Über den Autor

Rahim Taghizadegan ist Wirtschaftsphilosoph, Unternehmer und Rektor des scholarium in Wien. Nach zahlreichen Lehraufträgen, u. a. an der Universität Liechtenstein, der Wirtschaftsuniversität Wien und der Universität Halle, ist er derzeit Dozent an der University of Applied Sciences in Krems und der Internationalen Akademie für Philosophie in Liechtenstein. Er ist mehrfacher Bestsellerautor und gefragter Redner, insbesondere zum Thema Unternehmertum und der Österreichischen Schule der Ökonomie. Mit seinem Titel Österreichische Schule für Anleger war er für den Deutschen Finanzbuchpreis 2015 nominiert. Außerdem erschienen im FinanzBuch Verlag Wirtschaft wirklich verstehen und Helden, Schurken, Visionäre.

ÜBERBLICK UND
GESCHICHTE

Was ist die Österreichische Schule der Nationalökonomie?

Die Österreichische (oder Wiener) Schule der Nationalökonomie (oder -ökonomik) ist eine wirtschaftswissenschaftliche Tradition, die auf Carl Menger und dessen Schüler zurückgeht. Die Bezeichnung wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts geprägt, als der Unterschied in der Herangehensweise der Wiener Ökonomen im Gegensatz zu Fachkollegen an anderen Orten, insbesondere Berlin, offensichtlich wurde. Diese Tradition wurde sogleich als Schule angesehen, weil Carl Menger ein besonders erfolgreicher Lehrer war: Er war insgesamt an 20 Habilitationen beteiligt (von seinen Schülern wurden also so viele wiederum zu Dozenten). Plötzlich häuften sich in Wien kompetente Ökonomen, die deutlich anders dachten und schrieben als Ökonomen an anderen Universitäten.

Was unterschied die Wiener Ökonomen von Berliner und anderen Ökonomen?

In Berlin war damals die Historische Schule dominant, die davon ausging, dass es ökonomische Gesetzmäßigkeiten, die für alle Menschen richtig sind, gar nicht geben könne. Vielmehr seien alle ökonomischen Phänomene kulturell und historisch bestimmt, ob als Verkettungen geschichtlicher Zufälle oder als Ausdruck eines spezifischen »Volksgeists«. Die führenden Berliner Ökonomen der Zeit waren marktfeindlich, da sie den »Krämergeist« für »undeutsch« hielten. »Deutsch« sei das Heldentum, und das habe nichts mit dem individuellen Streben nach Verbesserung der eigenen Lage zu tun. Sie plädierten für einen starken Staat, der die Wirtschaft nach außerwirtschaftlichen Erwägungen zu führen und kontrollieren habe. Daher nannte man diese Ökonomen auch »Kathedersozialisten« und das »geistige Leibregiment des Hauses Hohenzollern«. Die Wiener Ökonomen hingegen wollten die Realität beschreiben und sich zunächst der Werturteile enthalten. Sie waren davon überzeugt, dass es eine Logik des menschlichen Handelns gebe, die von Rasse, Klasse und utopischen Wunschvorstellungen unabhängig sei.

Warum gerade in Wien?

Das Wien des 19. Jahrhunderts erlebte eine wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Blüte. Es war Zentrum des Orienthandels und zugleich Zentrum der späten Modernisierung und Industrialisierung Zentraleuropas. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten hier fast zwei Millionen Menschen, ungefähr so viele wie heute. Wien war damals die größte deutschsprachige Stadt und die fünftgrößte Stadt der Welt. Zwar war Wien Sitz der Verwaltung der Habsburgermonarchie, doch der größte Teil der prunkvollen Bausubstanz geht auf bürgerliche Unternehmer und Stifter zurück. In den Salons der Stadt trafen, wie ein Jahrhundert zuvor in Schottland, Unternehmer auf Wissenschaftler und Künstler. Zudem waren im Schmelztiegel Wien alle Extreme der Zeit direkt beobachtbar – man sprach davon, dass Wien »die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält«, sei. Wien wurde zum Zentrum einer späten Aufklärung, die der schottischen Aufklärung viel näher war als der französischen. Diese österreichische Aufklärung zeigte sich wie die schottische insbesondere in realistischer Sozial- und Wirtschaftswissenschaft.

Österreichische oder Wiener Schule? Der Nationalökonomie oder der Ökonomik?

Die Bezeichnungen Wiener und Österreichische Schule wurden von Beginn an synonym verwendet. Im englischen Sprachraum ist allerdings fast nur von »Austrian School« die Rede, daher überwiegt heute auch im Deutschen das Etikett »Österreichisch«. Für Letzteres spricht, neben dem englischen Sprachgebrauch, auch der Umstand, dass es nicht nur Wiener waren, die in der Österreichischen Schule wirkten. Nach heutiger Benennung waren es aber auch nicht nur Österreicher. Das alte Österreich war eine zentraleuropäische Vielvölkermonarchie: Mengers Geburtsort liegt im heutigen Polen, Böhm von Bawerks Geburtsort (wie der von Hayeks Großvater) im heutigen Tschechien, Mises’ Geburtsort in der heutigen Ukraine. Das heutige Österreich hat mit dem alten Österreich sehr wenig gemein, noch weniger als das heutige Wien mit dem alten Wien. Wiener Schule ist auf Deutsch kürzer und die Bezeichnung nach dem historischen Zentrum weniger irreführend als die Bezeichnung nach den Habsburgischen Erblanden, die der heutigen Republik den Namen gaben.

Nationalökonomie ist die altertümliche Bezeichnung der Volkswirtschaftslehre – »national« verdeutlicht den Gegensatz zur Betriebswirtschaft. Die heutige Volkswirtschaftslehre hat jedoch wenig mit dem Zugang der Wiener Schule gemein. Auf Englisch ist von »Austrian School of Economics« die Rede, und das Englische unterscheidet sauberer als das Deutsche zwischen economy – Wirtschaftraum – und economics – Wirtschaftswissenschaft. Im Deutschen müsste man analog von Ökonomie und Ökonomik sprechen. Aufgrund des individualistischen (und nicht nationalistischen) Zugangs der österreichischen Ökonomen wäre die korrekteste Bezeichnung für ihre Denktradition »Wiener Schule der Ökonomik«. Im Weiteren werde ich nur noch von Wiener Schule sprechen; es gab allerdings zahlreiche »Wiener Schulen« – etwa der Musik oder der Kunstgeschichte –, darum ist der Zusatz »der Ökonomik« stets dazuzudenken.

Auf welchen Werten beruht die Wiener Schule?

»Werte« im herkömmlichen und ethischen Sinne, nämlich Werthaltungen, also Prinzipien, Überzeugungen und Maßstäbe, sind etwas anderes als ökonomische Werte. Die Wiener Schule beruht auf den Werthaltungen, dass Erkenntnis möglich und wünschenswert ist, dass die Freiheit des Menschen möglich und wünschenswert ist und dass sich in einem freien Wettstreit der Argumente die besseren durchsetzen mögen – unabhängig davon, ob die Schlüsse Beifall finden, lukrativ sind oder eigenen Interessen günstig. In ihrem persönlichen Leben haben die meisten Vertreter der Wiener Schule gezeigt, dass für sie Integrität und Wahrheitsstreben besonders wertvoll waren, auch im ökonomischen Sinne – dass sie also bereit waren, dafür Einkommen und Prestige aufzugeben.

Mal ehrlich, waren die Vertreter der Wiener Schule wirklich alle so heldenhaft?

Die Vertreter der Wiener Schule waren und sind keine Übermenschen. Dieses Buch soll in eine zu Unrecht vergessene Tradition einführen, keine biografische Detailanalyse sein noch eine Hagiografie. Auch Vertreter der Wiener Schule irrten und waren nicht frei von menschlichen Schwächen. Diese können aber nicht Gegenstand einer ersten, positiven Darstellung sein. Die positive Darstellung ist nicht parteiisch gemeint, sondern als einfacher Überblick. Mögliche Kritikansätze würden die Darstellung zu sehr verkomplizieren.

Ökonomik ist als Teil der praktischen Philosophie eine ständige Übung, die von ihren jeweiligen Ausübenden zu trennen ist. Die Wiener Schule wird hier herausgegriffen, weil das Etikett, bei aller Verkürzung, die Aufmerksamkeit auf eine historische Verdichtung realistischer Ökonomik führt. Ökonomik ist aber nur ein kleiner Teilbereich der Erkenntnis. Heute ist die Spanne riesengroß zwischen der akademisch-medialen Überschätzung der Bedeutung und Aussagekraft der Ökonomik und dem tatsächlichen ökonomischen Verständnis der Realität. Gefährlich ist es, in diesem eklatanten Missverhältnis, die Wiener Schule als statische Weltformel misszuverstehen. Auch Ökonomen, die sich zur Wiener Schule rechnen oder bekennen, ist zu misstrauen, wenn sie ausschließlich Ökonomen sind und Ideologie oder Eigeninteressen vor die Erkenntnis stellen.

Immer größere Teile der Bevölkerung suchen nach neuen Antworten, die meisten aber nur nach einfachen Rezepten, die aus dem gegenwärtigen Schlamassel führen sollen. So werden auch ökonomische Konzepte »vulgarisiert«, und Denker werden dafür mit Aufmerksamkeit belohnt, dass sie genehme Schlussfolgerungen bieten. Die Wiener Schule, sofern sie nicht als ergebnisoffene Denktradition verstanden wird, sondern als politisch-polemische Agenda, ist nicht viel besser als der sonstige Meinungs- und »Informations«-Müll, der unterhält, ablenkt und spaltet. Zugutehalten muss man dieser Vulgär-Ökonomik nur, dass sie sich nicht gut für Staatskarrieren eignet, nur für kleine Schwindlerkarrieren, und der Schaden der letzteren ist in Summe viel geringer als jener der ersteren. Deshalb ist die populäre Verbreitung der Ansätze der Wiener Schule unter dem Strich positiv – aber keine heroische Leistung. Nur Glaubenssätze brauchen Missionare.

Das Eintreten für die Wiener Schule darf nicht missverstanden werden als unkritische Preisung der Ökonomik, sondern nur als Lückenfüller – diese Tradition geriet zu Unrecht in Vergessenheit und hinterließ eine große Lücke. Es geht nicht darum, andere Traditionen und Schulen herunterzumachen, sondern die verheerende Wirkung falscher, überschätzter, anmaßender und interessengetriebener Ökonomik zu lindern. Es geht nicht darum, eine Tradition oder Methode als die einzig wahre zu preisen, sondern einen nüchternen Blick auf die Anreize zu werfen, die erklären, warum bestimmte Traditionen und Methoden avancierten und andere vergessen, verdrängt und vertrieben wurden.

War die Wiener Schule wirklich eine »Schule«?

Der Begriff »Schule« bezeichnet drei Dinge: Erstens eine Denktradition, in der Lehrer an Schüler Wissen, Methoden, Fertigkeiten und Prinzipien weitergeben. Zweitens einen Ort, an dem gelehrt und gelernt wird. Drittens eine Grundeinstellung, nach der griechischen Wurzel scholé – Muße: die Freiheit, Bereitschaft und Fähigkeit zu unabhängiger Erkenntnissuche.

Eine Denktradition bedeutet nicht, dass die Schüler genauso denken wie die Lehrer oder immer zu denselben Schlüssen gelangen. Sie bedeutet, dass sie als »Zwerge auf den Schultern von Riesen« stehen, wie es die alte Devise der abendländischen Wissenschaftstradition besagt. Die »Riesen« erweisen sich bei näherem Hinsehen wiederum als unzählige aufeinanderstehende Zwerge verschiedener Größe. Es ist absurd, sich zu ökonomischen Frage zu äußern, ohne die »Riesen« der Ökonomik studiert zu haben – denn sonst sind wir dazu gezwungen, immer wieder dieselben Irrtümer zu wiederholen. Unter dem Etikett »Wiener Schule« verdichten sich wichtige Stränge dieser uralten Lehrer-Schüler-Ketten, die manchmal in Sackgassen münden, aber wichtige Steighilfen zu den aktuellen Gipfeln der Erkenntnis sind.

Im Kern war die Wiener Schule eine »österreichische« – das heißt mittel- und osteuropäische – Fortsetzung der schottisch-englisch-amerikanischen Aufklärung. Diese Tradition hob sich von der sonstigen kontinentalen Aufklärung durch nüchternen Realismus, intellektuelle Bescheidenheit und antitotalitäre Tendenz ab. Auch viele andere Europäer gehörten dieser Strömung an. Der Gegensatz zur intellektuellen Bescheidenheit ist der übertriebene Rationalismus, der die kontinentale von der »Anglo-Austrian« Aufklärung unterscheidet. Die schottische und die österreichische Aufklärung betrachteten Institutionen eher als Resultate menschlichen Handelns denn als Ergebnisse menschlichen Plans. Darum wird mehr Augenmerk auf das Verstehen dieses Handelns gelegt denn auf politische Gebote, Utopien, Absichtserklärungen und Polemiken.

Einer der Orte der Wiener Schule war die alte, ehemals jesuitische Universität Wiens, ein Portal abendländischer Erkenntnis, aber auch der Verwirrung, Verbeamtung und des Missbrauchs von Wissen. Viel wichtigere Orte und wohl die eigentlichen »Schulen« waren die Kaffeehäuser und Salonzimmer der Stadt, in denen Theoretiker und Praktiker zusammenkamen und im intimen Rahmen ohne Denkverbote, Zwänge, Rücksichten und Absichten über die Realität streiten konnten – ganz ähnlich wie schon bei der vorhergehenden schottischen Aufklärung, die ebenfalls Unternehmer mit Denkern zusammenbrachte.

Wer sind die wichtigsten Vertreter der Wiener Schule?

Besondere Bedeutung kommt natürlich dem Gründer der Wiener Schule, Carl Menger, zu. Er hinterließ aber nur wenige Schriften. Seine wichtigsten Schüler waren Eugen Böhm von Bawerk und Friedrich von Wieser, denn diese brachten wiederum wichtige Schüler hervor.

Unter deren Schülern ragen insbesondere Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek heraus. Beide mussten Wien verlassen, und damit kam die Wiener Schule in Wien zu ihrem Ende. Am bedeutendsten für die weitere Verbreitung der Wiener Schule als »Austrian Economics« in den USA war wohl Mises’ amerikanischer Schüler Murray Rothbard.

Die genannten Namen dürfen also als erste, engere Liste dienen, um einen Überblick zu bekommen. Über die relative Bedeutung heute lebender Vertreter der Wiener Schule wird die Geschichte entscheiden.

Die Wichtigkeit von Vertretern lässt sich am ehesten an der Anzahl ihrer Schüler und deren Wirkung erkennen. Allerdings gibt es die alte europäische Universität, an der die Wiener Schule entstand, nicht mehr. In den USA wirkte die Wiener Schule eher außerhalb der Universitäten. Heute unterrichten zwar einzelne ihrer Vertreter an Universitäten, doch daran ist ihre Bedeutung schwerlich abzulesen. Volkswirtschaftslehre im Rahmen von staatlich akkreditierten Lehrplänen hat mit dem interdisziplinären Programm der Wiener Schule kaum etwas zu tun.

Wer war Carl Menger?

Der Begründer der Wiener Schule wurde am 23. Februar 1840 im galizischen Neu-Sandez (heute Nowy Sącz in Polen) als Carl Menger, Edler von Wolfensgrün geboren. Früh verlor er vier Geschwister und seinen Vater, woraufhin er auf dem Gut seines Großvaters in Maniowy aufwuchs. Er studierte in Prag (Tschechien), Krakau (Polen) und Wien und finanzierte sein Studium durch journalistische und literarische Tätigkeit (er schrieb auch Fortsetzungsromane); so arbeitete er für das Neue Wiener Tagblatt und für die – bis heute erscheinende – Wiener Zeitung.

1871 wurden seine Grundsätze der Volkswirthschaftslehre erstmals veröffentlicht und stellen das Gründungsdokument der Wiener Schule dar – eine veritable Revolution in der Ökonomik. Als junger Mann kam Menger so zu wissenschaftlichem Weltruhm. Er wurde als Privatlehrer für den österreichischen Kronprinzen Rudolf engagiert und speiste mit der kaiserlichen Familie. Zwei Gerüchte umgeben diese Tätigkeit: Zum einen wird vermutet, dass Carl Menger eigentlicher Verfasser einiger kritischer Schriften sein könnte, die der Kronprinz unter Pseudonym veröffentlichte. Zum anderen nahm Ludwig von Mises an, dass der Selbstmord des Kronprinzen teilweise eine hoffnungslose Reaktion auf die düsteren, sehr prophetischen Zukunftseinschätzungen von Menger gewesen sein könnte. Wahrscheinlich ist in beiden Fragen nur eine beschränkte Mitwirkung Mengers: Er hat gewiss bei den Schriften des Kronprinzen maßgeblich geholfen und wahrscheinlich nicht viel Raum für kurzfristigen Optimismus gelassen, doch der Selbstmord ist überwiegend auf eine psychische Störung Rudolfs zurückzuführen.

Als Journalist hatte Menger ökonomische Phänomene in der Realität beobachtet und ihm war aufgefallen, dass die bestehende Theorie nicht ausreichte, um diese zu erklären. Insbesondere die Preis- und Werttheorie war mangelhaft. Die Bodenständigkeit des Journalisten und vermutlich seine aristotelische Prägung ließen Menger die Ökonomik wieder auf eine realistische Grundlage führen. Ebendiese Grundlage erkannte er in den menschlichen Handlungen. Zunächst nimmt sich Menger kaum als Revolutionär wahr, will er doch bloß die Lücken der klassischen Ökonomik nach Adam Smith und David Ricardo füllen. Das Wertproblem harrte noch einer Lösung: Ließe es sich mittels einer einheitlichen Theorie erklären, warum etwas so Nützliches wie Wasser einen so geringen Tauschwert und etwas so Unnützes wie Diamanten einen so hohen hat? Eine einheitliche Wert- und Preistheorie würde wiederum einen theoretischen Ordnungsrahmen für ein besseres, das heißt realistischeres Verständnis der Geschichte anbieten und wäre damit auch dem damals in deutschen Landen dominanten Historizismus dienlich gewesen. So widmete Menger sein Hauptwerk auch Wilhelm Roscher, dem ehrwürdigen Begründer der Historischen Schule. Ein tiefgehendes theoretisches Verständnis sollte es schließlich erlauben, besser zu begreifen, woher Wohlstand kommt und was zu höherem Wohlstand führt. Menger formulierte diese Problemstellung mit der Frage nach den »Ursachen der fortschreitenden Wohlfahrt des Menschen«. Diese Formulierung erinnert an Adam Smiths berühmte Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, doch unterscheidet sich in zwei wichtigen Punkten davon, die kaum Zufall sind: Erstens nimmt Menger den einzelnen Menschen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. An die Stelle der merkantilistischen Perspektive auf die »Volkswirtschaft« oder »Nationalökonomie«, die so dominant war, dass sie die Begriffe prägte, die auch die Vertreter der Wiener Schule aufgrund deren Geläufigkeit nutzten, tritt ein humaner Zugang, der sich am persönlichen Handeln und den persönlichen Zielen der Menschen orientiert. Deren Verschiedenheit geht nicht in Kollektivgrößen unter, sondern stellt den Ausgangspunkt des Verständnisses dar. Zweitens drückt »fortschreitende Wohlfahrt« im Gegensatz zum »Wohlstand« sehr deutlich die dynamische Perspektive aus.

Das menschliche Subjekt als Ausgangspunkt der Ökonomik wiederum lässt ein realistisches Menschenbild als Grundlage dieser Wissenschaft zu. Beginnend mit Menger ist so die Ökonomik der Wiener Schule stets Sozialwissenschaft. Mengers ökonomischer Zugang ist auch und gerade für heutige Verhältnisse noch revolutionär: Bei ihm spielen Wissen, Ungewissheit und Zeit zentrale Rollen. Seine dynamische Perspektive geht von einem Marktprozess aus, nicht von stationären Zuständen.

Menger hatte ein ungewöhnlich breites Verständnis von Ökonomik und war weit entfernt vom reduzierenden Ökonomismus. Ebenfalls wegweisend war sein Verständnis von gesellschaftlichen Institutionen: Er prägte die Theorie der »spontanen Ordnung« und vermochte es so, das Entstehen der wichtigsten Institutionen zu erklären. Eigentlich wollte er als Ergänzung ein Werk über die Grundsätze der Soziologie veröffentlichen, doch kam er nicht mehr dazu.

Mengers Bibliothek zählte mehr als 1.000 ethnologische Titel – von insgesamt für die damalige Zeit unglaublichen 25.000 Büchern aus allen Fachbereichen, von denen in Wien kein einziges erhalten blieb. Leider ist sein eigenes schriftliches Werk nicht besonders umfangreich geraten, doch der Grund dafür ist ein günstiger: Menger widmete sich vorwiegend der Begründung der Wiener Schule, als hochgeschätzter Lehrer brachte er unzählige Schüler hervor. Schon 1873 war er mit 33 zum jüngsten Professor Österreichs ernannt geworden. Später wurde ihm der Titel Hofrat verliehen und er stieg ins Herrenhaus auf.

Aufgrund sozialen Drucks legte er 1903 seine Professur nieder. Ein Jahr zuvor hatte er mit der 29 Jahre jüngeren Journalistin Hermine Andermann ein uneheliches Kind gezeugt: Carl Menger, der ein berühmter Mathematiker werden sollte. Der Kaiser legitimierte auf Carl Mengers Bitten hin später seinen Sohn. Womöglich fiel ihm das Ende seines akademischen Wirkens nicht mehr so schwer, da er die Lage Europas und die Entwicklung der Universitäten bereits als hoffnungslos betrachtete. Seine Vorschläge zur Gesundung des Geldwesens und zur Reform des Wirtschaftsstudiums wurden in zu geringem Maße umgesetzt; er erahnte früh die katastrophalen Folgen der aufkommenden politischen Wahnideen. Bis zu seinem Tod am 26. Februar 1921 lebte Menger mit seiner Familie im 9. Wiener Gemeindebezirk, wo er liebevoll von seiner hochtalentierten Lebenspartnerin, die zugleich seine wissenschaftliche Assistentin war, gepflegt wurde.

Wer war Eugen Böhm von Bawerk?