurat kurz geschnitten. Wie ein Versuchsobjekt musterte er sie mit seinen wachen Augen hinter seiner schmalen Hornbrille. »Alles, was das Ergebnis verfälschen könnte, ist während der Durchführung der Studie tabu. Also: keine Einnahme von Medikamenten, kein Alkohol oder sonstige Drogen. Mögliche Nebenwirkungen des neu entwickelten Medikaments können nach bisherigem Stand kurzzeitige Ausfälle des Kurzzeitgedächtnisses sein. Die Symptome sind aber vorübergehend.«

Sofia wollte etwas erwidern, aber sie brachte keinen Ton heraus. Ihr Mund war trocken.

»Bringen sie Frau Schrader doch bitte ein Glas Wasser«, sagte Frenzen, der das bemerkte.

»Natürlich«, entgegnete die junge Schwester, die Sofia bereits kannte. Sie verließ den Raum.

Frenzen deutete mit der Hand auf die Frau, die neben ihr saß. »Doktor Renate Milor. Sie ist Neurobiologin und leitet die Studie.«

Das streng geschnittene schwarze halblange Haar von Doktor Milor stand in Kontrast zu ihrem hellen fast faltenlosen Gesicht. Eine Einschätzung ihres Alters war schwierig. Sie mochte zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig Jahre alt sein.

Doktor Milor wandte ihren Kopf zu Sofia, lächelte ihr zaghaft zu und sagte: »Eine klinische Prüfung bei einer Studie vor einem Jahr hat gezeigt, dass der von uns entwickelte Wirkstoff mit dem Namen ZIP in Verbindung mit dem Betablocker Propranolol positiven Einfluss auf tief verankerte Angsterinnerungen und damit gekoppelte negative Emotionen nehmen kann. Wenn die klinische Prüfung mit der größeren Versuchsgruppe sich jetzt als erfolgreich herausstellt und das Medikament bezüglich seiner Wirksamkeit und Unbedenklichkeit positiv bewertet wird, sehen wir uns in der Lage, Einfluss auf die Gedächtnisbildung nehmen zu können.«

»Umgangssprachlich ausgedrückt: wir wären dann imstande schädliche Gedächtnisinhalte in einem Gehirn zu löschen«, fasste Doktor Frenzen kurz zusammen. Ein gewisser Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Am Ende stünde uns ein probates Mittel zur Verfügung, um ein posttraumatisches Stresssyndrom erfolgreich zu behandeln«, ergänzte Doktor Milor.

Frenzen stand vom Stuhl auf, ging zu seinem Schreibtisch und warf einen Blick in eine geöffnete Akte. »Ihrer Anamnese nach sind sie für unsere Studie die ideale Probandin.« Er blickte auf und starrte sie über den Rand seiner auf die Nasenspitze gerutschten Brille an. Dann sagte er: »Erinnerungen sind nicht für ewige Zeiten in Stein gemeißelt, Sofia. Sie gleichen viel eher flüchtigen Dokumenten von Textprogrammen, die man sich gelegentlich auf den Bildschirm holt, ein bisschen bearbeitet und dann neu abspeichert. Das Gedächtnis wird jeden Tag neu geboren. Diese Chance eines Neuanfangs wollen wir Ihnen geben.«

Kapitel 8

NEUANFANG