{5}1

Sie gingen rasch und zielstrebig die Straße entlang, die Frau geflissentlich die Blicke der Passanten meidend, der Hund, ohne ihrer gewahr zu werden. Er sah nicht nach rechts und nach links, mit ungerührtem, undurchschaubarem Blick trottete er neben ihr her. Wenn er aber zu einem Loch im Gehsteig kam, führte er Alice außen herum, und sie spürte den sanften, festen Zug seines Geschirrs und gehorchte ihm.

Ich möchte wohl wissen, ob ihm bewußt ist, daß ich nicht blind bin, dachte Alice.

An der Ecke blieb er stehen und beäugte kurz den Verkehr. Dann trat er auf die Fahrbahn, und Alice folgte ihm. Sie lächelte leicht. Wie gewissenhaft er ist, dachte sie, er tut seine Pflicht, ob er aber Freude daran hat, ist eine ganz andere Frage.

Auf der anderen Straßenseite beugte sie sich zu ihm hinunter und legte ihm kurz die freie Hand auf den Kopf.

»Guter Hund. Guter Prinz.«

Das Kompliment war ihm lästig. Er drehte den Kopf zur Seite, mit einer ablehnenden Bewegung, die »Nicht-hier-und-nicht-jetzt« bedeuten mochte, und ging weiter, sich sorgsam einen Weg durch die raschelnden Blätter bahnend.

Sie waren noch immer in der St. George Street, aber das Straßenbild hatte sich geändert. Der bröckelnde Glanz {6}vergangener Herrlichkeit, der verfallenen Paläste, an deren windschiefen Säulen und durchhängenden Veranden »Zimmer frei«-Schilder hingen, lag hinter ihnen. Dort, wo sie jetzt waren, reihten sich altmodische Teestuben, Tankstellen und studentische Verbindungsheime aneinander.

Sie verlangsamte den Schritt und sah prüfend auf die Hausnummern. Ein junger Mann in grauem Mantel kam ihr entgegen. Als er den Hund sah, blieb er stehen. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Der Hund gönnte ihm keinen Blick. Er ließ sich auf dem Gehsteig nieder und legte den Kopf zwischen die Pfoten.

Alice wandte sich um. Dem jungen Mann klebte ein nasses Blatt im Haar. Sie bemühte sich, völlig ausdruckslos vor sich hin zu sehen, wie Kelsey es tat, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen.

»Ja, danke. Ich suche das Haus von Dr. Loring.«

Er sah sie mit scheuer Neugier an, wie man Behinderte ansieht. Obwohl er glaubt, daß ich blind bin, dachte Alice, ist er zu höflich, um mich anzustarren.

»Gleich hier nebenan«, sagte er. »Darf ich Sie hinbringen?«

»Nein, danke. Prinz und ich finden uns schon zurecht.«

Prinz war bereits aufgestanden. Er spürte den Ruf der Pflicht, fühlte die leichte Bewegung ihrer Hand auf seinem Geschirr. Sie gingen weiter. Alice hätte sich gern umgedreht, weil sie wissen wollte, ob der junge Mann zurückschaute, aber sie hielt, noch immer lächelnd, den Blick auf Prinz gerichtet. Der junge Mann hatte ihr Spaß gemacht, er war ein so ernsthafter Typ und hatte offenbar keine Ahnung von dem Blatt gehabt, das in verwegenem Winkel sein Haar zierte.

Doch zugleich mit der Hochstimmung stellte sich das {7}nur zu vertraute Gefühl der Fremdheit, der Einsamkeit ein, weil es etwas so Dummes und Hinterhältiges war, woran sie ihren Spaß hatte.

Das Haus war alt, aber der Rasen war frisch geharkt, und das Schild »Dr. T. Loring« strahlte wie eine kleine Messingsonne. Ein weiteres Schild auf der Veranda trug die Aufforderung: »Bitte klingeln und eintreten.« Sie klingelte und öffnete die Tür mit den raschen, präzisen Bewegungen eines Menschen, der das Gefühl hat, hinter einem Vorhang beobachtet zu werden, und dem es wichtig ist, auf den Beobachter Eindruck zu machen.

Außer ihr war niemand in der Praxis. Sie hatte Angst davor gehabt, nicht die einzige zu sein, jetzt aber empfand sie keine Erleichterung. Die Angst war noch da, aber sie hatte sich geteilt wie eine Amöbe, und entstanden waren zwei neue, voll ausgewachsene Ängste, die selbständig durch ihre Blutbahn wanderten und sich immer wieder neu teilten. Angst vor Kelsey, Angst vor einem Skandal, Angst, daß sie sich geirrt haben könnte, Angst um ihre eigene Sicherheit.

Und vielleicht war er kein guter Arzt – noch weigerte sie sich, an ihn als Psychiater zu denken, verbot ihrem Verstand, ihrem Mund, das Wort auszuformulieren –, oder vielleicht waren seine Patienten überwiegend so schwere Fälle, daß sie nicht in die Praxis kommen konnten, wie der Kretin, dem sie vor Jahren einmal begegnet war, ein schnatternder, sabbernder Junge mit schwerer Zunge, der ihre feuchte Hand mit seiner heißen, trockenen gestreichelt hatte.

Prinz lag auf dem Boden zu ihren Füßen, nicht locker und entspannt wie ein normaler Hund, sondern wachsam die Augen bewegend.

{8}Alice hörte, wie die Tür aufging. Sie drehte sich nicht gleich um, sondern wartete, bis der Arzt fragte: »Miss Heath?«

Jetzt legte sie die Zeitschrift sorgsam aus der Hand, griff nach ihren Handschuhen und wandte sich ihm zu.

Er war nicht beängstigend, er trug nicht einmal einen weißen Kittel, der ihn von anderen jungen Männern unterschieden, als einen Menschen gekennzeichnet hätte, der mit dunklen, häßlichen Dingen zu tun hatte, mit Dingen, über die man nicht sprach. Trotzdem spülte wieder eine Welle des Unbehagens über sie hin, und sie machte eine leichte, rasche Bewegung, die Prinz hellwach machte und aufstehen ließ, bereit weiterzuziehen, unbekannte Orte, unbekannte Häuser aufzusuchen, gelangweilt und ohne viel Hoffnung, das alles je durchschauen zu können.

»Ich bin Dr. Loring.« Etwas unsicher sah er Prinz an. »Ist das Ihr Hund?«

Sie schüttelte stumm den Kopf. Am liebsten wäre sie weggelaufen, hätte ihm über die Schulter zugerufen: »Sie sind zu jung. Mit Ihnen kann ich nicht reden.«

Sie lief nicht weg. Sie zog nur einen Handschuh an, als Symbol der Fluchtbereitschaft.

»Er gehört meiner Schwester«, sagte sie. »Meine Schwester Kelsey ist blind.«

»Aha«, meinte er, als sei das für ihn Erklärung genug. »Und ihretwegen, wegen Ihrer Schwester, sind Sie gekommen?«

»Ja.«

»Nun gut. Bitte kommen Sie herein.« Das klang nüchtern-professionell. Er gab die Tür frei und nickte leicht. »Wollen Sie den Hund mitnehmen?«

»Nein«, sagte sie schnell. »O nein.«

{9}Er warf ihr einen raschen Blick zu und wiederholte, mit dem gleichen selbstzufriedenen Unterton: »Aha!«, als sagte er bei sich: So, damit wäre alles klar.

Das ärgerte sie, und um ihren Ärger zu kaschieren, lachte sie leise und nervös auf. »Er erinnert mich an eine meiner Gouvernanten. Der entging nie etwas, sie hat sich nie aufgeregt, und sie ist nie laut geworden.«

Sie ging zur Tür und streifte dabei den Handschuh wieder ab. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Loring machte geräuschvoll die Tür zu und begann lärmend herumzuhantieren: Er rückte ihr einen Stuhl zurecht, schob scharrend seinen Stuhl nach hinten, stellte eine Lampe beiseite, die ihm im Wege war. Nachdem sie sich gesetzt hatte, lärmte er weiter. Er ging einmal durchs Zimmer und zurück, er verstaute Papiere im Aktenschrank und ließ knallend die Schranktür zufallen.

Sie sah ihm zu, und diesem Sperrfeuer von Lärm und Bewegung hielt ihre Nervosität nicht stand. Als er merkte, daß sie aufgehört hatte, mit ihren Handschuhen zu spielen, setzte er sich unvermittelt an seinen Schreibtisch.

»Das war sehr gut«, sagte sie.

»Was?« fragte er argwöhnisch.

»Ihr Versuch, mir die Befangenheit zu nehmen. Er war natürlich vergeblich. Vielleicht, wenn Sie älter wären …«

»Nein, das würde an Ihren Schwierigkeiten nichts ändern«, sagte er knapp. »Es liegt daran, daß Sie nicht Ihretwegen gekommen sind. Wären Sie selbst die Patientin, könnten Sie es kaum erwarten, mir Ihr Herz auszuschütten.« Er fing an, mit raschen Handbewegungen den Block zu beschreiben, der vor ihm lag, dabei sah er kaum einmal auf den Füllhalter, warf nur hin und wieder einen raschen Blick auf Alice.

{10}»Kelsey. Wie alt?«

»Sechsundzwanzig. Zwei Jahre jünger als ich.«

»Geschwister?«

»Ein Bruder, John. Er ist dreißig.«

»Eltern?«

»Meine Mutter ist tot. Sie ist vor eineinhalb Jahren an Krebs gestorben, kurz nach Kelseys Erblindung.«

»Ein Unfall?«

»Ja.« Er runzelte ungeduldig die Stirn. »Soll ich Ihnen von dem Unfall erzählen?«

»Lebt Ihr Vater noch?«

»Ja.«

»Also gut. Der Unfall.«

»Sie fuhr an dem Abend Johnnys Wagen. Sie waren auf dem Weg zu einer Party und –«

»Sie?«

»Johnny und seine Freundin und Kelsey und Philip James. Die Freundin kam ums Leben.«

»Soso.« Er sah interessiert auf. »Die Freundin kam ums Leben, Ihre Schwester erblindete. Und Ihre Schwester saß am Steuer. War sie mit dem Mädchen befreundet?«

»Nein, Johnny hatte sie mitgebracht, sie war eine seiner Freundinnen. Kelsey hatte sie noch nie gesehen.«

»Und Mr. James?«

Sie wandte den Kopf und sah aus dem Fenster. »Mr. James war – ist – mit Kelsey verlobt.«

»War … ist …« wiederholte Loring. »Warum diese Korrektur?«

»Ich habe mich vertan«, sagte Alice gepreßt. »Er ist mit ihr verlobt. Es war ein Versprecher.«

»Na schön.« Er legte den Füller aus der Hand, rieb sich die Augen und wartete.

{11}»Das ist so«, sagte Alice schließlich. »Er will sie heiraten, aber sie will nicht. Sie läßt ihn seit zwei Jahren warten. Er wohnt bei uns im Haus und wartet darauf, sie heiraten zu können. Sie waren verlobt, als der Unfall passierte.«

Sie sprach langsam, als sei sie in die Vergangenheit zurückgekehrt und müsse sich zwischen Gespenstern ihren Weg suchen. »Als Kelsey aus dem Krankenhaus kam, wußte sie, daß es keine Heilung für sie gab, daß sie den Rest ihres Lebens blind sein würde. Sie hat Philip nicht warten lassen, bis sie es wußte. Sie hat es von Anfang an gewußt. Sie hat nie damit gerechnet, nie darauf gehofft, wieder sehen zu können. So etwas gibt es bei Kelsey nicht, sie duldet keine Selbsttäuschung, sie geht nicht zimperlich mit sich um.« Alice hielt inne, tastete sich in die Gegenwart zurück. »Und Philip wartet. Sie reden jetzt nicht mehr über die Hochzeit, sie nennt keinen Grund, nichts wird offen angesprochen. Seit ein paar Monaten trägt sie seinen Ring nicht mehr. Sie hätte ihn verloren, behauptete sie. Später mußte ich ein neues Dienstmädchen einstellen. Sie heißt Ida. Etwa zwei Wochen, nachdem Ida ihren Dienst angetreten hatte, trug sie den Ring. Am kleinen Finger. Kelsey hatte ihn ihr geschenkt.«

»Eigenartig«, sagte Loring.

»Außer mir hat es noch niemand gemerkt, und ich habe nicht mit Kelsey darüber gesprochen, aber sie wartet darauf, daß ich das Thema anschneide. Ich merke es daran, wie sie mich ansieht. Halb hinterhältig, halb herausfordernd.« Sie holte tief Atem. »Sie ist fertig mit Philip. Ich habe den Eindruck, daß sie ihn haßt, aber sie ist nicht bereit, ihn freizugeben.«

Wieder schrieb er rasch etwas, und dieser Anblick, die Erkenntnis, daß er festhielt, was sie sagte, bestürzte sie.

{12}»Es wäre mir lieber, wenn Sie das nicht aufschreiben würden«, sagte sie sehr förmlich.

»Warum nicht?« Er lächelte schmal. »Stimmt es nicht?«

»Natürlich stimmt es«, sagte sie schroff. »Was soll diese Bemerkung? Glauben Sie, ich würde mich all der Mühe, dieser Demütigung unterziehen, um Ihnen ein Lügenmärchen vorzusetzen?«

Er war jung und unerfahren genug, um sich an ihrem Ton und an dem Wort »Demütigung« zu stoßen, aber er hielt sein Lächeln fest. Er hatte die natürliche Gegnerschaft zwischen dieser Frau und ihm erkannt.

Es liegt daran, dachte Loring, daß wir fast gleichaltrig sind und daß sie zu den Frauen gehört, die sich automatisch, instinktiv in den Kampf der Geschlechter stürzen, die den Pulverdampf meilenweit riechen. Er sah sie an und wußte, daß sie ein- bis zweimal täglich ein Bad nahm und sich von Kopf bis Fuß umzog, daß sie sorgfältig, aber diskret die Lippen nachmalte, ja nicht zu auffällig, daß sie die Nase rümpfen, ja, daß sie wohl in Ohnmacht fallen würde, wenn sie an einem Regentag mit der Harbord Street-Straßenbahn fahren müßte. Der Geruch der Massen, die Tuchfühlung mit ihnen, das wäre zu viel für sie. Er überlegte, wie ihre Eltern gewesen sein mochten und was für ein Leben sie wohl geführt hatten.

»Wie alt ist Ihr Vater?« fragte er schroff.

»Dreiundfünfzig. Wollen Sie weiter Fragen stellen, oder soll ich erzählen?«

»Erzählen Sie.«

»Es war nicht fair, Ihnen das von Kelsey zuerst zu sagen, sie gewissermaßen aus dem Zusammenhang zu reißen. Wir sind … wir sind alle etwas wunderlich, würde ich sagen, bis auf Johnny. Sie kennen sicher Familien, in denen das {13}ungesprochene Wort mehr Macht hat als das gesprochene, in denen alle Geschehnisse zu kaum greifbaren Andeutungen, halben Gedanken, schattenhaften Gefühlen schrumpfen … Verstehen Sie, was ich meine?«

»Introvertiert«, sagte Loring. »In sich gekehrt.«

»In sich gekehrt«, wiederholte sie. »Dem eigenen Selbst, der eigenen Familie zugekehrt.« Sie lächelte verlegen. »Uns umgibt ständig eine geradezu mit Händen faßbare Atmosphäre. Wenn es etwas zum Mittag gibt, was Kelsey nicht mag, knistert es im Speisezimmer. Klingt ungemütlich, wie?«

Er lächelte. »Kann man wohl sagen.«

»Nur Johnny ist anders. Er spürt die Atmosphäre, aber sie verwundert ihn nur. Er ist sehr einfältig.«

»Das kann vielerlei bedeuten.«

»Er ist kein Kretin«, sagte sie scharf. »Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, daß es leicht fällt, seine Reaktionen vorauszusagen.«

»Also eher ein schlichtes Gemüt.«

»Ja. Ganz früher mag auch mein Vater so gewesen sein. Er und meine Mutter hatten nicht viel … Sie haben sich gehaßt.«

Er nickte, als habe sich damit eine von ihm gehegte Vermutung bestätigt. »Kinder aus inkompatiblen Ehen sind häufig extrem scharfsichtig. Sie gewöhnen sich daran, schon die kleinsten Anzeichen von Spannung zu deuten. Weil sie Zank und Streit fürchten, erkennen sie sehr schnell, wenn sich etwas Derartiges anbahnt.«

»Von Zank und Streit kann keine Rede sein.«

Aufschlußreich, dieser prompte Widerspruch, dachte Loring. Es stört sie nicht preiszugeben, daß ihre Familie wunderlich oder gar neurotisch ist. Neurosen kommen in {14}den besten Familien vor. Zank und Streit dagegen sind ordinär.

Bei der Andeutung von etwas so Ordinärem wie Zank und Streit veränderten sich ihr Tonfall und ihre Ausdrucksweise. Ihre Stimme triefte vor Bildung, und sie formulierte bewußter, machte Pausen, um nach dem treffenden Wort, dem aussagekräftigen Satz zu suchen.

»Nein, es gab keinen Zank und Streit«, sagte sie, »nur diese Atmosphäre war immer da, in dicken schwarzen Wolken. Anfangs waren sie ineinander verliebt. Er hat sie aus Liebe geheiratet, aber weil sie Geld hatte, war sie dessen nie ganz sicher. Vater spricht selten darüber, aber vor Jahren, noch vor ihrem Tod, hat er mir einmal gesagt, man dürfe eine reiche Frau ruhig um ihres Reichtums willen, nicht aber aus Liebe heiraten. Dadurch bekommt sie zu viel Macht über dich, sagte Vater, und du wirst doppelt verletzlich. Und dann war sie auch fast ihr ganzes Leben lang krank. Sie hatte eine leise, kränkliche Stimme, und ihre Knochen waren zart und brüchig, aber sie hatte ein stählernes Rückgrat. Sie hat nicht gern gelebt, aber ich glaube, mit dem Sterben tat sie sich noch schwerer. Es war ihr unerträglich, daß sie sterben mußte, während er weiterleben durfte. Ich erzähle Ihnen von ihr, damit Sie das mit Kelsey verstehen.«

Ihre Sprechweise hatte einen sonderbaren Rhythmus, der an Lorings Nerven zerrte. Es ist fast, dachte er, als habe sie diesen Rhythmus absichtlich gewählt, zur Unterstreichung und Erläuterung ihrer Worte, wie eine unsichtbare Fußnote: Wir sind alle wunderlich, sogar unsere Sprechweise ist wunderlich, op. cit., ibid.

»Als sie starb, waren wir unglaublich erleichtert. Auch traurig, gewiß, aber vor allem erleichtert, weil wir dachten, {15}nun wären wir sie los. Aber das war ein Irrtum, denn in Kelsey ist sie wieder da. Nichts hat sich geändert, nicht einmal das Finanzielle. Sie hat alles Kelsey hinterlassen, bis auf den letzten Cent. Wir wohnen in Kelseys Haus und essen Kelseys Brot.«

»Bleiben Sie deshalb dort?«

»Weil ich freie Kost und Logis habe? Nein, so einfach ist das nicht. Wir könnten alle auf eigenen Füßen stehen. Johnny hat eine Stellung, Philip ist Pianist, und ich … ich könnte zumindest einen Haushalt führen, das mache ich ja jetzt auch. Nein, wir bleiben nicht aus wirtschaftlichen Gründen, wir bleiben, weil wir nicht weggehen können. Sie ist blind, wir können sie nicht im Stich lassen.«

»Gewissensbisse?«

»Wenn Sie unbedingt ein Etikett brauchen«, sagte sie ärgerlich, »nennen Sie es meinetwegen so.«

»Dabei hatte doch mit dem Unfall keiner von Ihnen etwas zu tun, oder doch?«

»Nein. Sie saß selbst am Steuer. Es war ihre Schuld. Sie kann uns keinen Vorwurf machen.«

»Tut sie das?«

»Nicht ausdrücklich, aber in ihrer Haltung. Sie ist verbittert und feindselig. Man hat den Eindruck, daß sie niemanden leiden kann, außer Ida.«

»Das Dienstmädchen, das den Ring trägt?«

»Ja. Sie vermittelt uns das Gefühl, daß wir ihre Blindheit auf dem Gewissen haben, ein Gefühl der Schuld und der Scham. Dabei haben wir alle nichts getan, wofür wir uns schämen müßten.«

Sie hielt inne und wartete auf ein beruhigendes Wort von ihm: »Aber nein, natürlich nicht …«

Er schwieg, und sie senkte den Blick. »Ich habe nichts {16}getan, wofür ich mich schämen müßte – bis heute. Bis zu meinem Besuch bei Ihnen. Ich hätte nicht kommen sollen. Sie ist nicht verrückt, sie ist verstiegen. Ich hatte mir eingebildet, Sie könnten ihr helfen und uns auch. Ich hätte nicht herkommen sollen. Könnte ich nicht einfach zahlen und wieder gehen?«

»Das könnten Sie natürlich«, sagte Loring, »aber es wäre hinausgeworfenes Geld. Kelseys Geld. Sind Sie wirklich nur wegen Ihrer Schwester gekommen? Nicht vielleicht Ihretwegen?«

»Meinetwegen?«

»Kein ganz abwegiger Gedanke«, sagte er trocken. »Ich habe Patienten – insbesondere junge Frauen wie Sie –, die schlicht und einfach zum Reden kommen. Einsiedlerische, einsame Frauen, die keinen Psychiater brauchen, sondern nur einen Menschen, der ihnen zuhört. Manchmal kommen sie zweimal im Jahr und erzählen mir von ihrem Beruf und ihrem Leben und ihrer Familie. Manchmal sind sie verliebt, dann – das kommt auf den Liebhaber an – strahlen sie oder sind in Tränen aufgelöst. Meist aber verläuft ihr Leben von einem Besuch zum anderen völlig ereignislos, dann greifen sie auf Vergangenes zurück, auf Begebenheiten, die sie mir schon mal erzählt haben, ich höre mir an, wie Onkel Charley aus Montana sie besuchte, als sie vier waren, und wie viele Karten zum Valentinstag sie in der vierten Klasse bekamen … Für diese einsamen Herzen kann ich nichts tun. Macht fünf Dollar, bitte. Hoffentlich hat Ihre Schwester was für ihr Geld bekommen.«

Sie machte keine Anstalten, in ihre Handtasche zu greifen. »Ich habe keinen Onkel Charley, und ich bin nicht in eine öffentliche Schule gegangen.«

»Nein? Dann eben etwas anderes.«

{17}»Und ich habe nicht von mir gesprochen«, sagte sie ruhig. »Nur soweit, wie es nötig war, um Ihnen eine Vorstellung von Kelsey zu vermitteln.«

»Stimmt auch wieder.« Er lächelte leicht. »Ich bitte um Verzeihung. Mein Beruf erzieht zum Mißtrauen.«

»Es freut mich, daß Sie Einsicht zeigen. Und weil ich Ihnen nicht nachstehen möchte, will ich gern zugeben, daß ich nicht eigentlich wegen Kelsey hergekommen bin und auch nicht meinetwegen. Unabhängig von dem, was die anderen letztlich machen – ich werde bei Kelsey bleiben müssen. Ich erwarte nicht viel vom Leben, deshalb macht es mir nichts. Aber ich möchte, daß Sie Johnny und Philip retten.«

»Retten?« wiederholte er ironisch. »Wovor?«

»Vor Kelsey, vor dem Schuldgefühl, das sie dort festhält, obgleich sie eigentlich weggehen und ihr eigenes Leben führen müßten. Sie hält Philip nur, weil sie will, daß er leidet. Sie sagt ihm, er soll gehen, und wenn er sie beim Wort nimmt, läßt sie ihn nicht weg.«

»Sie ist keine Hexe«, sagte Loring. »Und er ist kein Krüppel.«

»Das stimmt nicht. Sie hat etwas von einer Hexe, und er, denke ich, hat etwas von einem Krüppel. Philip ist nicht stark genug, um sich gegen sie durchzusetzen. Und jetzt ist es noch schlimmer geworden. Seit einem Vierteljahr bildet sie sich ein, daß Augen auf sie gerichtet sind. Eine Wand von Augen.«

Er beugte sich vor. »Wessen Augen?«

Alice sah und hörte ihn nicht. »Sie hat sich mit einer Wand von Augen umgeben, unseren gesunden Augen, den Augen der Menschen, die sie hassen und belauern und darauf warten, daß sie stirbt. So erzählt sie es. Daß die Augen {18}sie anschauen und warten. Gestern hat sie sich in die Wand gekrallt, in eine richtige Wand, ihre Zimmerwand, und hat versucht …«

Sie unterbrach sich und holte tief Atem. »Letty hat sie gefunden, sie lag auf dem Boden und weinte.«

»Letty?«

»Die Pflegerin meiner Mutter. Es ist grauenvoll, einen blinden Menschen weinen zu sehen, Augen, die nicht sehen können, dürften nicht weinen, blinde Augen sollten tränenlos und unsichtbar sein. Aber da lag sie und weinte. Ihre Augen sehen ganz normal aus, sie sind nicht verblaßt, sie wirken wie neu.«

»Jetzt fangen nicht Sie an zu weinen!«

Sie sah ihn groß an. »Ich bin nicht eins Ihrer verliebten einsamen Herzen.«

»Es sind nicht meine einsamen Herzen«, sagte er gereizt. »Werden Sie nicht persönlich. Ich habe Ihnen nichts getan.«

»Sie sind kalt und mitleidlos, und Sie sind zu jung. Ich habe kein Vertrauen zu Ihnen. Ich möchte nach Hause.«

»Fünf Dollar«, sagte Loring resigniert.

Sie erhob sich halb. Er streckte die Hand aus und machte eine heftige Stoßbewegung auf sie zu. Die Hand traf sie nicht, aber die Geste war so gewalttätig, daß Alice angsterfüllt auf den Stuhl zurücksank.

»Jetzt haben Sie mich in Wut gebracht«, sagte er. »Wenn ich wütend werde, verdoppelt sich mein Preis. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Gehen Sie, solange Sie noch bei Kasse sind. Versuchen Sie es beim Kollegen Graham von Medical Arts. Er ist doppelt so alt wie ich und doppelt so mitfühlend und infolgedessen doppelt so teuer und doppelt so reich. Der dürfte Ihnen in jeder Beziehung liegen.«

{19}»Sie können mich nicht vor die Tür setzen. Ich will ja gar nicht weg. Ich … ich bin ganz durcheinander.«

»Sie sind durcheinander, weil Sie zu viel reden. Sogar mich haben Sie zum Reden gebracht.« Er sah, daß sie gleich weinen würde, und sagte begütigend: »Erzählen Sie mir von Ihrer Schwester. Ach du lieber Himmel …«

Sie weinte mit der gleichen stillen Intensität, mit der sie sprach. Es dauerte eine Weile. Sie hielt sich den Ärmel ihres Kostüms vor die Augen, weil er ihr Gesicht nicht sehen sollte. Als es vorbei war, ließ sie den Arm sinken, und er bemerkte erschrocken die beiden trockenen, tiefen Furchen, die sich von der Nase zum Mund zogen. Sie sah aus wie vierzig. Im Gegensatz zu den einsamen Herzen empfand sie Tränen nicht als Balsam.

Vermutlich weint sie sonst nie, dachte Loring, warum zum Teufel weint sie jetzt?

»Bitte erzählen Sie mir von Ihrer Schwester«, sagte er. »Was erwarten Sie in dieser Sache von mir?«

»Daß Sie sich Kelsey ansehen«, sagte Alice. »Mit ihr sprechen. Ihr die Motive für ihre Handlungsweise begreiflich machen. Sie zu der Einsicht bringen, daß sie nur ihr eigenes Leben zerstört.«

»Ziemlich viel verlangt.«

»Ja, aber sie ist vernünftig, sie denkt im Grunde sachlicher und vernünftiger als wir alle. Und das eine oder andere … also ich glaube, einiges ist nur gespielt. Nicht das mit den Augen, aber einige andere Sachen. Sie tut, als habe sie vergessen, daß sie früher geraucht hat, und verbietet uns, im Haus zu rauchen.«

»Hatte sie geraucht, als es zu dem Unfall kam?«

»Nein. Sie hatte Philip gebeten, ihr eine Zigarette anzuzünden. Die Wagenfenster standen offen, und Philip {20}beugte sich nach unten, die Hände um das Streichholz gelegt, als es krachte. Er hat im letzten Augenblick noch versucht, ins Steuer zu greifen.«

»Wird sie mich freiwillig empfangen?«

»Nein. Sie weiß nichts von meinem Besuch bei Ihnen. Wäre es … wäre es Ihnen möglich, zu uns zu kommen? Wir könnten so tun, als seien Sie ein guter Bekannter von mir. Sie könnten zum Tee kommen. Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber …«

»Nein, ich trinke gern Tee«, sagte er trocken. »Wann?«

»Morgen?«

»Einverstanden. Was ist mit dem Hund?«

Sie sah ihn groß an. »Mit dem Hund?«

»Warum haben Sie ihn mitgebracht?«

»Ach so.« Sie zögerte. »Ich weiß, was Sie denken. Daß ich vielleicht selbst gern die Blinde spiele, aus Gründen der Identifikation …«

»Sie fangen schon wieder an.«

»Ich habe ihn mitgebracht, damit er in Übung bleibt. Genügt Ihnen das?«

»Ja, durchaus. Morgen um welche Zeit?«

»Um vier. Meine Adresse haben Sie. Wie … wie heißen Sie mit Vornamen?«

»Tom.«

»Ich heiße Alice. Sie kommen wohl besser nicht als Arzt. Als was wollen Sie kommen?«

»Ich war mal Versicherungsvertreter«, sagte Loring. »Davon verstehe ich was.«

»Ich hoffe … ich bin sicher, daß Sie helfen können.«

»Erhoffen Sie sich nichts«, sagte er schroff. »Ihre Schwester ist blind, und sie ist jung, und sie war verliebt. Wie könnte ich ihr da helfen? Das Augenlicht kann ich ihr nicht {21}zurückgeben.« Er machte die Tür auf und sah Prinz. »Wie würde es Ihnen gefallen, sich von einem Hund herumführen zu lassen?«

Sie ging an ihm vorbei und sagte, ohne sich umzudrehen, »Sie können es doch wenigstens versuchen, nicht?«

»Na sicher«, sagte er zynisch.

»Auf Wiedersehn.«

»Auf Wiedersehn.«

Er sah ihr vom Fenster aus nach. Bewundernswert, dieser Gang, dachte er, diese geschmeidig-arrogante Art, sich zu bewegen. Als habe sie jeden Zoll des Gehsteigs bezahlt und als sei er von ihrem eigenen Bauingenieur ausgeführt worden. Garantiert ohne Löcher.

{22}2

Sie lag auf dem Sofa am Fenster, den Hals zur Seite gedreht, so daß ein Stück blaugerüschte Tüllgardine sanft ihr Haar berührte und sie verlocken wollte, wach zu werden. Noch aber war sie nicht bereit dazu, sie würde aufwachen, wenn die Sonne um die Fensterecke gekommen war und allmählich ihr Haar, ihre Stirn und schließlich ihre Lider wärmte.

Auch als die Sonne da war, machte sie die Augen nicht auf. Sie blieb still liegen und spürte die Hitze wie heiße Eisenspäne auf den Lidern. Genießerisch schmeckte sie den Schmerz, machte keine Anstalten, mit dem Kopf aus der Sonne zu rücken oder die Hand zu heben, um die Jalousie herunterzulassen. Sie brauchte das Wissen, daß die Sonne schien, daß es hell im Zimmer war, und sie mußte allein zu diesem Wissen gelangen, ohne daß es nötig war, die anderen zu fragen: »Ist die Sonne heute da?«

Nicht einer von ihnen würde einfach ja oder nein sagen, ohne Mitleid oder Ungeduld, ohne den Zusatz, daß das Laub sich färbte und die Blätter fielen, und ohne sie zu einem Spaziergang animieren zu wollen. Sie hatte in solchen Fällen Mittel und Wege, die anderen zu überlisten, ihnen keine Chance zu geben. Sie hatten sich verschworen, sie aus dem Haus und auf die Straße zu treiben, wo die Passanten sie anstarren oder aber eilig an ihr vorübergehen {23}würden, um sie nicht anstarren zu müssen. Draußen war sie hilflos, sie würde sich in totaler Abhängigkeit an Alice klammern oder auf das Geschirr von Prinz stützen müssen.

Nein, sie würde keinen Fuß vor die Tür setzen, so leicht gedachte sie ihnen den Sieg nicht zu machen. Sie waren die Abhängigen, waren diejenigen, die nicht an ihr vorbeikamen.

Kelsey hörte, wie die Tür aufging und jemand das Zimmer betrat. Sie regte sich nicht, fragte nicht: »Wer ist da?« Diese Unabhängigkeit erfüllte sie mit schmerzlichem Stolz. Wenn sie Geduld hatte, würde sie nach einer Weile erkennen, wer hereingekommen war. Es konnten nur Letty oder Alice oder Ida sein, und sehr bald würde ein typisches Geräusch die eine von den anderen unterscheiden. Kelsey blieb still liegen und horchte.

Aber Letty wußte, daß sie nicht schlief, dazu waren ihre Arme zu steif, der Körper zu starr, als verweigere er sich dem Schlaf, als sei Entspannung eine Schwäche oder der Schlaf eine Gefahr.

Einmal machte Letty den Mund auf. »Kelsey?« wollte sie sagen und sich damit zu erkennen geben, aber dann tat sie es doch nicht.

Sie schmollt wieder, dachte Letty, aus irgendeinem lächerlichen Grund schmollt sie und tut, als ob sie schläft. Nein, es ist subtiler. Sie will nicht, daß ich glaube, sie schläft, sie will, daß ich weiß, daß sie sich schlafend stellt.

Seufzend wandte Letty sich wieder dem Kleiderschrank zu und nahm Kelseys restliche Sommerkleider heraus. Dabei summte sie leise vor sich hin, damit Kelsey sie erkannte. Kelseys duftige Kleider wirkten seltsam verloren in ihren großen, knochigen Händen, aber Letty, die früher unter ihrer Größe gelitten hatte, fiel der Kontrast nicht auf.

{24}Das Zimmer war kahl. An einer Wand stand Kelseys Bett, am Fenster das Sofa, sonst gab es an Möbeln nur noch eine Kommode, einen mit blauem Chintz bezogenen Sessel und einen kleinen Tisch am Bett. Das übrige Mobiliar hatte nach und nach weichen müssen: Das Bücherregal, die Bilder, die Spiegel, ein Toilettentisch, über den Kelsey mal gestolpert war.

Ein Bügel fiel scheppernd zu Boden. Letty bückte sich. Jetzt würde Kelsey aufwachen.

»Letty!«

Die Stimme drang nicht gedämpft durch wattige Schlafschichten, sondern sprang sie wach und zielsicher quer durchs Zimmer an. »Was war das, Letty?«

»Ein Kleiderbügel. Ich wollte deine Sommersachen wegräumen.«

»Jetzt?« Der Kopf hob, der Hals drehte sich, die Augen blickten kalt und ohne etwas wahrzunehmen. »Während ich schlief?«

»Hast du geschlafen? Das tut mir leid. Ich wollte es gern heute erledigen. Alice hat gesagt, daß sie den Schrank aussprühen will.«

Kelsey richtete sich auf und setzte die Füße auf den Boden. Sekundenlang spielte die Erinnerung ihr einen Streich, gaukelte ihr vor, sie habe die Augen geschlossen und brauche sie nur zu öffnen, um in dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand ihr Bild zu sehen, blonde Wuschellocken, schlanke Arme, die sich über den Kopf reckten, lange, lässige Beine. Sie würde die Augen aufschlagen und über den Teppich auf den Spiegel zugehen, und dabei würde das Bild immer klarer und hübscher werden, und ganz zum Schluß würde sie ihre Augen sehen, blau und noch schlafbefangen, aber erwartungsvoll dem neuen Tag entgegenblickend.

{25}»Sind die Spiegel fort?« fragte sie. »Alle?«

»Schon seit letzter Woche«, erwiderte Letty. »Du weißt doch, Alice hat geholfen …«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Jedenfalls sind sie weg, auch der im Badezimmer.«

»Im Badezimmer? Du hast doch nicht in meinen Sachen herumgeschnüffelt?«

»Nein«, sagte Letty. »Nein.«

Sie hob die Kleider auf und legte sie sich über den Arm, aber sie ging nicht zur Tür. Bei der kleinsten Bewegung würde die Stimme sie wieder anspringen und zurückholen.

»Du hast die Uhr nicht mitgenommen«, sagte Kelsey. »Ich höre sie.«

»Nein, das ist meine Armbanduhr. Die Standuhr ist weg.«

»Was stehst du da herum? Wie spät ist es?«

»Fast vier«, sagte Letty. »Heute ist Dienstag. Johnny kommt früher als sonst. Willst du dich nicht umziehen?«

»Dienstag«, wiederholte Kelsey. »Warum sagst du das so betont? Was ist denn am Dienstag?«

Letty ging zur Tür und machte sie leise zu. »Du weißt doch, Johnny bringt Besuch mit. Eine junge Frau, eine Miss Moore. Was willst du anziehen?« fragte sie sachlich.

Sie ging wieder zum Kleiderschrank und fummelte geräuschvoll darin herum, was nicht ihre Art war. »Das schwarze Kostüm wäre nett. Oder das blaue Wollkleid.«

»Warte! Ich habe John gesagt, daß ich keinen Wert darauf lege, diese Miss Moore kennenzulernen.«

»Aber später hast du gesagt, daß du einverstanden bist, daß du –«

»Das weiß ich nicht mehr. Ich gehe nicht nach unten. Ich kenne seine Weiber, die sind sowieso alle gleich.«

{26}Ihre Stimme klang trotzig, wie von den Zähnen der Vergangenheit benagt und aufgerauht. Nein, Johnnys Weiber waren nicht alle gleich, eine war anders als die anderen, eine hatte sich aus der Masse herausgehoben und sich Kelseys Gedächtnis eingeprägt. Ihr Gesicht war wie ein Tier, das in Kelseys Sessel kauerte, manchmal atmete es und erwachte zum Leben, ein grausiges, atmendes Gesicht. Dann starb es wieder, und das tote Gesicht war besser.

»Wie war doch gleich der Name?« fragte Kelsey.

»Der Name?« Letty wandte sich um. »Miss Moore.«

»Nein, von der anderen.«

»Ach, die … Ich weiß nicht mehr. Geraldine, glaube ich. Das blaue Wollkleid wäre nett, finde ich. Du könntest deine Saphire dazu tragen.«

Sie nahm, wieder sehr geräuschvoll, das Kleid aus dem Schrank und gab vor, Kelsey habe es nicht abgelehnt, nach unten zu gehen. Sie spielten dieses Spiel schon lange und kannten die Regeln. Kelsey machte an dem gelben Kleid, das sie trug, die obersten Knöpfe auf. Dann hob sie die Arme und wartete, bis Letty es ihr über den Kopf gezogen hatte.

»Es ist warm«, sagte Kelsey.

»Ich mache die Tür wieder auf.«

»Warum hast du sie überhaupt zugemacht?«

»Weil ich dachte, du würdest vielleicht Krach schlagen«, sagte Letty ruhig. »Wegen Miss Moore.«

»Weshalb sollte ich wegen Miss Moore Krach schlagen?« fragte Kelsey ganz vernünftig. »Sie bedeutet mir nichts. Und Johnny bedeutet sie auch nichts. Wahrscheinlich ist sie nicht gescheit genug, um zu durchschauen, daß Johnny sie nie heiraten wird. Kannst du dir Johnny als Ehemann vorstellen? Mit fünfunddreißig Dollar Gehalt in der Woche?«

{27}»Davon müßte er doch nicht leben«, sagte Letty. »Er hat ja noch seinen Monatswechsel.«

»Vorsicht mit meinem Haar. Nein, die andere Seite.«

»Den würdest du ihm doch nicht streichen«, sagte Letty.

»Ich habe abgenommen. Schau, der Gürtel ist zu weit. Nein, laß, jetzt ist keine Zeit mehr, ihn enger zu machen. Wir müssen uns beeilen.«

Sie beugte sich vor und zog, ganz langsam, um die Ironie deutlich zu machen, die Schuhe aus. Das war so Kelseys Art, Letty in ihre Schranken zu verweisen, die Diskussion über Johnny abzuschließen. Stumm reichte Letty ihr einen Kamm, und Kelsey fuhr sich, noch immer mit absichtsvolllangsamen Bewegungen, damit durchs Haar.

»Ist der Scheitel gerade?«

»Ja«, sagte Letty.

Unvermittelt ließ Kelsey die Hände in den Schoß sinken, der Kamm fiel zu Boden. »Wie kann ich sicher sein, daß du mir die Wahrheit sagst?« fragte sie leise. »Selbst in so einer belanglosen Sache?«

»Natürlich sage ich dir die Wahrheit. Jetzt sei nicht albern.«

»Albern? Findest du es albern, daß ich mich gern sehen würde? Sich selbst nie wiederzusehen ist bitterer als andere Menschen nicht mehr sehen zu können.«

Für dich schon, dachte Letty, für dich schon, und kniete sich hin, um Kelsey die Schuhe anzuziehen.

»Andere Menschen sind nicht wirklich«, sagte Kelsey.

»Mag sein.«

»Du verstehst mich nicht. Du denkst schlecht von mir, das spüre ich. Du runzelst die Stirn, nicht wahr?«

»Auf deinem Schuh ist ein Fleck«, sagte Letty. »Ja, vielleicht hab ich die Stirn gerunzelt. Ich hole eine Bürste.«

{28}Kelsey wartete. Sie wußte, daß auf ihrem Schuh kein Fleck war, aber sie stemmte den Fuß fest auf den Boden, während Letty ernsthaft daran herumbürstete. Über dem Wischgeräusch der Bürste vernahm Kelsey Stimmen aus dem Erdgeschoß, Gemurmel und dann ein Lachen in dröhnendem Baß: Johnnys Lachen, und Johnnys rasche, schwere Schritte auf der Treppe. Sechs Schritte. Demnach hatte Johnny immer drei Stufen auf einmal genommen. Er war aufgeregt (das Mädchen war also eingetroffen) und glücklich (die Affäre hatte offenbar gerade erst angefangen).

Sie verharrte in ängstlich-abwehrender Erstarrung wie ein ganz kleines Mädchen, dem der Besuch eines ausgelassenen Bernhardiners bevorsteht.

Die Tür flog auf, etwas Schweres kam quer durchs Zimmer auf sie zu und ließ den Boden erbeben. Geräusche überlagerten sich. Schuhsohlen, die auf den Fußboden schlugen. »Hey, Letty!« »Hallo, Baby!« Dann wurde Kelsey vom Sofa gehoben, in die Luft gestemmt und im Kreis herumgeschwenkt.

»Johnny!« stieß sie hervor, als ihre Füße vom Boden abhoben, so daß sie hilflos im Raum hing und die Panik ihr ins Gesicht wehte und ihr den Atem nahm.

»Johnny!« Sie schrie und strampelte. »Du Idiot! Setz mich ab, du Idiot!«

Sie landete auf dem Sofa, taumelig und wie erfroren vor Angst. Selbst ihre Stimme war eingefroren, nur noch ein dünnes Rinnsal sickerte aus ihrem Mund. »Du Trampeltier!«

Er hatte es nicht mitbekommen, aber Letty hatte es gehört, sie trat vor und reihte sich in den Kreis der Geräusche ein.

{29}»Aber, aber!« sagte Letty. »Aber, aber … Ich glaube, du hast ihr ein bißchen angst gemacht, John.«

»Er hat mir nicht angst gemacht«, sagte Kelsey. »Ich hatte nicht die geringste –« Sie spürte Johnnys Hand, die schmerzhaft-reuig die ihre drückte.

»Entschuldige, Baby.«

»Ich hatte nicht die geringste Angst«, erklärte Kelsey scharf. »Du zerdrückst mich, John.«

»Entschuldige nochmals«, sagte er leise. Er sprach selten leise, und wenn er es tat, klang seine Stimme nicht hoheitsvoll wie die von Alice, sondern demütig und niedergeschlagen.

Als ob man ein Ventil aufmacht und ihm die Luft rausläßt, dachte Letty, die ihn beobachtete. Viele Leute versuchten das bei Johnny, aber niemand mit so viel Erfolg wie Kelsey. Es war der Versuch, ihm etwas von seiner Überlebensgröße zu nehmen. Er war ein Hüne, genau wie sein Vater, und alles an ihm war entsprechend ausgebildet, seine Stimme, seine weißen Zähne, seine vor Gesundheit glühenden rosa Ohren, das Haar, das dichter und kräftiger war als bei anderen Männern, blond und lockig wie das von Kelsey, aber dunkel von Brillantine und kurz geschnitten, damit es sich nicht lockte. Wenn aber Johnny ein Werk der Götter war, mußten ihnen bei seiner Innenausstattung etliche Fehler unterlaufen sein.

Er sah ratlos zu Letty hinüber, seine Augen bettelten um irgendeine Antwort auf irgendeine Frage. Letty lächelte ihm zu und hob die Schultern.

Johnny erwiderte ihr Lächeln, es verdrängte die Ratlosigkeit aus seinen Augen. Mehr als ein Gefühl zur gleichen Zeit hatte in Johnnys Kopf keinen Platz, die Gefühle hüpften hinein und hinaus wie tollende Eichhörnchen.

{30}»Sie ist da«, sagte er in seinem normalen Tonfall. »Marcie ist unten und wartet auf dich.«

»Marcie?« fragte Kelsey.

»Marcella. Sie ist zierlich wie du, aber dunkel …«

»Marcella. Ist das ihr richtiger Name?«

»Natürlich. Ihre Mutter hat ihn in einem Roman gefunden.«

»Danach klingt er auch«, sagte Kelsey trocken. »Wo ist sie jetzt?«

»Bei Phil. Er spielt ihr etwas vor.«

»Wie reizend«, sagte Kelsey.

»Ich glaube, du bist fertig«, schaltete Letty sich rasch ein. »Bis auf das Make-up. Vielleicht geht John schon mal nach unten und sagt ihr, daß wir kommen.«

Johnny erhob sich vom Sofa, und wieder bebte der Boden unter seinem Gewicht. Kelsey spürte, wie die Schwingungen, jungen Mäusen gleich, an ihren Beinen hochliefen.

»Herrgott, John, kannst du nicht leiser auftreten? Mußt du herumstampfen wie –«

»Aber, aber.« Letty machte eine rasche Kopfbewegung zu John hin. »Wir brauchen höchstens fünf Minuten, John. Ist Alice schon zu Hause?«

Johnny blieb an der Tür stehen. »Nein. Sie ist mit Prinz spazierengegangen, sagt Phil.«

Im Hinausgehen stieß eine seiner breiten Schultern an den Türrahmen. »Aus dem Weg, Tür«, sagte er und ging die Treppe hinunter. Von unten hörten sie ihn pfeifen.

Marcie saß auf der Klavierbank neben Philip. Sie hatte eigens zu diesem Anlaß bei Simpson ein schwarzes Seidenkostüm erstanden, weil die Verkäuferin beteuert hatte, alle besseren Leute trügen Schwarz. Sie sah blaß aus und wirkte besonders klein, wie sie da am äußersten Ende der Bank saß, {31}so weit weg von Philip, wie es eben noch möglich war, ohne herunterzufallen. Die Arme hatte sie dicht an den Körper gelegt, um Philip nicht im Wege zu sein.

Als sie Johnny in der Tür stehen sah, warf sie ihm ein schmales, gequältes Lächeln zu und machte sich bereit zur Flucht. Aber sie kam nicht von der Bank herunter. Mit dem Moment, als sie zur Tür hereingekommen war und den Butler gesehen hatte, waren ihr alle Entschlußfreudigkeit, alle Willenskraft abhanden gekommen. Sie war hilflos, sie kam nicht hoch, weil Johnny ihr gesagt hatte, sie solle sich auf die Klavierbank setzen. Nun wartete sie dort, bis er ihr sagte, sie könne wieder aufstehen.

Sie war eine Novizin in einer fremden Welt. Das schwarze Kostüm war ihr keine Hilfe, und bisher hatte sie kaum Gelegenheit gehabt, die Sätze anzubringen, die sie sich grammatikalisch korrekt zurechtgelegt hatte. Sie wußte, daß Johnnys Schwester weder sie noch das schwarze Kostüm sehen konnte, daß ihre Stimme und ihre Ausdrucksweise den Ausschlag geben würden. Sie war um zwölf aufgestanden, früher als sonst, und hatte ein paar höfliche Floskeln eingeübt. Über die Schönheit des Herbstes, über ihre Freude, Johnnys Schwester kennenzulernen, und über den Ernst der Lage in Indien. Den Ernst der Lage in Indien hatte sie schon an Mr. James ausprobiert, aber Mr. James hatte sie nur bekümmert beäugt und gesagt: »Ja, nicht?«

Sie hatte zwar keine Ahnung von Indien, aber daß Leute, die in einem solchen Haus wohnten, ebensowenig Ahnung davon hatten, fand sie doch ziemlich erschütternd. Plötzlich wandelten sie ausgesprochen patriotische Gefühle an. Wenn man für seinen Lebensunterhalt arbeiten mußte, hatte man eben keine Zeit, sich mit solchen Sachen zu {32}