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Sylvia Grünberger

Wynonas Jobs

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © © StudioThreeDots - istock.com, © Lichtstark / photocase.de

Umschlaggestaltung: Simone Hölsch

ISBN 978-3-7349-9448-7

Prolog

Donnerstag, 20. Februar

20:40 Uhr

Sie waren bereits beim Dessert angelangt, als die Frau im schwarzen Trenchcoat gleich einem Tornado durch den Raum wirbelte. Der junge uniformierte Polizist in ihrem Schlepptau eilte – verbissen bemüht, Schritt zu halten – hinter ihr her. Den beiden folgte ein Hausmädchen, hilflos mit den Armen rudernd, als ob es die Eindringlinge an unsichtbaren Fäden zurückziehen wollte.

»Kottan, Kriminalpolizei!«, verkündete die Frau im Trenchcoat mit schneidender Stimme, während sie zielstrebig das riesige Esszimmer der Villa durchquerte. Kurz schwenkte sie dabei einen Ausweis durch die Luft. Keiner der etwa zwei Dutzend Gäste war nahe genug, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. Sie alle starrten die schwarzhaarige Frau in dem dunklen Trenchcoat nur verblüfft an. Ohne sich mit weiteren Erklärungen aufzuhalten, ging sie geradewegs auf Zoff zu, blieb hinter seinem Stuhl stehen, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte barsch: »Herbert Zoff? – Ich muss Sie bitten, mir zu folgen!« Um ihren Mund lag ein beunruhigendes Lächeln. Ihr Blick war durchdringend.

Zoffs rundes Gesicht lief bis in die bebenden Hängebacken rot an. Sein feister Mund schnappte nach Luft wie ein Karpfen auf dem Trockenen. Die anderen Gäste verharrten, gleichsam in der Bewegung erstarrt, auf ihren Plätzen rund um den gewaltigen Esstisch. In dem großen, gediegen eingerichteten Raum von Mareks Villa in Neustift herrschte absolute Stille, als ob alle Anwesenden den Atem anhielten.

Zoff fand nach dem ersten Schock seine Sprache wieder: »Das … also das … muss sich um einen Irrtum handeln! Was … wollen Sie von mir? Was … was werfen Sie mir denn vor?«, stammelte er, erhob sich umständlich und starrte die Kriminalbeamtin entgeistert an.

»Möchten Sie, dass es alle Anwesenden hören? Ich habe kein Problem damit! Für Sie wäre es allerdings zweckmäßiger, uns, ohne weiteres Aufsehen zu erregen, zu begleiten!«, erklärte sie ihm zynisch.

»Nein!«, kreischte Zoff. »Nein, das werde ich nicht! Sie können mich doch nicht einfach verhaften!« Seine Finger umklammerten Halt suchend die Stuhllehne.

»Das sehe ich anders!« Die Frau lächelte sarkastisch und schnippte mit den Fingern. Der junge Uniformierte stand seitlich hinter ihr, trat nun aus ihrem Schatten hervor und griff nach Zoffs Arm.

»Ich will meinen Anwalt sprechen!«, schrie Zoff und schüttelte die Hand ab.

»Dazu werden Sie während der Untersuchungshaft noch reichlich Zeit haben! Abführen!«, befahl sie kalt. Der Polizist umfasste mit festem Griff Zoffs Oberarm.

»Das können Sie doch nicht machen!«, jammerte Zoff. Sein entsetzter Blick bohrte sich in die Augen des jungen Polizeibeamten. »Müssen Sie mir nicht erst meine Rechte vorlesen?«

Der Uniformierte räusperte sich, straffte den Körper und fuhr mit der Hand durch sein weizenblondes Haar.

Noch bevor er ein Wort hervorbrachte, schnauzte die Frau Zoff ungehalten an: »Sie sehen anscheinend zu viele amerikanische Filme! Wir lesen Ihnen keine Rechte vor! Sie können Ihren Mund beim Verhör aufmachen! Bis dahin halten Sie ihn gefälligst!« Sie wandte sich an den blonden Polizisten: »Raus mit ihm!«

Keiner der anwesenden Gäste hatte bisher ein Wort gesagt oder einzugreifen versucht. Nur zwei Männer waren aufgesprungen und beobachteten nun reglos stehend die Szene. Alle anderen hockten wie angewurzelt auf ihren Plätzen, zu verblüfft, um zu einer Reaktion fähig zu sein. In ihren Mienen spiegelte sich Entrüstung oder Fassungslosigkeit, während sie sprachlos die Vorgänge verfolgten.

In seinem Sträuben, dem Beamten zu folgen, schleifte Zoff den Stuhl mit, an dessen Lehne er sich immer noch festhielt. Unwirsch zerrte der Polizist kräftiger an Zoffs Arm. Der Sessel polterte noch ein Stück hinterher, bevor er schließlich mit lautem Krach am Boden landete. Schnaubend wie ein wütender Stier trat Zoff mit dem Fuß dagegen.

Die Kriminalbeamtin beugte ihr Gesicht nahe zu seinem, ihre Augen funkelten Zoff tückisch an. »Meine Methoden, Männer, die sich gegen eine Festnahme wehren, ruhigzustellen, werden Ihnen vermutlich nicht gefallen!«

Der Uniformierte griff sofort diensteifrig zu den Handschellen an seinem Gürtel.

»Die brauchen wir nicht!«, meinte die Beamtin mit einem verächtlichen Lächeln und wandte sich wieder an Zoff: »Sie folgen dem Kollegen doch sicher freiwillig?«

Aus Zoffs Mund drang ein Stöhnen, das in einem trockenen Aufschluchzen ausklang. Sein sich eben noch aufbäumender Körper sank resignierend in sich zusammen. Mit hängendem Kopf ließ er sich widerstandslos abführen. Herbert Zoff war Ende vierzig, übergewichtig, mit schütterem Haar rund um die Stirnglatze. Ein Häufchen Unglück. Unfähig zu begreifen, was soeben mit ihm geschah, trabte er gehorsam neben dem weizenblonden Polizeibeamten hinaus. Starrte nur noch aus glasigen Augen auf den Boden. Die Röte war aus seinem Gesicht verschwunden. Er war kreidebleich.

Der Großteil der Gäste löste sich allmählich aus der Erstarrung. Die gesamte Aktion war verblüffend schnell abgelaufen. Nun wandelte sich die vorangegangene sprachlose Bestürzung in Empörung und es fielen scharfe Worte wie ›Ostblockmethoden‹, ›totalitäre Auswüchse‹ und ›Österreich ist doch kein Polizeistaat – sollte man glauben!‹

Der Uniformierte brachte Zoff zu einem schwarzen BMW, der vor der Villa am Straßenrand parkte, und schob ihn auf die hinteren Sitze. Mit abfälligem Lächeln folgte die Kriminalbeamtin den beiden beinahe gemächlich.

Inzwischen waren alle Anwesenden aufgesprungen und drängten sich in einem Pulk aus der Villa, um vom weiteren Geschehen nichts zu verpassen. Die meisten blieben allerdings zwischen der offen stehenden Haustüre und dem schmalen Weg durch den Vorgarten stehen. Entrüstet oder schadenfroh blickten sie zum BMW, aus dem Zoffs bleiches Gesicht zum Haus starrte. Der blonde Polizist stand fast stramm neben dem Wagen. Da das Wetter wenig einladend für einen längeren Aufenthalt im Freien war, wandten sich bereits einige der Gäste ab und kehrten diskutierend ins Haus zurück. Niemand zeigte die Bereitschaft, Zoff zu helfen.

Marek, der Gastgeber, fühlte sich verpflichtet, die Situation etwas zu entspannen. »Einen Moment, bitte!«, rief er und lief der Frau im schwarzen Trenchcoat hinterher. »Ich bin Günter Marek. Das ist mein Haus! Herr Zoff ist einer meiner Gäste! Sie können ihn doch nicht einfach grundlos … verhaften!«

Die Kriminalbeamtin wandte sich ihm mit überheblichem Gesichtsausdruck zu. »Grundlos?«, sagte sie süffisant. »Das Schweinchen hat eine Schwäche für minderjährige Mädchen! Ich persönlich sehe darin einige triftige Gründe, die mich kaum zur Rücksichtnahme veranlassen. Ich habe nämlich selbst eine minderjährige Tochter. Und Sie, Herr Marek? Haben Sie Kinder?«

»Zwei Töchter«, nickte er verwirrt.

»Nun, dann sind wir uns vermutlich einig!«, entgegnete die Beamtin kühl.

Einige der Gäste waren Marek neugierig gefolgt, verharrten im Halbkreis hinter ihm und verfolgten schockiert die Szene.

»Im Prinzip … ja! Aber das hier ist mein Haus! … Dieser Skandal! Wenn das publik wird!« Marek fasste die Kriminalbeamtin am Arm. »Erläutern Sie meinen Gästen zumindest, es könne sich womöglich um einen Irrtum handeln!«

Sie versuchte, ihn abzuschütteln. Er rüttelte aufgeregt an ihrem Arm. »Verstehen Sie denn nicht«, schrie er hysterisch, »ich bin Herausgeber eines Magazins für Jugendliche! Wenn bekannt wird, weswegen Zoff in meinem Haus verhaftet wurde …! Er ist mein Chefredakteur! … Einen derartigen Skandal kann ich mir nicht leisten! Unter meinen Gästen befinden sich einige Journalisten. Auch von den anderen sind die meisten in irgendeiner Form in der Branche tätig!«

»Ihr Problem! Nicht meines!«, antwortete sie ungerührt.

Marek packte sie an den Schultern und schüttelte sie ungestüm: »Weshalb mussten Sie Zoff ausgerechnet hier, in meinem Haus, vor all den Zeugen verhaften? Ich zahle pünktlich meine Steuern. Und nicht gerade wenig. Mir steht Rücksichtnahme zu! Diskretion! Ich verlange von Ihnen …« Weiter kam er nicht. Die Beamtin befreite sich blitzartig aus Mareks Händen und funkelte ihn drohend an. Gleichzeitig stürzte der uniformierte Polizist zu ihrer Unterstützung herbei. Marek hob entschuldigend die Arme. »Verlassen Sie sich darauf, ich werde mich über Ihr rücksichtsloses Vorgehen bei Ihrem Vorgesetzten beschweren«, zischte er dabei.

»Das steht Ihnen frei.« Sie lächelte ihn kalt an.

»Wie war doch gleich Ihr Name?«, fauchte Marek.

»Kottan! Evelyne Kottan!«

Der junge Polizist stieß unvermittelt einen erschrockenen Pfiff aus. Zoff war aus dem BMW gesprungen und rannte gerade die Straße entlang. Evelyne Kottan sah ihm, ohne sich in Bewegung zu setzen, überrascht nach und zischte den Uniformierten erzürnt an: »Haben Sie ihn denn nicht …?« Sie griff sich an die Stirn und brüllte: »Was haben Sie sich dabei gedacht, ihn unbeaufsichtigt zu lassen, ohne ihn vorher zu fixieren?«

»Aber Sie wurden tätlich angegriffen, Frau Kottan!«

»Wie lange sind Sie schon im Polizeidienst?«, zischte sie aufgebracht.

»Zwei Monate!«, gestand er zerknirscht.

Sie stöhnte verächtlich, zuckte verdrossen die Schultern und tätschelte ihm dann ermutigend den Arm. »Er kommt nicht weit!«

Mit sarkastischem Lächeln wandte sie sich an Marek: »Tja, wie Sie sehen, ist es uns nicht gelungen, Herrn Zoff in Gewahrsam zu nehmen. Obwohl seine Flucht gewissermaßen einem Schuldeingeständnis gleichkommt.« Ihr Blick glitt über die Umstehenden. »Falls ich auch nur eine Zeile über Unfähigkeit der Wiener Polizei in der Presse lesen sollte, hat das Konsequenzen! Verlassen Sie sich darauf. Die Behinderung einer Amtshandlung wird nicht stillschweigend toleriert.« Ihre Finger trommelten auf Mareks Brustkorb. »Ich schlage vor, Sie wirken auf Ihre Gäste entsprechend ein! Sonst, fürchte ich, werden daraus sehr unangenehme Folgen für Sie entstehen. Sie haben mich festgehalten und dadurch Zoffs Flucht begünstigt!« Danach verließ sie ohne ein weiteres Wort mit dem jungen Polizisten die Gesellschaft und stieg in den Wagen.

Als der schwarze BMW langsam die Straße entlangfuhr, begaben sich fast alle der noch herumstehenden Gäste rasch ins Hausinnere. Es war Februar, nass und kalt. Kaum einer hatte daran gedacht, einen Mantel oder eine warme Jacke anzuziehen. Sensationsgierig wollten sie sich keine Sekunde des makabren Schauspiels entgehen lassen. Die meisten fröstelte es bereits im Freien und es gab ohnehin nichts mehr zu sehen. Die Straße glänzte vom leichten Nieselregen im Lichtschein der vereinzelten Straßenlaternen. In der Dunkelheit mit den zahlreichen Schatten der Bäume und Sträucher vor den angrenzenden Villen ließen sich keinerlei Hinweise auf den Flüchtenden erkennen.

Günter Marek blieb vor dem Hauseingang stehen, zündete eine Zigarette an und blickte den Rücklichtern des sich entfernenden BMWs mit verhaltenem Grinsen nach.

Tom Terenko lehnte am Türstock und beobachtete Marek nachdenklich. Als sämtliche Gäste im Haus verschwunden waren, legte Terenko eine Hand auf die Schulter des Gastgebers: »Warum, Marek?«, fragte er leise. »Warum?«

Marek starrte Terenko verblüfft an. Voll nervöser Anspannung versuchte er, im Gesicht des bärtigen Karikaturisten zu forschen. Terenkos Augen ruhten wissend auf ihm. »Dir entgeht wohl nichts?«, brummte Marek seufzend.

»Es gehört zu meinem Job, auf Details zu achten!«, entgegnete Terenko lakonisch. Plötzlich mischte sich ein schalkhaftes Blitzen in seinen Blick. Kopfschüttelnd lachte er leise.

»Verdammt!« Marek schlug sich mit der flachen Hand aufs Hirn. »Du weißt also, dass …« Er begann ebenfalls zu lachen. Nicht gerade herzlich, eher höhnisch.

»Glaub mir, Zoff hat es verdient!«

Terenko blickte ihn abwartend und schmunzelnd an.

»Ich musste ihm einen Denkzettel verpassen!« Marek ließ seine Zigarette auf den Boden fallen und trat sie mit aggressivem Stampfen aus. »Dieser Scheißkerl hat doch tatsächlich ein Bild von Stefanie gebracht! Verstehst du? Meine Tochter! Halb nackt! In meinem Magazin!«

»Ihr bringt doch ständig Fotos von halb nackten Mädchen in Coolness! Erkannte Zoff deine Tochter nicht auf dem Bild – oder hast du es übersehen?«

»Ich war auf Geschäftsreise! Zoff hat die Layouts überprüft. Es ist ihm nicht durchgerutscht. Dieses Arschloch hat sie absichtlich reingenommen. Als eine Art persönlichen, hundsgemeinen Racheakt. Was er meiner Kleinen damit angetan hat, kapierte der Scheißkerl anscheinend nicht. Glaub mir, am liebsten hätte ich ihn auf der Stelle gefeuert. Es hat mich einige Beherrschung gekostet, ihm nicht an die Gurgel zu springen.«

»Wie ist er zu dem Foto gekommen?«, erkundigte sich Terenko sachlich.

Marek zuckte bedauernd die Schultern. »Stefanie, diese blöde Gans, hat sich freiwillig dazu bereit erklärt. Zwei Schulfreundinnen waren versessen darauf, dass Bilder von ihnen in Coolness gebracht werden, und haben Stefanie bestürmt, ihnen dazu zu verhelfen. Sie hat natürlich damit angegeben, direkt an der Quelle zu sitzen. Um sich nicht zu blamieren, hat sie Zoff heimlich deswegen beschwatzt. Er hat daraufhin einen unserer Fotografen damit beauftragt. Die beiden Mädchen sind recht hübsch und Zoff meinte, barbusig könnte er eine davon bereits in der nächsten Nummer unterbringen. Die Mädels haben sich deshalb etwas geziert, und da Stefanie beim Fotoshooting dabei war, hat Zoff ihr eingeredet, sie müsste mitmachen, damit sich ihre Freundinnen weniger genieren. Daraufhin hat sie sich bis aufs Höschen ausgezogen. Vermutlich um zu beweisen, was sie sich traut. Wie auch immer. Die beiden anderen sind ebenfalls aus der Wäsche gehüpft. Der Fotograf hat seine Aufnahmen gemacht. Zoff hat Anweisungen gegeben, wie er sie haben wollte. Das hat anscheinend den Mädels nicht gepasst. Offenbar wussten sie nicht, dass er der Chefredakteur ist, haben ihn bloß für einen Wichtigtuer gehalten und sind ihm gegenüber ziemlich frech geworden. Jedenfalls hat die eine Zoff als ›geilen Bock‹ bezeichnet. Er hat ihr erklärt, wenn sie ihr Foto in Coolness abgedruckt sehen wollte, müsste sie damit rechnen, dass es Tausende Männeraugen anstarren. Das hat die Mädels aber nicht davon abgehalten, ihm noch ein paar kecke Bemerkungen an den Kopf zu werfen. Danach ist er wütend abgerauscht.

Meiner Kleinen war die ganze Angelegenheit nur noch peinlich. Abgesehen davon war sie gerade sauer auf mich, weil ich ihr verboten hatte, zu einem angeblich megageilen Clubbing zu gehen. Sie ist schließlich erst fünfzehn. Während ihrer Phase, die beleidigte Leberwurst zu spielen, hat sie mir nichts von der ganzen Sache erzählt. Bis es zu spät war. Zoff war dermaßen verärgert, dass er hinterhältig ihr Bild auswählte anstatt eines der Freundinnen!«

»Wo liegt das Problem? Sind die anderen Mädchen jetzt sauer auf deine Stefanie?«

»Du kennst offensichtlich Stefanie nicht, Tom!« Marek fischte seufzend eine neue Zigarette aus dem Päckchen. »Die Kleine ist übergewichtig und trägt eine Zahnspange! Und genauso wurde sie in Coolness abgebildet. Ohne die geringste Retuschierung! Mein Pummelchen hat überhaupt nicht daran gedacht, ihr Foto könnte möglicherweise veröffentlicht werden. Zoff teilte ihr nur knapp davor mit, eines der Bilder wäre in der nächsten Ausgabe. Natürlich hat sich die ganze Klasse sofort nach Erscheinen das Magazin besorgt. Aber es war nicht eines von den beiden hübschen Mädels abgebildet, sondern mein Pummelchen im Höschen, mit fettem Hintern und Zahnspangen-Grinsen! Was meinst du, wie das rübergekommen ist? Seit Tagen heult die Kleine und weigert sich, in die Schule zu gehen.« Stöhnend blies er den Zigarettenrauch wie eine Dampflokomotive aus. »Und der Scheißkerl behauptet doch glatt, er wollte bloß meiner Tochter eine Freude bereiten.«

»Daraufhin war die Rache des Zeus fürchterlich!«, sinnierte Terenko. »Und relativ kostspielig – nehme ich an?«

»Aber immer noch billiger, als Zoff rauszuschmeißen!« Marek machte eine lässige Handbewegung. »Er ist seit Jahren Chefredakteur bei Coolness. Seinen Vertrag aufzulösen, nur weil er sich an den Mädels hinterhältig gerächt hat? … Damit komme ich nicht durch! Noch dazu, wo mein beklopptes Pummelmäuschen freiwillig dafür posiert hat!« Er seufzte erneut. »Du kannst mir glauben, ich habe mich über den tatsächlichen Sachverhalt genau informiert. Die meisten bei Coolness kennen meine Töchter nicht persönlich. Bloß einer hat bei der Redaktionssitzung gemeint: ›Die Kleine sieht der Tochter vom Chef ziemlich ähnlich!‹ Und der gute Zoff hat behauptet, das wäre absichtlich so gewählt. Der Versuch, eine ganz neue Linie reinzubringen. Durchschnittsmädchen! Mit denen sich ein Großteil der jugendlichen Leserinnen identifizieren könnte.« Marek blickte Verständnis heischend auf Terenko. »Dagegen komme ich nicht an. Folglich musste ich mich auf andere Weise revanchieren. Ich wollte erreichen, dass er nachvollzieht, was meine Kleine jetzt durchmacht. Das bin ich meinem naiven Pummelchen einfach schuldig.«

»Und wie stellst du dir die Sache weiter vor? Dir ist doch klar, was dieser Verdacht, der jetzt auf Zoff lastet, in der Branche bewirkt? Für ein Jugendmagazin ist er damit untragbar geworden«, meinte Terenko abwägend.

»Nicht wirklich!« Marek schüttelte den Kopf. »Die Angelegenheit wird sich zu seinen Gunsten aufklären. Ich werde ihm gegenüber behaupten, in der Sache interveniert und die Mädchen beschwichtigt zu haben. Sie ziehen die Anzeige wegen sexueller Belästigung zurück und Coolness bringt dafür ihre Fotos.

Jetzt muss ich nur noch meine Gäste darauf einschwören, dass nichts davon offiziell verlauten darf. Allerdings wird es die Gerüchteküche kaum stoppen. Die Buschtrommeln verbreiten pikante Geschichten mit rasanter Geschwindigkeit. Und das vergönne ich Zoff! Aber in der Redaktion wissen ohnehin alle, wie leicht ihn aufmüpfige Teenager aus der Fassung bringen. Niemand wird bezweifeln, dass es sich um einen Racheakt der Mädels gehandelt hat.

Zoff hat seit Langem ein Verhältnis mit dieser Quietschente aus der Buchhaltung. Seine Frau und die Quietschente lasten ihn völlig aus. Er hat keinerlei Ambitionen, sich an Minderjährige ranzumachen. Sein Interesse an jungen Mädchen ist rein beruflich.« Abschätzend blickte er Terenko an: »Von den anderen Gästen weiß niemand darüber Bescheid. Ich kann mich doch hoffentlich auf deine Verschwiegenheit verlassen?«

Terenko lachte gutmütig: »Bereust du bereits, dass du mich eingeladen hast?«

»Nun ja, ehrlich gestanden habe ich nicht damit gerechnet, jemand könnte … Woher wusstest du …?«

»Tz, tz, tz … was für eine Frage!« Terenko blickte ihn belustigt an. »Willst du jetzt meine Verschwiegenheit testen?«

»Vergiss es!« Marek schlug ihm jovial auf die Schulter. »Hat gutgetan, mit dir darüber zu reden. Was meinst du? Könnte einer von den anderen die Sachlage durchschauen?«

Terenko schüttelte den Kopf. »Kaum! Ausgenommen Zoff vermutlich. Wenn Frau Kottan nicht weiter gegen ihn ermittelt!« Er lachte schallend. »Ein schwarzer Trenchcoat!! – Bisschen übertrieben dick aufgetragen. Aber sonst hat sie bemerkenswert überzeugend gewirkt.«

»Der Trenchcoat war meine Idee! Sobald etwas mit Klischeevorstellungen verbunden ist, denkt jeder gleich in die vorgegebene Richtung«, murmelte Marek verlegen und sah Terenko unschlüssig an. »Ich habe übrigens einen Auftrag für dich.«

»Quid pro quo?«

»Du solltest es nicht als Kompensationsgeschäft betrachten! Ich spiele schon länger mit dem Gedanken … aber ich gebe zu, mich soeben fix dafür entschieden zu haben. Unabhängig davon vertraue ich auf deine Diskretion, Tom! – Bis zu einem gewissen Grad, versteht sich!

Wir planen ein neues Format für unsere Briefkastentante. Zweigeteilt!« Er hob seine Hände, um mit den Fingern die Größe der Spalten zu demonstrieren.

»Ein Mädchen und ein Junge werden in Zukunft Ratschläge erteilen. Du entwirfst die Bilder der beiden. Karikaturen wirken spritziger als fiktive Fotos, mit denen wir ohnedies immer eine Gratwanderung eingehen.« Er verlor sich darin, seine Vorstellungen plastisch zu schildern: »Das Mädchen: blond, jung, hübsch, … eigenwillige Persönlichkeit, aber nicht zu ausgeflippt, sondern vertrauenswürdig. Mit wissenden Augen. Die Kids sollen das Gefühl haben, der kann man alles anvertrauen, die hat schon alles gesehen, die kann nichts erschüttern. Aber keine Zynikerin! Und auf jeden Fall hübsch genug, damit man ihr genügend Erfahrung mit Jungs abnimmt. – Ich bin sicher, du kriegst das hin!« Er fasste Terenko am Ellenbogen und steuerte ihn langsam wieder ins Haus. »Das Bild des Jungen stelle ich mir als eine Mischung zwischen …«

1. Kapitel

Dienstag, 29. April

17:40 Uhr

Bevor Martin Körting das Kaffeehaus betrat, warf er gewohnheitsmäßig einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr und nickte zufrieden. Er war – wie immer – zu früh eingetroffen; für seine üblichen Vorkehrungen blieb ihm also ausreichend Zeit. Wenn ihm Fremde Informationen anboten, achtete er stets darauf, sie vorher kurz einzuschätzen. Er verließ sich auf den ersten Eindruck, den sie bei ihm hervorriefen. Meist stimmte er auch. Außerdem beobachtete er an sich gerne Menschen.

Das Kaffeehaus war sehr groß, die wenigen Gäste verloren sich darin. Körting wählte einen Tisch in einer Fensternische, von dem sich der Großteil des L-förmig angelegten Raumes überblicken ließ. Er mochte alte Kaffeehäuser, deren Blütezeit an die hundert Jahre zurücklag und deren ursprünglicher Charakter dabei erhalten geblieben war. Die Stuckaturen in Jugendstilornamenten an der hohen Decke, riesige, tief hängende Kristalllüster, mit bordeauxrotem Samt bezogene Bänke, schwere Marmorplatten auf den schmiedeeisernen Gestellen der Kaffeehaustische. Jetzt welkte die einstige Pracht. Die Kristallteile der Leuchten waren matt geworden, die Samtbezüge an den Ecken abgewetzt, die Tischplatten zerkratzt, das Holz des Parkettbodens dunkelgrau. Die letzte Renovierung lag bereits einige Zeit zurück. Um die vorige Jahrhundertwende waren Kaffeehäuser wie dieses ein Treffpunkt großer Geister. Philosophen, Schriftsteller, Politiker und Künstler aller Art tauschten ihre tiefsinnigen Gedanken aus. In der Atmosphäre der Räumlichkeiten schwebte noch ein Hauch davon als Vermächtnis der Vergangenheit.

Körting empfand eine stille Achtung vor dem Geist der Zeit. Gedanken an die Geschehnisse, verbunden mit den vielfältigen Menschen, die sich in diesem Raum – seit seiner Entstehung bis zur Gegenwart – bewegt hatten, übten auf ihn eine Faszination aus, die seine Fantasie beflügelte; Handwerker, die liebe- und mühevoll kleine Kunstwerke angefertigt hatten, zwei überstandene Kriege, Wechsel der Besitzer, der Gäste, deren Träume, verwirklicht oder verkümmert, Einstellungen und Ansichten, die sich änderten wie die jeweilige Mode, in der die Besucher hier Kaffee getrunken hatten. All das spiegelte sich noch in der Umgebung wider, obwohl sie letztlich leise verblasste, während draußen getriebene Hektik im Zeitraffertempo vorbeirauschte. Außerdem bevorzugte Körting Orte wie diesen, weil alte Kaffeehäuser meist ruhig waren, man ungestört lesen, nachdenken oder Besprechungen abhalten konnte.

An dem Tisch der nächstgelegenen Fensternische saßen ein älterer korpulenter Mann und eine junge Frau. Der Mann hatte ihm den Rücken zugedreht, doch die Frau befand sich fast zur Gänze in Körtings Blickfeld. Ihr rötlich-braunes Haar erinnerte ihn an Luzis glänzendes Fell. Eine ungewöhnlich dunkle Fuchsstute, die er als Kind heiß geliebt hatte. Abgesehen davon, dass ihr langes, glattes Haar Gesicht und Augen halb verdeckte (wie seinerzeit Luzis Stirnfransen), hatte die zierliche junge Dame absolut nichts mit einem Pferd gemeinsam.

Körting faltete die mitgebrachte Zeitung so, dass er den Wirtschaftsteil vor sich aufgeschlagen hatte. Daneben reihte er zwei Pfeifen, Feuerzeug, Tabak und das Pfeifenbesteck auf. Ein Kellner erkundigte sich mit eingeübter Höflichkeit nach seinen Wünschen. Körting versuchte, den Mann routinemäßig einzuordnen. Älteres Semester, Augen eines Wiesels, hager, zurückgekämmtes Haar, pomadig glänzend. Der schwarze Anzug hatte schon bessere Tage gesehen. Genau der Typ, der in Körtings Pläne passte. Er bestellte einen großen Mokka und Mineralwasser. Der Kellner wiederholte die Bestellung. Als ob es dabei Missverständnisse geben könnte!

Körting spielte auffällig mit seiner Visitenkarte. Die Spitze eines Geldscheines lugte dahinter hervor.

»Darf ich Sie um einen kleinen Gefallen ersuchen?« Der Blick des Kellners löste sich von dem Schein. Er hatte den Wert an der Farbe erkannt. Die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel.

»Ich erwarte einen Gast, in …«, Körting blickte wieder auf die Uhr, »etwa 15 Minuten. Wir kennen uns nicht. Deshalb möchte ich Sie ersuchen, den Gast an meinen Tisch zu führen. Möglichst langsam. Ich hätte gerne zumindest eine Minute Zeit, um mir vorher einen ersten Eindruck zu verschaffen! Würden Sie das für mich tun?«

»Eine Dame?« Der Kellner bemühte sich um einen unverfänglichen Gesichtsausdruck.

»Nein. Es handelt sich um einen Mann, er dürfte etwa um die fünfzig sein. Vielleicht auch älter.« Körting reichte ihm die Visitenkarte. Der Kellner zog den Geldschein blitzartig dahinter hervor und ließ ihn in seine Tasche gleiten.

»Es wird mir ein Vergnügen sein, den Herrn ausnehmend langsam an Ihren Tisch zu geleiten, Herr …«, er warf einen Blick auf die Karte, »Doktor Martin Körting!« Er starrte immer noch auf die Karte und fügte dann fast ein wenig ehrfurchtsvoll »Journalist bei business actuel« hinzu.

Auf einem seitlich aufgestellten schmalen Tisch lagen Zeitungen und Magazine für die Gäste bereit, business actuel war eines der führenden Wirtschaftsmagazine. Ein Exemplar davon lag sicherlich ebenfalls dabei. Vermutlich würde der Kellner bei der nächsten Gelegenheit nachblättern, welche Artikel von Martin Körting stammten. ›Das hat einer meiner Gäste geschrieben, dem ich hin und wieder einen kleinen Gefallen tue!‹

Körting stopfte sich eine Pfeife. Während er sie anzündete, überflog er gleichzeitig den Wirtschaftsteil der Tageszeitung. Ein winziger Funkenregen bestäubte die Zeitung. Er wischte ihn mit der Hand zur Seite. Einer der Gründe, weshalb er Tischplatten aus Marmor bevorzugte. Bei weißen Tischtüchern waren ihm die Spuren, die er durch seine Unachtsamkeit hinterließ, immer peinlich.

Der Kellner servierte den Kaffee. Dienstbeflissen entfernte er Tabakkrümel und Aschereste vom Tisch. »Sie schreiben nicht zufällig in nächster Zeit etwas über alte Kaffeehäuser, Herr Doktor Körting?« Er strich sich übers Haar und zupfte affektiert seine Fliege zurecht.

»Bedaure! Reportagen dieser Art fallen nicht so ganz in mein Metier.« Körting grinste. »Vorausgesetzt, im Hinterzimmer läuft nicht gerade eine groß angelegte Aktientransaktion!«

»Schade! Ein bisserl Werbung könnten wir ganz gut brauchen!« Sein Blick glitt über die spärlich besetzten Tische. Manche der Gäste lasen sämtliche Zeitungen und konsumierten dabei höchstens zwei Tassen Kaffee. Kein sehr einträgliches Geschäft. Aber das Flair der alten Wiener Kaffeehäuser übte auf viele junge Menschen keinen Reiz mehr aus. Sie bevorzugten In-Lokale; teure, aromatisierte Kaffeevarianten, Fast Food, Pappbecher.

»Ich werde Ihre Anregung an einige Kollegen weiterleiten. Für Fotoreportagen besteht sicherlich ein gewisser Anreiz.« Körting dachte bedauernd daran, wie viele von den einst schönen alten Kaffeehäusern bereits verschwunden waren. An ihrer Stelle gab es jetzt unpersönliche Bankfilialen oder Sonnenstudios. Vielleicht hätte man die traditionellen Wiener Kaffeehäuser besser als Touristenattraktionen vermarkten sollen? Allerdings wäre dann vermutlich ihr typischer Charakter verloren gegangen.

»… ein schnittiger Sportwagen. Mit offenem Verdeck. Aber nichts Ausgefallenes«, sagte der Mann am Nebentisch. »Ein Porsche vielleicht! Ja, genau! Ein rotes Porsche-Cabrio! Das ist es! Auffällig, aber nicht exotisch. Ein roter Porsche!« Gleichzeitig schien ihm bewusst zu werden, wie laut er gesprochen hatte. Unverzüglich senkte er seine Stimme.

Körtings Aufmerksamkeit war geweckt. Genau konnte er nur den Rücken des Mannes sehen. Schütteres graues Haar, das wirr vom Kopf abstand. Ein grauer Anzug. Zerknittert, fleckig, etwas zu eng. Richtig gepasst hatte er wohl, als der Mann ein paar Kilo leichter gewesen war. Was wollte er mit einem roten Porsche? So wie Martin ihn einschätzte, konnte er sich wahrscheinlich gerade noch einen alten Opel leisten.

Der Mann sprach jetzt leise und beschwörend zu seiner Begleiterin. Er wirkte angespannt und aufgeregt. Was war er? Ein arbeitsloser Vater, der seine Tochter um Geld anschnorrte? Kaum anzunehmen. Dazu verhielt sie sich zu kühl und distanziert. Und was hatte es mit dem Porsche auf sich? Sie schien ihm eigentlich nicht der Typ zu sein, den ein Porsche beeindruckte, schon gar nicht ein roter! Körting schmunzelte innerlich. Journalisten! Sie dachten sich immer wieder Geschichten aus. Neugierde gepaart mit Fantasie. Eine Kombination, die zu den eigenwilligsten Ergebnissen führte. Nun, in seinem Beruf war das nicht unbedingt ein Nachteil. Körting griff nach seiner Kaffeetasse.

»Oh, ich bin ziemlich gut!«, sagte die junge Dame am Nebentisch. Körting warf ihr einen erstaunten Blick über den Rand der Tasse zu. Sie fing seinen Blick auf, lächelte verschmitzt und hob in gespielter Verlegenheit die Schultern.

»Bei Ihren Honorarforderungen darf man das sehr wohl voraussetzen! Ich erwarte …« Der Mann brach unvermittelt ab. Verwirrt drehte er sich zu Körting um. Gleich darauf wandte er sich wieder seiner Gesprächspartnerin zu. Er schien jetzt noch nervöser. Tupfte mit einem Taschentuch über seine Stirn und flüsterte dabei eindringlich. Die junge Frau wirkte amüsiert. Doch sie beugte sich ein wenig vor und ließ gekonnt ihr Haar über das Gesicht gleiten. Um es noch mehr zu verdecken?

Körting stopfte seine Pfeife nach. Ein neuerlicher Funkenregen ergoss sich über die Zeitung. Er konnte ihn nicht rasch genug entfernen. Der Mann schob gerade seiner Begleiterin ein schmales weißes Kuvert zu. Sie steckte es ungeöffnet in ihre Handtasche. Der Dicke schien überrascht. Körting war enttäuscht. Er hätte zu gerne gewusst, ob sich in dem Kuvert Geld befand und wenn ja, wie viel. Wie hoch waren Honorarforderungen, wenn man ziemlich gut war? Und vor allem, worin? Das war die Frage. Er würde es wohl nie erfahren. Der Mann erhob und verabschiedete sich. Sie nickte nur zu seinen hektisch geflüsterten Worten und blieb sitzen.

Als Körting seine Aufmerksamkeit wieder der Zeitung zuwandte, hatten glimmende Tabakpartikel bereits etliche versengte Pünktchen auf dem Artikel, den er eigentlich lesen wollte, hinterlassen. Er überlegte, ob er versuchen sollte, mit der jungen Frau am Nebentisch ins Gespräch zu kommen. Aber sie würde ihm wohl kaum bereitwillig verraten, wofür sie hohe Honorarforderungen stellte. Außerdem musste der Informant, mit dem er verabredet war, ohnehin jeden Moment eintreffen. Körting blickte auf seine Uhr und danach zum Nebentisch.

Die junge Frau hatte ihr Haar völlig aus dem Gesicht gestrichen und befestigte gerade eine Spange, die es im Nacken zusammenhalten sollte. Sie öffnete ein gelbes A4-Kuvert und breitete einige Unterlagen am Tisch aus. Es handelte sich um mehrere beschriebene Blätter und Fotos. Genaueres ließ sich von Körtings Position aus nicht erkennen. Sie setzte eine Brille auf und kaute gedankenverloren an einem Kugelschreiber, während sie die Schriftstücke studierte. Mehrmals fügte sie Kommentare am Rand hinzu oder kennzeichnete einzelne Stellen.

Nachdem sie so völlig in ihre Unterlagen vertieft schien, nützte Körting die Gelegenheit, ihr Gesicht zu studieren. Es war schmal und ausgesprochen ebenmäßig. Hübsch. Aber in einer Weise, die nichts von ihrer Persönlichkeit reflektierte. Wie eine Zeichnung als Basis für ein Porträt, dem erst Konturen hinzugefügt werden mussten, um Ausdrucksstärke zu erzielen. Trotzdem konnte man sie absolut nicht als farbloses Wesen bezeichnen. Das war sie keinesfalls. Mit ihrer großen Brille und dem zurückgekämmten Haar wirkte sie im Augenblick fast wie eine Lehrerin, die Prüfungsarbeiten korrigierte. Doch die Anspannung in ihrem Gesicht ließ darauf schließen, das vorliegende Material beanspruche ihre gesamte Konzentration. Hätte er nicht Worte wie ›Honorarforderung‹ und die Sache über den Porsche aufgeschnappt, hätte sie ebenso gut eine Journalistenkollegin sein können. Auf der Spur einer heißen Story.

Ein Mann betrat das Kaffeehaus und steuerte geradewegs auf den Kellner zu. Körtings Aufmerksamkeit galt augenblicklich dem Fremden. Der Kellner nickte mit dezentem Lächeln in seine Richtung, ließ dabei jedoch auffällig seinen Blick durch den Raum wandern. Bei den wenigen Gästen konnte er schwerlich behaupten, es wäre schwierig zu orten, an welchem Tisch Doktor Körting saß. Doch der Kellner machte seine Sache ganz gut. Bevor er mit dem Mann bei Martin Körting anlangte, hielt er nochmals inne, um sich nach dessen Bestellung zu erkundigen.

Körting hatte genug Zeit gehabt, den Mann einzuschätzen. Er war jünger als angenommen. Vielleicht Anfang vierzig. Ein Buchhaltertyp. Korrekt. Ruhig. Sachlich. Kein aufgeblasener Wichtigtuer, der Informationen teuer verkaufen wollte. Diesem Mann ging es um Gerechtigkeit. Nicht um Geld oder Rache. Das war eine solide Basis, bei der es sich lohnte, weitere Recherchen durchzuführen.

Körting warf noch einen flüchtigen Blick zu der jungen Frau am Nebentisch. Sie war völlig in die ausgebreiteten Unterlagen vertieft. Vielleicht war sie Anwältin und der schäbige Begleiter ihr Klient? Das könnte durchaus der Fall sein. Zwar schien sie ihm etwas jung für eine erfolgsgewohnte Anwältin, höchstens 28, doch das mochte täuschen. Die Puzzleteile fügten sich stimmig aneinander. Ihr Honorar war beachtlich, dafür würde sie ihren Klienten vermutlich erfolgreich verteidigen. Wieso war er nicht gleich darauf gekommen? Sie trug einen karierten Blazer und darunter ein farblich darauf abgestimmtes Top. Auch das Outfit entsprach der Anwaltstheorie. Nur die beiden großen Tragetaschen mit der bunten Aufschrift von Modehäusern neben ihr auf der Bank störten. Aber weshalb sollten Anwältinnen nicht Einkäufe tätigen, bevor sie sich mit ihren Klienten trafen?

Diese Angelegenheit wäre also geklärt. Es gab keine weiteren Rätsel zu lösen. Körtings Interesse erlosch. Er begrüßte den Mann, der ihm Informationen liefern wollte.