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1. Auflage 2017
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-023355-3
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Für Mechthild und Renate
John Bowlby (1913–1990) begann mit den Vorarbeiten seiner Bindungstheorie schon vor dem Zweiten Weltkrieg, als er bei schwer verhaltensauffälligen Jugendlichen die Folgen emotionaler Deprivation für die kindliche Entwicklung studierte. Der klinische Kontext dieser Theorie war also eigentlich immer evident, dennoch sah sich Bowlby in der Gemeinschaft insbesondere der psychoanalytischen Psychotherapeuten seiner Zeit wegen seiner behaupteten »reinen Verhaltensorientierung« und seiner kritischen Haltung gegenüber der klassischen Triebtheorie starker Kritik und Ablehnung ausgesetzt. Dies trug dazu bei, dass die Bindungstheorie zwar in der Entwicklungspsychologie florierte und eine Vielzahl von Fortentwicklungen erlebte, in der Psychotherapie und in der psychosozialen Medizin dagegen lange nicht beachtet, wenn nicht gar unbekannt blieb.
In den 1980er und 1990er Jahren begann sich dieses Bild zu wandeln. Zuerst noch recht zögerlich und nun wiederum von den Entwicklungspsychologen kritisch beäugt, begann ein zartes Pflänzchen klinischer Bindungsforschung zu wachsen, wobei zu Beginn hauptsächlich die Frage im Blickpunkt stand, ob und in welcher Weise Bindungsunsicherheiten entwicklungspsychopathologisch relevant sind (Strauß et al., 2002).
In der Folge hat sich die klinische Bindungsforschung sehr rasch weiter differenziert. Bindungstheoretische Aspekte spielen heute sowohl in Psychotherapietheorien wie auch in der empirischen Psychotherapieforschung eine große Rolle. Auch in Bereichen, die eher der psychosomatischen Medizin zuzuordnen sind, aber auch im primärärztlichen Kontext ist die Zahl klinischer Studien mit bindungstheoretischem Hintergrund deutlich gewachsen.
Dieses große Wachstum war letztendlich Anregung für unsere Idee, den Stand des Bindungsthemas in Psychologie und Medizin zusammenzufassen und diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die die jeweiligen Bereiche im deutschen Sprachraum repräsentieren, zu bitten, kompakte und aktuelle Übersichten zu diesem Handbuch beizusteuern.
Das Ergebnis ist in unseren Augen ein sehr erfreuliches: Im Abschnitt Grundlagen werden die Bindungsentwicklung und ihre Stabilität in unterschiedlichen Lebensaltern, die Bedeutung von Bindung in Paarbeziehungen, neurobiologische Grundlagen und Methoden zur Erfassung von Bindungsmerkmalen zusammengefasst.
In dem Abschnitt über klinische Themen finden sich insgesamt neun Kapitel zum Zusammenhang von Bindungsmerkmalen und typischen psychischen Störungsbildern bzw. altersspezifischen Beeinträchtigungen.
Schließlich gibt es in dem Abschnitt über Bindungsaspekte von therapeutischen Interventionen eine Übersicht über Frühe Hilfen, über generelle Zusammenhänge zwischen Bindung und Psychotherapie bzw. Therapieprozess, in der Einzel- wie in der Gruppenpsychotherapie. Die vier wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren werden sodann aus der Perspektive der Bindungstheorie beleuchtet (Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie, Psychodynamische Therapie und Systemische Therapie).
Die Herausgeber haben versucht, in einem abschließenden Beitrag die vielfältigen Aspekte klinischer Bindungsforschung zu integrieren.
Wir sind allen Autorinnen und Autoren zu großem Dank verpflichtet, dass Sie ihre Beiträge so kompetent verfasst haben und gleichzeitig geduldig waren abzuwarten, bis alle Beiträge vorlagen und noch einmal auf den aktuellen Stand gebracht wurden.
Wir danken außerdem den Vertretern des Kohlhammer Verlags, Frau Brutler und Herrn Poensgen und insbesondere Frau Laux, die das Lektorat für diesen Band übernommen hat, für ihre sorgfältige und zuverlässige Arbeit.
Wir würden uns wünschen, dass der vorliegende Band die aktuellen Meilensteine der klinischen Bindungsforschung markiert und anregt, auf ihren Feldern weiter zu arbeiten und würden uns natürlich auch wünschen, dass es nicht allzu lange dauern muss, bis wir diese Übersicht mit neuen Ergebnissen versehen aktualisieren können.
Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine anregende Beschäftigung mit der Bindungstheorie, die mittlerweile aus dem klinischen Kontext nicht mehr wegzudenken ist.
Jena und Heidelberg im Sommer 2016
Bernhard Strauß und Henning Schauenburg
Herausgeber
Prof. Dr. Bernhard Strauß
Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
Universitätsklinikum Jena
Stoystraße 3
07740 Jena
E-Mail: bernhard.strauss@med.uni-jena.de
Prof. Dr. Henning Schauenburg
Universitätsklinikum Heidelberg
Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik
Thibaustraße 2
69115 Heidelberg
E-Mail: henning.schauenburg@med.uni-heidelberg.de
Autoren
Dr. Johanna Behringer
Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie
Universität Erlangen
Nägelsbachstraße 49a
91052 Erlangen
E-Mail: johanna.behringer@fau.de
Prof. Dr. Anna Buchheim
Institut für Psychologie
Universität Innsbruck
Bruno-Sander-Haus
Innrain 52
A 6020 Innsbruck
E-Mail: anna.buchheim@uibk.ac.at
Dr. Katja Brenk-Franz
Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
Universitätsklinikum Jena
Stoystraße 3
07740 Jena
E-Mail: katja.brenk-franz@med.uni-jena.de
Dr. Dipl.-Psych. Ulrike Dinger
Universitätsklinikum Heidelberg
Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik
Thibautstraße 2
69115 Heidelberg
E-Mail: ulrike.dinger@med.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. phil. Beate Ditzen
Universitätsklinikum Heidelberg
Institut für Medizinische Psychologie
Lehrstuhl für Medizinische Psychologie und Psychotherapie
Bergheimer Str. 20
69115 Heidelberg
E-Mail: beate.ditzen@med.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. Jochen Eckert
Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf
Institut für Psychotherapie
Von-Melle-Park 5
20146 Hamburg
E-Mail: jeckert@uni-hamburg.de
Dr. Dipl.-Psych. Johannes C. Ehrenthal
Universitätsklinikum Heidelberg
Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik
Thibautstraße 2
69115 Heidelberg
E-Mail: johannes.ehrenthal@med.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. Markus Heinrichs
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Institut für Psychologie
Lehrstuhl für Biologische und Differentielle Psychologie
Stefan-Meier-Straße 8
79104 Freiburg i. Br.
E-Mail: heinrichs@psychologie.uni-freiburg.de
Prof. Dr. Peter Joraschky
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus
Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik
Fetscherstraße 74
01307 Dresden
E-Mail: peter.joraschky@uniklinikum-dresden.de
Dr. Helmut Kirchmann
Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
Universitätsklinikum Jena
Stoystraße 3
07740 Jena
E-Mail: helmutkirchmann@web.de
Dr. Anne Katrin Künster
Institut Kindheit und Entwicklung
Herrenweg 10
89079 Ulm
E-Mail: kuenster@institut-ke.de
Dr. Diane Lange
Eos-Klinik für Psychotherapie
Alexianer Münster GmbH
Hammer Straße 18
48153 Münster
E-Mail: lange@alexianer.de
Dr. Eva Neumann
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Medizinische Fakultät
Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Bergische Landstraße 2
40629 Düsseldorf
E-Mail: eva.neumann@uni-duesseldorf.de
Tobias Nolte
The Anna Freud Centre
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London NW3 5SU
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Prof. Dr. Dipl. Psych. Katja Petrowski
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus
Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik
Fetscherstraße 74
01307 Dresden
E-Mail: katja.petrowski@tu-dresden.de
Dr. phil. Dipl.-Psych. Iris Reiner
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Straße 8
55131 Mainz
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Prof. Dr. Carl Eduard Scheidt
Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin
Universitätsklinik Freiburg
Hauptstraße 8
79104 Freiburg
E-Mail: carl.eduard.scheidt@uniklinik-freiburg.de
Dr. Andreas Schindler
Spezialambulanz für Persönlichkeits- und Belastungsstörungen
Integrierte Versorgung Borderline
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Paul Schröder
Institut für Psychosoziale Prävention
Universitätsklinikum Heidelberg
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Dipl. Psych. Sashi Singh
Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
Universitätsklinikum Jena
Stoystraße 3
07740 Jena
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Prof. Dr. Gottfried Spangler
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
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PD Dr. Dipl.-Psych. Claudia Subic-Wrana
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Straße 8
55131 Mainz
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Prof. Dr. Kirsten von Sydow
Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie
Psychologische Hochschule Berlin (PHB)
Am Köllnischen Park 2
10179 Berlin
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Prof. Dr. Svenja Taubner
Universitätsklinikum Heidelberg
Institut für Psychosoziale Prävention
Bergheimerstraße 54
69115 Heidelberg
E-Mail: svenja.taubner@med.uni-heidelberg.de
Dr. Daniela Victor
Eos-Klinik für Psychotherapie
Alexianer Münster GmbH
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E-Mail: lange@alexianer.de
Dr. Elisabeth Waller
Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin
Universitätsklinik Freiburg
Hauptstraße 8
79104 Freiburg
E-Mail: elisabeth.waller@uniklinik-freiburg.de
Prof. Dr. Ute Ziegenhain
Sektion Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie
Universitätsklinikum Ulm
Steinhövelstraße 5
89075 Ulm
E-Mail: ute.ziegenhain@uniklinik-ulm.de
Laura Zimmermann
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
Universitätsstraße 65-67
9020 Klagenfurt am Wörthersee
Unser Wissen über die Bindungsentwicklung beim Kind ist wesentlich durch die Bindungstheorie und die darauf aufbauende empirische Forschung geprägt. Die Bindungstheorie geht auf John Bowlby zurück (1969), der sie in den 1950er Jahren vor dem Hintergrund psychoanalytischer und verhaltensbiologischer Grundannahmen erstmals formuliert hat. Sie befasst sich mit dem Aufbau von emotionalen Beziehungen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen, deren individuellen und sozialen Grundlagen sowie mit deren Konsequenzen für die weitere Entwicklung. Im Gegensatz zu früheren psychoanalytischen und lerntheoretischen Vorstellungen von Bindung als sekundärem Motivationssystem, das sich aus der Befriedigung von Primärbedürfnissen des Säuglings (z. B. Hunger) durch die Mutter entwickelt, wird Bindung aus der Sicht der Bindungstheorie als ein Primärmotiv gesehen, also einem grundlegenden Bedürfnis des Kindes nach Geborgenheit, Kontakt und Liebe, welches sich unabhängig von anderen Primärbedürfnissen entwickelt. Die Entstehung des Primärmotivs wird phylogenetisch mit dessen biologischer Schutzfunktion bzw. dem daraus resultierenden Überlebenswert erklärt. Das Potential zur Ausbildung des Bindungsverhaltenssystems ist also universell. Allerdings können sich durch Lerneinflüsse Unterschiede in ihrer qualitativen Ausprägung ausbilden (Grossmann und Grossmann, 1986a).
Die psychologische Funktion von Bindung besteht in der emotionalen Regulation des Kindes (z. B. Zimmermann, 1999). Vor allem Neugeborene und Säuglinge sind auf Regulation durch ihre Bezugspersonen angewiesen. Ältere Säuglinge können ihr Verhalten in Alltagssituationen, die nur geringe emotionale Belastungen mit sich bringen, zu einem gewissen Grad selbst organisieren (Als, 1986; Spangler et al., 1994), benötigen aber die Unterstützung der Bindungsperson, um Situationen, die in ihnen negative Emotionen auslösen, angemessen bewältigen zu können. Entsprechende Erfahrungen führen zum Aufbau spezifischer Erwartungen des Kindes bezüglich der Verfügbarkeit der Bezugsperson, die sich nach Bowlby in sogenannten Inneren Arbeitsmodellen von Bindung widerspiegeln und welche in zukünftigen bindungsrelevanten, emotional belastenden Situationen entscheidend zur Verhaltens- und Emotionsregulation beitragen. Nachdem dies etwa bis zur Mitte des 2. Lebensjahres prozedural organisiert ist, also kindliche Erwartungen mit spezifischen Verhaltensstrategien einhergehen, spielen mit fortschreitender kognitiver und sprachlicher Entwicklung zunehmend mentale Strategien und kognitive Repräsentationen eine zunehmend wichtige Rolle in der Organisation des Inneren Arbeitsmodells (Spangler und Zimmermann, 1999). Diese beinhalten schließlich Vorstellungen und Erwartungen bezüglich der Bezugsperson und ihrer Verfügbarkeit, über die eigene Person und verfügbare Handlungsmöglichkeiten und Bewertungen über die Bedeutung von Bindungen.
Sowohl die biologische Schutzfunktion als auch die emotionale Regulationsfunktion von Bindung wird gewährleistet durch eine stabile Neigung des Kindes, Nähe zu Bezugsperson zu suchen. Zur Herstellung von Nähe dienen Bindungsverhaltensweisen, beim Kleinkind beispielsweise Schreien, Weinen, Anklammern, Rufen oder Nachfolgen. All diese Verhaltensweisen haben Nähe oder Körperkontakt zur Bezugsperson zur Folge, entweder weil sie die Bezugsperson veranlassen, die Nähe zum Kind herzustellen, oder weil das Kind diese Nähe aktiv herstellt. Bindungsverhalten zeigt das Kind allerdings nur dann, wenn sein Bindungsverhaltenssystem aktiviert ist, welches die innere Organisation von Bindung darstellt. Das Bindungsverhaltenssystem steht antithetisch zum Explorationsverhaltenssystem (Bowlby, 1969; Ainsworth et al., 1978), einem weiterem biologisch angelegtem Verhaltenssystem, das darauf ausgerichtet ist, die Umwelt zu erkunden. Eine Aktivierung des Explorationsverhaltenssystems ist nur dann möglich, wenn das Bindungsverhaltenssystems nicht aktiviert ist, da das Gefühl gewisser psychischer Sicherheit Voraussetzung für Spiel und Exploration beim Kind ist. Gleichermaßen führt eine Aktivierung des Bindungssystems unmittelbar zu einer Deaktivierung des Explorationsverhaltenssystems. Auf Seiten der Bezugsperson steht dem Bindungsverhaltenssystem des Kindes das sogenannte Fürsorgeverhaltenssystem gegenüber, welches Aufmerksamkeit gegenüber dem Kind und eine Bereitschaft oder Tendenz beinhaltet, auf kindliches Signalverhalten angemessen zu reagieren. Durch die Komplementarität der Verhaltenssysteme ist das Kind prä-adaptiv an seine soziale Umwelt angepasst.
Die Organisation des Bindungsverhaltenssystems erfolgt nach Bowlby (1969) über Emotionen, die als Bewertungsprozesse der gegebenen Situation sowohl als Warnsystem zur Regulation der eigenen Verhaltensweisen als auch – über den emotionalen Ausdruck – als Kommunikationssystem zur Regulation der Verhaltensweisen der Bezugsperson dienen. So aktivieren negative Emotionen des Kindes (z. B. Kummer oder Angst) das Bindungsverhaltenssystem, was durch Weinen oder ängstliches Rufen zum Ausdruck kommt und/oder aktives Bindungsverhalten wie Suchen oder Nachfolgen hervorruft. Durch den emotionalen Ausdruck teilt das Kind dabei der Bezugsperson seine emotionalen Bedürfnisse mit und veranlasst sie über die Aktivierung ihres Fürsorgeverhaltenssystems, Körperkontakt aufzunehmen und es zu trösten (Bowlby, 1969). Beide Prozesse, also sowohl die internen wie die externen Regulationsmechanismen, tragen zur Herstellung und Aufrechterhaltung der nötigen Nähe zur Bezugsperson bei.
Kindliche Bindungen entwickeln sich im Laufe der ersten Lebensjahre in vier Phasen (Bowlby, 1969; Marvin und Bittner, 2008). Bindungsverhaltensweisen wie Weinen, Schreien oder Anklammern zeigt ein Kind schon nach der Geburt. In der ersten Phase von zwei bis drei Monaten zeigt das Kind deutlich Orientierungsverhalten gegenüber Menschen, reagiert spezifisch auf soziale Reize, differenziert aber noch kaum zwischen verschiedenen Personen. Während dieser Phase werden allerdings beim Kind schon gewisse Erwartungen an Personen seiner Umwelt aufgebaut (Ainsworth et al., 1978). In der zweiten Phase, die bis etwa zum 6. Monat dauert, wird das Orientierungsverhalten zunehmend auf vertraute Personen, die primären Bezugspersonen, beschränkt. Von einer Bindung wird hier noch nicht ausgegangen. In der dritten Phase, ab ca. sechs bis sieben Monaten, wird das Kind zunehmend wählerisch im Umgang mit Personen. Fremden begegnet es mit Zurückhaltung, Vorsicht oder Angst. Es bemüht sich, Nähe zur Bezugsperson aufrechtzuerhalten und benutzt sie als «sichere Basis« für seine Erkundungen der Umwelt. Es zeigt Kummer, wenn die Bezugsperson weggeht, und lässt sich gegebenenfalls nur von ihr trösten. Mit fortschreitender lokomotorischer Entwicklung zeigt es zusätzlich zu Signalverhalten zunehmend aktives Bindungsverhalten in Form von Kontaktaufnahme, Nachfolgen usw. Die Bindungsverhaltensweisen sind zunehmend ziel-orientiert und werden dem Bindungsverhaltenssystem funktionell untergeordnet (Ainsworth et al., 1978), so dass sie in Abhängigkeit vom Aktivierungszustand des Bindungsverhaltenssystems nach Art und Intensität zunehmend flexibel eingesetzt werden können. In der vierten Phase, die etwa im dritten Lebensjahr beginnt, bildet das Kind eine zielkorrigierte Partnerschaft zu seinen Bezugspersonen aus (Marvin und Bittner, 2008). Es ist aufgrund seiner kognitiven Entwicklung nun auch zunehmend in der Lage, Erwartungen, Bedürfnisse und Pläne der Bezugspersonen in die eigene Verhaltenssteuerung mit einzubeziehen und sie mit eigenen Plänen zu koordinieren. Das Kind kann auf zielkorrigierte Weise mit der Bezugsperson um Zeitpunkt und Ausmaß von Nähe verhandeln und benötigt zunehmend weniger körperlichen Kontakt zur emotionalen Regulation.
Die Bindungsentwicklung ist kein individueller Prozess auf Seiten des Kindes, sondern findet in enger Wechselwirkung mit dem Interaktionsverhalten der Bezugsperson statt, deren komplementäres Fürsorgeverhaltenssystem prä-adaptiv zum kindlichen Verhalten ist. Nach Bowlby (1969) versuchen auch Mütter, eine gewisse Nähe zum Kind aufrechtzuerhalten, und zeigen Rückholverhalten, wenn das Kind zu weit entfernt ist. Eine wesentliche Komponente des elterlichen Fürsorgeverhaltens ist nach Ainsworth et al. (1978) die Feinfühligkeit der Mutter für kindliche Signale. Durch die prä-adaptiv komplementären Verhaltenssysteme von Kind und Eltern ist in der Regel die Entwicklung einer ersten Bindung gewährleistet. Steht allerdings keine Bindungsperson zur Verfügung, so hat dies gravierende Konsequenzen, wie die Deprivationsforschung gezeigt hat (vgl. Zeanah et al., 2005; Bowlby, 1973; Harlow, 1971).
Während der Aufbau einer Bindung also phylogenetisch determiniert und somit umweltstabil ist, entwickeln Kindern unterschiedliche Qualitäten von Bindungen, die sich in der Art der kindlichen Verhaltensorganisation im Umgang mit emotional verunsichernden (d. h. bindungssystem-aktivierenden) Situationen zeigen (Ainsworth et al., 1978). Als psychologische Organisationsstruktur des Bindungsverhaltenssystems, welches individuelle Unterschiede in der Bindungsqualität erklären soll, wird das Innere Arbeitsmodell von Bindung postuliert (Bowlby, 1969; Main et al., 1985; Bretherton, 1985). Die Arbeitsmodelle sind Verinnerlichungen der frühen Erfahrungen des Individuums mit seinen ersten Bezugspersonen. Sie enthalten als solche Wissen zum einen über die Verfügbarkeit der Bindungsperson, verbunden mit Erwartungen an deren Verhalten in bindungsrelevanten Situationen, und zum anderen über eigene Selbstwert- oder Kompetenzeinschätzungen bzw. Wissen und Vorstellungen über eigene Handlungsmöglichkeiten. Schließlich gehört dazu Wissen um die Bedeutung von Bindungen sowie die Bedeutung von Emotionen und ihre Funktion in der Gestaltung von sozialen Beziehungen. Innere Arbeitsmodelle von Bindung wirken im Laufe der Entwicklung zunehmend auch in Abwesenheit der Bezugsperson. Mit fortschreitendem Alter wird das Innere Arbeitsmodell auch durch die zunehmende kognitive Entwicklung ausgeweitet und flexibler in seiner Organisation und Funktion. Die Arbeitsmodelle stellen im gewissen Sinne zielkorrigierte Pläne oder kognitive Landkarten dar, die bewusst oder unbewusst sein können, und die das individuelle Verhalten in spezifischen, insbesondere belastenden Situation beeinflussen. Theoretisch sind Innere Arbeitsmodelle von Bindung Voraussetzung für die Erklärung situations- und altersübergreifender Zusammenhänge und der Funktion und Dynamik der Bindungsorganisation (Bretherton et al., 1990).
Das Innere Arbeitsmodell von Bindung enthält sowohl emotionale als auch kognitive Anteile. Wesentliche auch empirisch zugängliche Komponenten könnten hier das Emotionsverständnis, Wissen über eigenen Handlungsmöglichkeiten, Erwartungen an das Verhalten der Bezugsperson sowie die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme sein (vgl. Delius et al., 2008). In Anlehnung an kognitive Theorien zur Entwicklung bereichsspezifischen Wissens (Hirschfeld und Gelman, 1998) könnte davon ausgegangen werden, dass Kinder im Verlauf ihrer Entwicklung in Auseinandersetzung mit der Umwelt immer komplexere Vorstellungen über Bindung entwickeln und dies in Form einer Wissenstheorie organisieren. Das Innere Arbeitsmodell von Bindung wäre in diesem Sinne als eine »Theorie von Bindung« zu verstehen, in der Kinder auf der Grundlage ihrer Erfahrungen in bindungsrelevanten Situationen Wissen erwerben über deren emotionale Bedeutung, über eigene Verhaltensmöglichkeiten und über Gefühle und typische Reaktionen der Bezugspersonen (Delius et al., 2008).
Die Organisation des Inneren Arbeitsmodells von Bindung erfolgt in verschiedenen Alterstufen auf unterschiedlichen Ebenen (vgl. Spangler und Zimmermann, 1999). Im Neugeborenenalter ist Bindungsverhalten eher auf der Reflexebene organisiert und noch nicht an spezifischen Personen orientiert, das Bindungswissen ist im Wesentlichen in Form eines phylogenetisch erworbenen Moduls (im Sinne von Gopnik und Meltzoff, 1997) vorhanden. Dieses primäre Bindungssystem erfüllt die Funktion des Bindungsverhaltens in einer Entwicklungsphase, in der spezifische Bindungsbeziehungen noch nicht bestehen. Auf der Basis des primären Bindungssystems und spezifischer Erfahrungen mit den Fürsorgepersonen und erster sozial-kognitiver Fertigkeiten entwickelt das Kind bis zum Ende des ersten Lebensjahres spezifische Bindungsbeziehungen mit primären Bezugspersonen. Es verfügt über affektiv-prozedural organisiertes Wissen um Bindung (vgl. Spangler und Zimmermann, 1999). So kann die emotionale Bewertung einer emotional anfordernden Situation zu einem Bedürfnis nach Nähe und damit gegebenenfalls zur Aktivierung des Bindungsverhaltenssystems führen, wodurch dann eine spezifische, durch die Erwartungen an die Bezugsperson determinierte Verhaltenstrategie ausgelöst wird. Die individuelle Organisationsstruktur der Bindung zeigt hier kaum Freiheitsgrade. Das Kind verfügt über implizite Erwartungen bezüglich des Verhaltens der Bezugsperson, die in der aktuellen Situation unmittelbar mit spezifischen Verhaltensstrategien verknüpft werden. Aus der Theorie-Theorie Perspektive hat das Kind eine Theorie über Handlungen und ihre Konsequenzen (Gopnik und Meltzoff, 1997). Dieses prozedural organisierte IWM ist ein implizites affektives Modell, bei dem kognitive Bewertungsprozesse auf bewusster oder repräsentationaler Ebene noch kaum eine Rolle spielen.
Mit dem Beginn des symbolischen Denkens bzw. der Sprachentwicklung erlangt das Kind die Fähigkeit, psychische Zustände (z. B. Wünsche und Bedürfnisse) und Handlungsoptionen zu repräsentieren – nicht nur eigene, sondern durch die zunehmende Fähigkeit zur Perspektivenübernahme auch diejenigen der Bezugsperson (Bovenschen, 2006), und sie mental zu verknüpfen. Die Repräsentation psychischer Zustände und Handlungsoptionen sowie deren Koordination ermöglicht spezifischere Bewertungsprozesse, erweitert das Spektrum von alternativen Reaktionsmöglichkeiten und eröffnet vielfältigere Entscheidungsoptionen bei der Reaktionsauswahl. Das Innere Arbeitsmodell wird nun zunehmend auf der Repräsentationsebene organisiert und stellt aus der Theorie-Theorie Perspektive nun eine vollständige Theorie von Bindung dar.
Individuelle Unterschiede in der Bindungsqualität können im Hinblick auf Bindungssicherheit (Ainsworth et al., 1978) und Bindungsdesorganisation (Main und Solomon, 1990) festgestellt werden. Die Bindungssicherheit äußert sich in der Art der Strategien, die ein Kind zur Nähe-Distanzregulierung verwendet, insbesondere in der Fähigkeit, bei Aktivierung des Bindungssystems der Bezugsperson die Bedürfnisse nach Nähe mitzuteilen, und somit auf der Basis der Verfügbarkeit der Bezugsperson die emotionale Stabilität wiederzuerlangen und eine Deaktivierung des Bindungssystems zu erreichen. Sicher gebundene Kinder zeigen deutliches Explorationsverhalten bei Anwesenheit der Bezugsperson, signalisieren bei der Trennung deutlich, dass sie sie vermissen (reduzieren Explorationsverhalten, zeigen Bindungsverhalten) und sie nehmen bei der Rückkehr der Bezugsperson Interaktion oder Kontakt zu ihr auf und können mit ihrer Hilfe die negativen Gefühle regulieren und dadurch ihre emotionale Stabilität wiedergewinnen. Andere Kinder zeigen unsichere Bindungsmuster (vgl. Ainsworth et al., 1978). Kinder mit einer unsicher-vermeidenden Bindung scheinen während der Trennung kaum betroffen, zeigen kaum Bindungsverhalten und halten zumindest oberflächlich ihr Explorationsverhalten aufrecht, bei der Rückkehr der Bezugsperson ignorieren sie diese und vermeiden deutlich den Kontakt mit ihr. Sie scheinen also nicht in der Lage, ihre Bezugsperson zur Emotionsregulation zu nutzen. Kinder mit einer unsicher-ambivalenten Bindung wirken von Anfang an eher ängstlich und lösen sich nur schwer von der Bezugsperson. Durch die Trennung sind sie stark betroffen; sie zeigen deutlich ihren Kummer, und nehmen bei der Rückkehr der Bezugsperson Kontakt auf, der aber mit deutlichem Ärger verbunden ist. Sie zeigen also Bindungsverhalten, können jedoch die Nähe zur Bezugsperson nicht nutzen, um sich bald wieder emotional zu stabilisieren und zum Spiel zurückzukehren.
Main und Solomon (1986) haben die Bindungsdesorganisation als ein weiteres Bindungsmuster beschrieben. Dieses äußert sich darin, dass keine durchgängigen Bindungsstrategien festzustellen sind bzw. trotz zugrundeliegender Strategien ein großes Ausmaß an desorganisiertem Verhalten zu beobachten ist, welches z. B. durch ungeordnete oder unterbrochene Bewegungen, sich widersprechende Verhaltensweisen bzw. Verwirrung oder Furcht vor der Bezugsperson zum Ausdruck kommt. Während die durch die Ainsworthschen Kategorien beschriebenen Gruppen die Sicherheit der Bindung beschreiben, bezieht sich die Mainsche Kategorie auf die Qualität der Organisation. Das Verhalten der Kinder in der Fremden Situation kann im Hinblick auf beide Dimensionen unabhängig voneinander beschrieben werden (vgl. z. B. Spangler, 2011).
Die Bindungsmuster und ihre Interpretation im Hinblick auf die Angemessenheit bezüglich der Funktion des Bindungsverhaltenssystems wurden mittlerweile auch durch Studien validiert, die die psychobiologische Organisation des Bindungsverhaltens erforscht haben. So belegt die erhöhte Nebennierenrindenaktivität (Cortisolanstieg) nach der Fremden Situation bei unsicher bzw. desorganisiert gebundenen Kindern emotionale Belastung und die adaptive Unangemessenheit unsicherer Bindungsstrategien (Spangler und Grossmann, 1993; Hertsgaard et al., 1995; Spangler und Schieche, 1998). Weiterhin fanden sich Hinweise auf die soziale Pufferfunktion einer sicheren Bindung bei gegebenen ungünstigen individuellen Dispositionen: Bei ängstlichen oder verhaltensgehemmten Kleinkindern kam es in Anforderungssituationen nur dann zu einer physiologischen Stressreaktion (Cortisolanstieg), wenn gleichzeitig keine sichere Bindung gegeben war (Nachmias et al., 1996; Gunnar et al., 1996; Spangler und Schieche, 1998). Herzfrequenzakzelerationen bei unsicher-vermeidenden Kindern während der Trennung in der Fremden Situation zeigen, dass es auch bei diesen Kindern zu einer Aktivierung des Bindungsverhaltenssystems kommt (Spangler und Grossmann, 1993), obwohl augenscheinlich kein Bindungsverhalten gezeigt wird. Ebenso konnte mit Hilfe von Herzfrequenzparametern bei desorganisierten Kindern der theoretisch postulierte psychophysiologische Alarmierungszustand belegt werden, auch wenn dieser auf Verhaltensebene teilweise nur sehr subtil in Erscheinung tritt (Spangler und Grossmann, 1999).
Die altersabhängige Organisation des Bindungssystems hat Implikationen für die Erfassung von individuellen Unterschieden. Die Erfassung der Bindungsqualität erfolgt in emotional belastenden Situationen bzw. emotionalen Anforderungssituationen, die dazu führen, dass das Bindungssystem aktiviert wird. Dies ist im Kleinkindalter die Fremde Situation (Ainsworth und Wittig, 1969), in deren Verlauf die Kinder zwei kurzen räumlichen Trennungen von der Mutter unterworfen werden. Nach der Bindungserfassung auf der Verhaltensebene im Kleinkindalter wird in späteren Altersabschnitten zunehmend die Repräsentationsebene einbezogen, während gleichzeitig die Verhaltensebene mit steigendem Alter in den Hintergrund rückt. Gemeinsam ist allen Verfahren, dass sie kategoriale Verhaltens- bzw. Repräsentationsmuster erfassen, die von ihrer Struktur her mit den in der Fremde Situation beobachteten klassischen Verhaltensmustern von Bindungssicherheit und -desorganisation korrespondieren. Als direkte Beobachtungsmethode wird im Kleinkind- und Vorschulalter auch der Attachment Q-Sort von Waters und Deane (1985) verwendet. Der entscheidende Unterschied zu den anderen Verhaltensbeobachtungsmethoden besteht darin, dass hier eine Bindungserfassung durch Beobachtung kindlichen Verhaltens in Alltagssituationen erfolgt, in denen eine Aktivierung des Bindungssystems nicht explizit induziert wird, jedoch davon ausgegangen wird, dass in Alltagssituationen auch Bindungsverhalten aktiviert wird und somit Bindungsverhaltensstrategien beobachtbar sind.
Im Vorschulalter und beginnenden Grundschulalter werden einerseits – vergleichbar der Fremden Situation – Verhaltensstrategien in bindungsrelevanten Situationen untersucht (z. B. Main et al., 1985; Wartner et al., 1994). Hierbei erfolgt eine Ausweitung der Trennungssituation, in der