{5}Für Linda Jane

{7}Ein finanzielles Problem

Um sieben Uhr am Samstagmorgen begannen die goldenen Stunden. Sobald Priscilla die Augen öffnete, spürte sie instinktiv, daß Samstag war. Die Luft roch anders, und sie schien in froher Erwartung zu zittern. Die rosafarbenen Tapetenrosen sahen rosiger aus, und der Hügel unter der Decke des anderen Bettes war nicht einfach die Becky, die sie an jedem Wochentag mit in die Schule schleppen mußte, sondern es war die Samstags-Becky, Teilhaberin an allen möglichen verwegenen Plänen. Sie selbst war die Samstags-Priscilla, und wenn sie in den Spiegel blickte (bevor sie die Jalousie hoch- und das Licht hereinließ), sah sie schemenhaft und geheimnisumwittert aus, wie eine berühmte Sängerin in ihrem langen Abendkleid oder eine Meerjungfrau mit wallendem Seegrashaar oder die Lady von Shalott, die nach Camelot herabschwebt. Schweben, schweben, schweben. Sie schwebte in ihre Kleider und durch den Flur und die Treppe hinunter in die Küche, wo Edna ihr wunderschönes Seegrashaar zu harten, unromantischen Flechten zusammenpreßte und bemerkte, daß der Hals der Lady von Shalott schmutzig sei.

»Großpapa sagt, ein wenig Schmutz hat noch niemandem geschadet«, erwiderte Priscilla. »Jedenfalls müssen {8}wir alle fünfzehn Pfund Schmutz essen, bevor wir sterben.«

»Wer sagt das?« fragte Edna mißtrauisch.

»Niemand sagt das. Es ist einfach eine Regel.«

»Das klingt mir nicht gerade nach einer Regel.«

»Dann frag doch irgend jemanden. Frag Gott.«

»Unsinn«, sagte Edna.

Edna war morgens immer mürrisch, solange sie ihr heißes Wasser mit Zitrone, um ihren Teint und ihren Körper im allgemeinen zu kräftigen, noch nicht getrunken hatte. Über Nacht hatte es geregnet, und Ednas Haarwelle war herausgegangen. Das kurze dunkle Haar stand ihr gerade vom Kopf, und sie fuhrwerkte auf ihren kurzen Beinen in der Küche herum wie ein grimmiger Pygmäe.

»Du gehst jetzt rauf und wäschst dich«, sagte Edna, »und steh nicht herum und fall mir auf die Nerven!«

»Ich habe noch nicht mal meinen Mund aufgemacht.«

»Das wolltest du gerade.«

»Wollte ich nicht, ich habe bloß nachgedacht.«

»Tra la«, sagte Edna. Sie preßte den Saft einer Zitrone in eine Tasse heißes Wasser und nippte daran. Augenblicklich spürte sie, wie ihre Haut sich verbesserte und ihr Körper im allgemeinen gekräftigt wurde.

»Ich dachte daran«, sagte Priscilla, »wie gut ich mich vor fünfzehn Minuten gefühlt habe.«

»Ach wirklich?«

»Und dann, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, fiel mir etwas ein. Ich brauche ein Zehncentstück.«

»Zehn Cent? Ich frage dich, wo sollte ich wohl ein Zehncentstück herkriegen? Außerdem hat deine Mama gesagt, {9}daß ich euch Kindern kein Geld mehr geben soll. Sie sagte, daß ihr, du und Becky, selbst sehen sollt, wie ihr zurechtkommt.«

»Becky ist ein Geizkragen«, entgegnete Priscilla düster. »Die würde für zwei Dollar dem Teufel ihre Seele verkaufen.«

Priscilla hätte gegen eine solche Transaktion nichts einzuwenden gehabt, nur hielt sie es für sehr unwahrscheinlich, daß Becky dazu überredet werden könnte, von den zwei Dollar etwas abzugeben.

»Wie du sprichst«, sagte Edna. »Meine Güte, das klingt nicht sehr damenhaft. Dem Teufel seine Seele verkaufen. Warte nur, bis deine Mutter das hört.«

»Edna?«

»Kein Zehncentstück, nee, nee!«

»Es ist eine Kleinigkeit, mir das Geld zu leihen«, sagte Priscilla hochmütig. »Es ist doch nicht so, als würde ich dich bitten, es mir zu schenken.«

»Es ist gehupft wie gesprungen, wenn du mich fragst«, sagte Edna. »Und als ich elf war und zehn Cent brauchte, suchte ich mir eine Zehn-Cent-Arbeit.«

»Mir fällt keine Zehn-Cent-Arbeit ein, außer brav zu sein.«

»Fürs Bravsein wird man in dieser Welt nicht bezahlt. Jetzt geh und fall mir nicht auf die Nerven. Ich muß Frühstück machen.«

»Du hast ein Herz aus Stein«, sagte Priscilla. Und nach diesem Seitenhieb zum Abschied marschierte sie wieder die Treppe hinauf, um die nächstbeste Geldquelle, ihren Bruder Paul, aufzusuchen.

{10}Paul war im Badezimmer. Er war dort schon seit fast einer halben Stunde, und Priscilla hatte den Verdacht, daß er sich rasierte. Paul war sechzehn, und eigentlich brauchte er sich nur einmal in der Woche zu rasieren, am Sonntagmorgen vor der Kirche, aber manchmal rasierte er sich auch am Samstag, um seine Barthaare zu stimulieren. Paul hatte mehrere Barthaare, und durch Bemerkungen über deren rasches Wachstum gelang es Priscilla gelegentlich, ihm ein Fünf- oder Zehncentstück zu entlocken.

Priscilla brachte ihren Mund an das Schlüsselloch der Badezimmertür und flüsterte: »Wetten, daß ich weiß, was du tust?«

»Ach, zieh Leine«, sagte Paul mit einer angespannten, nervösen Stimme, die verriet, daß er den heikelsten Teil seiner Arbeit, die Oberlippe, erreicht hatte. Hier war das Wachstum am spärlichsten, und jedes Haar mußte einzeln aufgespürt und niedergemäht werden.

»Ich wette, du rasierst dich.«

»Ach ja?«

»Ich wette, es war nötig. Ich habe gestern abend mit meinen eigenen Augen gesehen, daß dein Bart wie Vaters wird.«

Das war die perfekte Methode, und sie hätte sicher funktioniert, wenn Vater nicht aus seinem Zimmer gekommen wäre. Vaters Bart war in der Nacht gewachsen, und er sah grimmig und finster und gut aus, wie Black Douglas.

»Was zum Teufel macht er da drin?« sagte Vater und hämmerte mit der Faust an die Badezimmertür. »Paul! Paul!«

»Allmächtiger Gott«, fluchte Paul. »Heiliger Strohsack, {11}kann man denn nicht mal fünf Minuten im Badezimmer verbringen, ohne daß einen gleich jeder anbrüllt?«

»Fünf Minuten«, sagte Vater. »Allie! Hörst du das, Allie?«

»Ich höre es«, erwiderte Mutter und kam in den Flur. Das helle Haar fiel ihr lang den Rücken herab. Manche der modebewußteren Damen in der Woodlawn Avenue hatten sich eine Kurzhaarfrisur zugelegt, und Mutter mußte sich fast jeden Tag etwas Neues einfallen lassen, um ihre mangelnde Eleganz zu rechtfertigen. Zu Vater sagte sie, daß ein Bubikopf unweiblich sei und daß eine Dame keinen Frisiersalon betreten sollte. Edna teilte sie mit, daß der Bubikopf eine vorübergehende Mode sei, und die Mädchen, Becky und Priscilla, erinnerte sie daran, daß sie auf ihrem Haar sitzen konnte (auf die Gefahr hin, sich den Hals auszurenken). Doch der eigentliche Grund, warum sie sich das Haar nicht abschneiden ließ, war, daß es ihr im Winter Hals und Schultern im Bett warm hielt.

Es war nicht mehr Winter, aber es war noch immer kalt. Mutter drapierte sich die Haare um den Hals wie einen Schal und sagte: »Beeil dich, Paul. Dein Vater kommt zu spät ins Büro, und du weißt, wie durcheinander er dann ist.«

»Schon gut, schon gut«, murmelte Paul. »Regt euch nicht auf, ich komme.«

»Durcheinander?« wiederholte Vater. »Wer ist durcheinander?«

»Habe ich ›durcheinander‹ gesagt?« Mutter lächelte unbestimmt freundlich. »Ich meinte nur ›beunruhigt‹. Du weißt schon, ›aufgeregt‹.«

{12}»Hysterisch«, sagte Priscilla, die immer bereit war, anderen Leuten dabei zu helfen, sich auszudrücken. »Das Gegenteil von ruhig. Letzte Woche in der Schule hatten wir entgegengesetzte Begriffe, und die Lehrerin fragte, was das Gegenteil von ruhig sei, und ich meldete mich und sagte ›hysterisch‹, und die Lehrerin meinte, das sei sehr klug, aber falsch. Sie behauptete, man könne nicht sagen ›der See ist heute sehr hysterisch‹. Aber ich habe Großpapa gefragt, und Großpapa sagte, man könne doch sagen ›der See ist heute sehr hysterisch‹. Er hat ’ne Menge hysterischer Seen gesehen, und damit basta. Großpapa weiß Bescheid.«

»In Ordnung, in Ordnung«, sagte Vater und sah noch grimmiger und finsterer aus als sonst. »Du hast es bewiesen. Ich bin überzeugt. Das Thema ist abgeschlossen. Trotzdem darf ich vielleicht den folgenden Punkt hinzufügen, daß jeder, der in diesem Haus Gerechtigkeit erwartet, zweifellos hysterisch ist. Gerechtigkeit, hörst du, Allie? Das ist alles, was ich verlange. Ein Badezimmer und sieben Leute, und ich bin der siebte.«

»Oh, das glaube ich nicht«, sagte Mutter sanft und entfernte sich wieder ins Schlafzimmer.

Priscilla, Auge in Auge mit Black Douglas, wich nicht zurück.

»Mrs. Bartons Bruder ist der siebte Sohn eines siebenten Sohns, und er könnte die Zukunft vorhersagen, wenn er nicht tot wäre. Er starb, als er noch ein Baby war, bevor er sprechen konnte, deshalb hat er nie jemandem die Zukunft vorhergesagt.«

»Ist das wirklich wahr?« fragte Vater.

{13}»Weißt du, was? Wir könnten zwei Badezimmer haben. Dann kämen auf eins nur dreieinhalb Leute. Großpapa und Edna und ich könnten eins haben und du und Mutter und Paul das andere, und Becky könnte abwechselnd unseres und eures benutzen. Becky ist noch so klein, die zählt sowieso nur halb.«

Der Gedanke an Becky erfüllte Priscilla zwangsläufig mit Bitterkeit. Becky hätte ihr finanzielles Problem in einer Minute lösen können, wenn sie wollte und wenn Priscilla ihr nicht schon siebzehn Cent und acht Weingummis schulden würde. Becky schaffte es immer, von ihrem Taschengeld zu sparen. Sie war nicht richtig geizig, aber sie konnte mit Geld umgehen. Überall im ganzen Haus gab es Zehncent- und Fünfcentverstecke, in Taschen, in Schuhspitzen, in Schubladenecken, auf Bettleisten und, getarnt mit Knetmasse, im Spielzeugregal. Diese Verstecke verliehen Becky, ansonsten ein unbedeutendes Etwas von sieben Jahren, eine große Macht. Wenn Priscilla, verarmt wie gewöhnlich, spürte, daß sie unmöglich ohne ein Schokoladeneis weiterleben konnte, bat sie Becky um ein Fünfcentstück.

Becky hatte ein Ritual für das Gewähren solcher Bitten eingeführt. Priscilla mußte sagen: ›Eure Königliche Hoheit, ich bin nur ein einfaches, hungerndes Milchmädchen‹ – oder ›ein einfacher Holzfäller, Flachsspinner, Müllsammler, Metzger‹, je nachdem, welchen Beruf Becky in dem Augenblick gerade als den niedrigsten erachtete. Danach schloß Becky, unergründlich und majestätisch lächelnd, Priscilla im Zedernholzschrank im oberen Flur ein, während sie den erforderlichen Betrag aus einem ihrer {14}geheimen Verstecke angelte. Manchmal kam es vor, daß Beckys Gedanken abschweiften und sie Priscilla eine halbe Stunde lang im Zedernholzschrank sitzen ließ.

»Badezimmer«, sagte Vater, »kosten Geld.«

»Es ist gräßlich, arm zu sein, nicht wahr?«

»Ich glaube kaum, daß man uns arm nennen kann.«

»Ich meinte, ich bin arm, und es ist gräßlich«, sagte Priscilla und gab sich ein wehmütiges Aussehen, indem sie ihre Augen aufriß und die Munkwinkel nach unten zog wie die berühmte Schauspielerin Clara Bow. Es war einer ihrer effektvollsten Gesichtsausdrücke, den sie nach langer Übung vor ihrem Kommodenspiegel zur Vollendung gebracht hatte, aber wie üblich blieb er bei Vater ohne Wirkung.

»Du hast letzten Donnerstag dein Taschengeld bekommen«, sagte Vater und hämmerte wieder an die Badezimmertür. »Was hast du damit gemacht?«

»Ich erinnere mich nicht genau. Es kann sein, daß ich etwas davon verloren habe, vielleicht ein Zehncentstück oder so.«

»Du willst also ein Zehncentstück oder so. Wofür?«

Vater hatte auf klare Fragen gern klare Antworten, also tat ihm Priscilla den Gefallen. »Es gibt ein besonderes Vormittags-Kinoprogramm im Star, einen Jackie-Coogan-Spielfilm und einen Chester-Conklin-Comic, alles für zehn Cent.«

»Wenn Becky ihr Taschengeld noch hat und du nicht, scheint sie mehr Verstand zu haben als du.«

Priscilla war von dieser Bemerkung zutiefst gekränkt. »Wie kann sie mehr Verstand haben als ich, wo ich elf bin {15}und bald zwölf werde und sie gerade lächerliche sieben ist? Sie ist geizig, das ist alles. Es ist nicht schwer, Geld zu sparen, wenn man geizig ist. Wenn man geizig ist, wird man ja nicht mal in die falsche Richtung versucht. Ich gerate ständig in Versuchung.«

»Dann mußt du ein bißchen mehr Standhaftigkeit entwickeln«, sagte Vater, »weil die Antwort ›nein‹ ist. Da du irgendwann den Wert des Geldes begreifen mußt, kannst du auch damit anfangen, solange du noch jung bist.«

»Oh, Scheibe«, sagte Priscilla.

Die Haltung ihres Vaters schmerzte sie sehr, denn Tatsache war, daß niemand in der ganzen Woodlawn Avenue den Wert des Geldes so gut kannte wie sie. Für zehn Cent konnte man bei Bowman’s genau neunundsechzig Stück Lakritzmischung kaufen, wenn Mrs. Bowman sie wog, und dreiundsiebzig Stück, wenn Mr. Bowman sie wog. Bei Ingersoll’s bekam man drei Cremeteilchen, bei Burdick’s acht Geleefrüchte, vom Eisverkäufer vier Zwei-für-fünf-Cent-Eistüten und in Dodies Kaufhaus zwanzig Glasmurmeln.

»Und sag nicht ›Scheibe‹«, sagte Vater, »das macht keinen Sinn.«

»Du sagst manchmal ›Jesus Q. Murphy‹.«

»Das ist ganz was anderes.«

Paul trat aus dem Badezimmer; die untere Hälfte seines Gesichts war von einem Handtuch verhüllt, das die Schnitte verbergen sollte. Pauls Gesicht war nach einer Schlacht mit Vaters scharfem Rasiermesser immer ausgiebig zerkratzt.

»Du wärst erst morgen zum Rasieren dran gewesen«, {16}sagte Vater ziemlich grimmig, da sein Rasiermesser bei dieser schweren Prüfung gewöhnlich ebensosehr litt wie Pauls Gesicht.

»Allmächtiger Gott«, sagte Paul, »es kann doch keiner von einem Mann erwarten, daß er mit einem starken Bart herumläuft, oder? Mein Gott, es ist Samstag. Ich muß anständig aussehen.«

»Du hast eine komische Art, dich darum zu bemühen«, entgegnete Vater. Er schloß sich im Badezimmer ein.

Bei dem Versuch, anständig auszusehen, hatte Paul eine ganze Menge Blut verloren, und er war nicht dazu aufgelegt, irgend jemandem irgend etwas zu geben, außer einem raschen Rippenstoß.

»Jesus Q. Murphy, du brauchst deswegen nicht so gemein zu sein«, sagte Priscilla tief gekränkt. »Noch nie in meinem Leben habe ich so eine gemeine Familie gesehen. So, wie ich hier in diesem Haus behandelt werde, könnte man meinen, ich sei eine schutzlose Waise.«

Der Gedanke, eine schutzlose Waise zu sein, sprach Priscillas dramatische Instinkte an. Bevor sie zum Frühstück hinunterging, lief sie rasch in ihr Zimmer, um zu sehen, ob sie irgendeine Ähnlichkeit mit Oliver Twist hatte. Sie ignorierte Becky, die auf dem Fußboden saß und ihre Oxford-Schuhe zuband. Da Becky jedoch nie wußte, wann sie ignoriert wurde, war Priscilla gezwungen, sie darauf aufmerksam zu machen.

»Ich rede nicht einmal mit dir«, sagte sie hochmütig. »Und du kannst dir nicht einmal die Schnürsenkel zubinden, du Baby.«

»Kann ich doch«, sagte Becky. »Wenn ich will, kann ich {17}Schnürsenkel besser zubinden als irgend jemand sonst auf der ganzen Welt.«

»Ich wette, das kannst du nicht. Ich wette ein Zehncentstück.«

Becky dachte eine Weile über diesen Vorschlag nach. »Ich kann nicht wetten«, sagte sie schließlich, »weil mein Sonntagsschullehrer sagt, es ist gegen die Bibel, und vielleicht würde ich nicht gewinnen.«

»Du tust andere Dinge gegen die Bibel.«

Becky war überrascht. »Tue ich das?«

»Du begräbst deine Talente, Talente in Form von Geld.«

»Oh, ich habe nie irgendwelche Talente begraben. Nur tote Dinge wie Vögel und Puppen und Raupen.«

Priscilla schlug ihren Stolz in den Wind. »Na ja, wenigstens könntest du mir ein Zehncentstück leihen, und wenn ich erst eine berühmte Filmschauspielerin bin, werde ich dir alles mit Pelzmänteln und Diamanten usw. zurückzahlen.«

»Wie viele Pelzmäntel?« fragte Becky vorsichtig.

»Unmengen, mit passenden Muffs und Hüten.«

Becky liebte pelzartige Dinge wie Katzen und Hunde und Eichhörnchen und Pelzmäntel, weil sie so schön weich waren, und eine ganze Minute lang fühlte sie sich in die falsche Richtung versucht. Die Aussicht auf die Pelzmäntel war verlockend, aber auch ziemlich fern, und unmittelbar dagegen standen die siebzehn Cent und die acht Weingummis, die ihr bereits geschuldet wurden.

»Zehn plus siebzehn macht siebendundzwanzig«, sagte Becky nachdenklich. »Das sind eine Menge Talente, und dazu die Weingummis.«

{18}»Du wirst nie einen Pelzmantel bekommen, wenn ich nicht ins Kino gehen und lernen kann, eine berühmte Schauspielerin zu sein.«

»Du kannst sowieso nicht ins Kino gehen«, gab Becky zu bedenken. »Du bist bestraft worden, wegen gestern abend.«

»Oh, Gott!« sagte Priscilla mit gequälter Stimme.

Über der aufregenden Jagd nach dem Zehncentstück hatte sie vergessen, daß sie gestern abend eine von Mutters Bakterien-Vorschriften verletzt hatte.

Mutter neigte zur Unbestimmtheit, und teils, um diese auszugleichen, teils, weil sie ohnehin gern Regeln aufstellte, gab es bei ihr strenge und unumstößliche Vorschriften für beinahe alles. Die meisten dieser Regeln wurden nie beachtet, doch allein die Tatsache, daß es sie gab, verliehen Mutter ein angenehmes Gefühl der Kompetenz. Mutters strengste Vorschriften betrafen Bakterien, einen ihres Eifers würdigen Gegenstand. Bakterien waren überall, und um sie zu überlisten, hatte Mutter eine lange komplizierte Reihe von Vorschriften ersonnen. Manche davon bezogen sich zwangsläufig auf den Hund Skipper. Obwohl Mutter zugeben mußte, daß Skipper der sauberste Hund in der Stadt war, konnte sie über seine Vorliebe für verfaultes Gemüse und alles Tierische nicht hinwegsehen, und so hatte sie verfügt, daß er nur bei zwei Gelegenheiten geküßt werden durfte: unmittelbar nach seinem Bad und auf dem Sterbebett.

Es war natürlich ein großer Schock für Mutter, als sie am Abend zuvor Priscilla dabei erwischt hatte, wie sie aus Skippers Napf aß.

{19}Um Gründe bedrängt, fand Priscilla mehrere. »Ich habe ihm nur zeigen wollen, daß ich ihn liebe und daß er genauso gut ist wie ich. Und außerdem wollte ich nur wissen, wie es schmeckt und was es für ein Gefühl ist, ein Hund zu sein.«

Vater war neugierig. »Und was ist es für ein Gefühl?«

»Frederick, wie kannst du das so leichtnehmen?« schimpfte Mutter. »Denk an all die Bakterien in ihrem Körper.«

Mutter bereitete eine borsaure Salzlauge zu und fällte das Urteil. Priscilla durfte am Samstagmorgen nicht in die Matinee-Vorstellung, zum Teil als Strafe, aber vor allem, weil ein so mit Bakterien belasteter Organismus keinen weiteren Bakterien mehr ausgesetzt werden sollte.

»Meine Güte, ich wette, du bist voller Bakterien«, sagte Becky bewundernd. »Vielleicht kriegst du was.«

»Das ist mir egal. Ich hoffe, ich kriege was.« Priscilla sah sich in einem mit weißem Satin ausgeschlagenen Sarg liegen, sehr bleich und tot, mit vielen Blumen um sich herum. Großpapa und Mutter und Becky und Edna und Paul und Vater, sie alle weinten sich die Augen aus und boten ihr Zehncentstücke und Silberdollars und Dollarnoten und Fünfdollar-Goldstücke an, die ihre arme kleine tote Hand, leider, nicht ergreifen konnte.

Dies war ein so herzzerreißender Gedanke, daß ihr echte Tränen unter den Augenlidern brannten. So jung sterben. In ihrer Jugend von Gevatter Tod dahingerafft. Ruhe in Frieden.

»Meine Güte, ich wünschte, ich würde auch etwas kriegen«, sagte Becky. Es war Beckys großer Kummer, daß all ihre Freunde irgendeine Form der Auszeichnung besaßen {20}wie Mumps oder Keuchhusten, und alles, was sie je bekam, war ein Schnupfen. »Vielleicht kann ich mich bei dir anstecken, wenn du etwas kriegst, und wir hätten ein großes rotes Schild an der Haustür und stünden unter Garantie.«

»Quarantäne«, sagte Priscilla stirnrunzelnd. »Großpapa sagt, du verschandelst das Königs-Englisch. Er sagt, du hast es von Edna.«

Becky verdrehte eigensinnig die Augen nach oben und antwortete frech im stillen: ›Garantie, Garantie, Garantie. Ich möchte unter Garantie stehen, mit einem großen roten Schild an der Haustür.‹

Dann besann sie sich wieder auf ihre zweitbesten Oxford-Schuhe und band die Schnürsenkel zu. Nun, da der Augenblick der Schwäche und der Versuchung vorübergegangen war, empfand sie Wohlwollen gegenüber ihrer Schwester.

»Ich werde dir alles über den Film erzählen«, versprach Becky. »Ich werde meine Augen sogar bei den schlimmen Stellen offenhalten.«

»Ich hoffe, ich kriege galoppierende Schwindsucht, und alle werden es bereuen, wenn ich sterbe«, sagte Priscilla bitter und ging zum Frühstück hinunter.

Edna kochte die Eier nach ihrer eigenen speziellen Eieruhr, einem winzigen Stundenglas, gefüllt mit rotem Sand.

»Hast du dein Fünfcentstück bekommen?«

»Nein.«

»Nun ja, wir alle haben unsere Sorgen«, sagte Edna kurz angebunden. »Bei dir ist es das Geld, und bei mir sind es Harry und Delbert und mein Kropf. Wir müssen unser Kreuz mit Würde tragen.«

{21}Würde war eine Haltung, die Priscilla seit wenigstens zwei Tagen nicht ausprobiert hatte. Sie warf ihre Schultern zurück und hielt den Kopf hoch erhoben, dann trug sie ihr Kreuz und aß drei Eier.

{22}Was Edna wußte

Bis zum allerletzten Augenblick, als Becky zusammen mit Paul das Haus verließ, hoffte Priscilla, daß Mutter sich erweichen lassen würde. Doch als sie vom Küchenfenster aus sah, wie Becky um die Ecke der Woodlawn Avenue bog und ihren Blicken entschwand, stieß sie einen Seufzer der Enttäuschung und der Niedergeschlagenheit aus.

»Es hat keinen Sinn, sich darüber zu ärgern«, sagte Edna. »Du mußt lernen, gelassener und großmütiger zu sein.«

»Alle erzählen mir immer, ich muß dies lernen und ich muß jenes lernen«, sagte Priscilla. »Nie gratuliert mir jemand zu dem, was ich bereits gelernt habe.«

»Gut, ich werde dir gratulieren, wenn du still bist und aufhörst, mich zu nerven. Ich muß die Plätzchen in den Ofen schieben, bevor ich einkaufen gehe. Warum spielst du nicht auf dem Dachboden?«

Priscilla warf ihr einen vorsichtigen Blick zu. »Ich habe keine Lust.«

»Dann, muß ich sagen, hast du dich verändert.«

»Ich habe zufällig einfach keine Lust.«

Priscilla hatte sich in der Tat verändert, aber sie hatte nicht die Absicht, Edna zu erklären, warum. Sie selbst zog {23}es vor, nicht einmal darüber nachzudenken. Obwohl der Dachboden Priscillas Lieblingsversteck war, hatte sie ihn seit einer Woche gemieden, und sie hatte nicht vor, jetzt dorthin zu gehen.

Edna brach zum Lebensmittelladen auf, sie bot einen verwegenen Anblick mit dem gelben Regenmantel, dem gelben Feuerwehrhut und Mutters besten Galoschen. Zu ihrer eigenen Unterhaltung verfaßte Priscilla ein Gedicht auf Skipper und grub eine alte Puppe aus ihrem Kleiderschrank aus, die sie an einem Bindfaden aus dem Schlafzimmerfenster baumeln ließ, während sie sang: »Mögest du hängen, bis du stirbst.«

Doch das war ein schwaches Vergnügen. Außerdem war sie jetzt elf Jahre und zu alt für diese Art von Kinderspiel. Nur ein paar Monate zuvor, so stellte sie erstaunt fest, hätte sie sich einbilden können, die Puppe sei eine ausländische Spionin und sie der erste weibliche Henker der Welt, speziell ernannt von Präsident Coolidge. Heute war sie einfach nur Priscilla und die Puppe nur eine Puppe, und obwohl sie diese schielend und mit dem Kopf nach unten ansah, um ihre Phantasie anzuregen, blieb es eine Puppe.

Da war nun Samstag, der allerbeste Tag der Woche, so, wie Dezember der beste Monat war, und sie saß hier und vergeudete die wertvollen Stunden. (Drei bisher.) Die goldenen Stunden flogen dahin, und die einzige Möglichkeit, sie aufzuhalten, bestand darin, alle Uhren zurückzudrehen. Sie betrachtete dieses drastische Mittel von allen Seiten. Es wäre lustig, die Verwirrung der Erwachsenen zu sehen, doch andererseits gäbe es spät Mittagessen, und wenn es herauskäme, müßte sie gewiß mit einer {24}einschneidenden Kürzung ihres Taschengeldes rechnen. Es war verlockend, aber insgesamt zu riskant. Sie beschloß, statt dessen hinaufzugehen und Großpapa zu besuchen.

Dank der Feuchtigkeit des Frühlingswetters war Großpapa mit Rheumatismus an sein Zimmer gefesselt. Priscilla traf ihn beim Patiencelegen an. Da er es für dumm hielt, ein Spiel zu spielen, das man nie gewann, hatte er eine Patience erfunden, die immer aufging. Sie war sehr befriedigend.

»Nun?« Großpapa warf ihr einen flüchtigen Blick zu, um anzudeuten, daß er sich mitten in einem wichtigen Zug befand.

»Hallo«, sagte Priscilla höflich.

»Was ist?«

»Nichts.«

»Ha«, sagte Großpapa. »Warum bist du nicht draußen und spielst?«

Nachdenklich band sich Priscilla die Zopfenden unter ihrer Nase zusammen.

»Tu das nicht«, sagte Großpapa. »Warum bist du an diesem herrlichen Frühlingstag nicht draußen?«

»Es regnet.«

Großpapa sah sich nicht gern auf diese Weise kontrolliert. »Hm. Ein bißchen Regen hat noch keinem geschadet.«

»Es ist niemand zum Spielen da. Alle sind zur Matinee-Vorstellung ins Kino gegangen. Mutter wollte mich nicht gehen lassen, weil ich von Skippers Fressen probiert habe.«

Großpapa hatte wunderschöne weiße Augenbrauen, die sich wie Raupen ringelten, wenn er neugierig war. »Du hattest einen Grund, nehme ich an?«

{25}»Ich hatte viele Gründe, aber die waren alle nicht gut genug.«

»Wie hat es geschmeckt?«

»Tja, also irgendwie knochig.«

»Hm, hab ich mir fast gedacht«, sagte Großpapa sehr zufrieden. Er hievte sich aus seinem Stuhl und durchquerte, auf einen seiner zwei Stöcke gestützt, das Zimmer.

»Wie geht’s deinem Rheuma heute?« erkundigte sich Priscilla.

»Nicht schlecht, danke. Meine neue Medizin scheint gut zu wirken.«

Großpapa nahm einen ausziehbaren Blechbecher und die Medizinflasche von seiner Kommode. Er kümmerte sich nie darum, die Medizin zu dosieren. Das war ihm zuviel Mühe, und außerdem hielt er Ärzte für eine übervorsichtige und ängstliche Bande, weil sie ihm die Medizin löffelweise verschrieben anstatt in den Riesenportionen, an die er selbst glaubte. Da Mutter diese Angewohnheit von Großpapa kannte, hatte sie die Mädchen ermahnt, ihn so oft wie möglich zu kontrollieren und sich zu vergewissern, daß er nur einen Teelöffel voll nahm.

Großpapa ließ den Faltbecher aufspringen und goß sich eine reichliche Dosis ein.

»Das ist mehr als ein Teelöffel, Großpapa«, bemerkte Priscilla. »Mir scheinen das ungefähr elf Teelöffel zu sein.«

»Kinder sollte man sehen, aber nicht hören«, sagte Großpapa steif.

»Ich dachte nur, da du doch so alt bist und deine Sehkraft nachläßt, daß dir nicht aufgefallen ist, wieviel du dir eingegossen hast.«

{26}»Ich bin achtundsechzig, und mein Sehvermögen ist ausgezeichnet. Jetzt geh und störe mich nicht.«

»Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll.«

»Du mußt doch irgend etwas zu tun haben«, sagte Großpapa, während er den Verschluß wieder auf die Medizinflasche schraubte. »Hast du heute schon geübt?«

»Du hast mich gehört«, erwiderte Priscilla freundlich. »Du hast zu Mutter gesagt, es macht dich verrückt.«

»Habe ich das? Na schön.«

»Ich sollte nächste Woche einen goldenen Stern für Tanz der Frösche bekommen, dann brauche ich es nicht mehr zu spielen.«

»Gott sei Dank!« sagte Großpapa und wandte sich wieder seinem einsamen Spiel zu.

Obwohl gewisse Leute in der Nachbarschaft behaupteten, Großpapa fluche wie ein Landsknecht, erklärte Großpapa Priscilla, daß das nicht wahr sei. Er fluche nicht, er rufe lediglich den Allmächtigen an, ihn von dem albernen Geschwätz der menschlichen Rasse zu befreien. Priscilla sagte oft leise ›Mein Gott‹, aber sie durfte es nicht laut sagen. Solche Appelle an Gott waren, wie Kaffeetrinken und Zigarettenrauchen, ein Privileg der Erwachsenen. Am Morgen ihres einundzwanzigsten Geburtstags wollte sich Priscilla allen drei Vergnügungen hingeben. Von sieben Uhr an würde sie Kaffee trinken, rauchen und ›Oh, mein Gott‹ sagen, wann immer sie Lust dazu hatte. Die Vision dieses glorreichen Tages entschädigte sie für einige der schrecklichen Demütigungen und Entbehrungen, die das Leben einer demnächst Zwölfjährigen begleiteten.

In der Zwischenzeit fuhr sie fort, sich mit einem Ersatz {27}für das einzig Wahre zu begnügen. Sie durfte zwar nicht laut fluchen, doch dafür hatte sie eine wachsende Liste von Wörtern hinten in ihrem Tagebuch, die sie heimlich benutzte, wenn das Leben schier unerträglich schien. Die neueste Eintragung in der Liste war ›Flittchen‹, ein Wort, das sie von Edna aufgeschnappt hatte. Sie wußte nicht, was es bedeutete, aber Edna war eine zuverlässige Quelle, also war es wahrscheinlich etwas hinlänglich Anrüchiges. Und was für eine wunderbare Erleichterung war es, wenn alles schiefging, mit der Faust an die Wand zu schlagen und zu flüstern: ›Flittchen, Flittchen, Flittchen!‹. Falls das Wort der Prüfung durch die Zeit standhielt, würde sie es in ihre einundzwanzigste Geburtstagsfeier aufnehmen. Zuvor waren jedoch Nachforschungen notwendig. Sie mußte herausfinden, was das Wort bedeutete, denn das Sündigen war befriedigender, wenn man sich der Tiefe der Erniedrigung durch seine Sünde bewußt war. Und die war sicher beträchtlich, entschied Priscilla.

Aufgeheitert von diesem Gedanken, warf sie Großpapa ein herzerwärmendes Lächeln zu. Der sah aber nicht hin. Man könnte Großpapa ja vielleicht nach dem Wort fragen. Großpapa war viele Jahre Rektor der Highschool gewesen, und er verstand sehr viel von Wörtern, sogar von griechischen und lateinischen. Er hatte Priscilla die beiden längsten Wörter im Wörterbuch beigebracht, so daß Priscilla, wann immer ihre Überlegenheit in Frage gestellt wurde, auf ›Dezimalklassifikation‹ und ›Antiangloamerikanismus‹ zurückgreifen konnte.

Priscilla setzte sich auf den Rand von Großpapas Bett.

»Großpapa, was machst du, wenn du ein Wort hörst, {28}und es steht nicht im Wörterbuch, und du bist dir ziemlich sicher, wie es buchstabiert wird, aber nicht absolut sicher.«

»Es vergessen«, antwortete Großpapa kurz angebunden und begann, sehr geräuschvoll und demonstrativ die Karten zu mischen.

»Ich wollte sowieso gerade gehen«, sagte Priscilla und verließ betont würdevoll das Zimmer.

Die Hälfte einer goldenen Stunde auf Großpapa verschwendet ohne das geringste Ergebnis. Oh, Gott, oh, Flittchen!

Ohne zu zögern, ging sie nach unten und stellte alle Uhren drei Stunden zurück. Im Handumdrehen war es wieder sieben Uhr dreißig. Sie war gerade mit dem Frühstück fertig, jedenfalls mal angenommen, und brauchte nur noch still am Tisch zu sitzen und ihren Tag zu planen.

Sie ging in die Küche und setzte sich still an den Tisch. Dann schloß sie die Augen bis auf winzige Schlitze und konnte sich vorstellen, daß auf dem Tisch immer noch das leere Frühstücksgeschirr stand, und indem sie sich die Nase zuhielt, konnte sie den für sieben Uhr dreißig ganz untypischen Geruch nach im Ofen backenden Samstagsplätzchen ignorieren. Das erforderte erhebliche Willenskraft, denn neben Benzin, Teer und Maiglöckchen waren Schokoladenplätzchen mit Rosinen ihr Lieblingsgeruch.

»Abrakadabra«, flüsterte sie, um ihre Willenskraft zu stärken.

Ohne Erfolg. Sie ließ die Nase los und atmete ein. Es war zwar nicht unmöglich, daß um sieben Uhr dreißig Plätzchen im Ofen waren, doch hätte das bedeutet, daß Edna um sechs Uhr aufgestanden sein mußte, was völlig {29}unwahrscheinlich war. Edna stand morgens nicht gern auf. Sie erzählte Priscilla oft, daß sie, wenn sie erst einen Goldesel hätte, jeden Tag bis mittags im Bett liegen und heiße Schokolade mit türkischem Honig obendrauf trinken würde.

Edna erwähnte die Möglichkeit, einen Goldesel zu finden, so häufig, daß diese zu einer ständigen Quelle der Spekulation für Priscilla und Becky wurde. Jeden Sommer, wenn sie in den Wiesen spielten, suchten sie mit Hilfe von Großpapas altem Feldstecher stundenlang die Gegend nach Ednas Goldesel ab. Becky stellte sich ein niedliches kleines Eselchen mit goldenem Fell vor, aber Priscilla lehnte eine solch alltägliche Idee ab. Ednas Esel würde gigantisch sein, den riesigen Bauch voller Gold und Silber, dazu noch Pralinen und Pfefferminzbonbons, und auf seinem Rücken würde er unzählige Männer tragen. »Edna«, hatte Priscilla ihre Mutter zu Vater sagen hören, »mag Männer.« So war es nur natürlich, daß auf Ednas Esel viele Männer reiten würden.

Der Esel ließ lange auf sich warten, doch die beiden Mädchen gaben die Hoffnung nicht auf. Wenn er käme und Edna auf ihm davonreiten würde, wollte Priscilla sechs Monate des Jahres bei ihr verbringen. Becky war damit nicht einverstanden. Sie litt unter Heimweh. Manchmal packte Becky sogar mitten in einem Film das Heimweh, und Priscilla mußte sie nach Hause schleppen.

An all die Filme zu denken, deren Anfang oder Ende sie niemals kennen würde, erfüllte Priscilla mit tiefer Empörung. Es war schrecklich, eine kleine Schwester zu haben, die heimwehkrank wurde und immer von ihrem Taschengeld sparte und geheime Verstecke für Zehn- und {30}Fünfcentstücke hatte. Das ließ Priscilla nur noch sehnsüchtiger auf die Ankunft von Ednas Goldesel warten. Sie könnte für immer bei Edna leben und Becky verlassen, die sich, umgeben von ihren unrechtmäßig erworbenen Besitztümern, die Augen ausweinen würde.

Ich hoffe, daß sie während des Jackie-Coogan-Films Heimweh bekommt, dachte Priscilla, ich hoffe es wirklich.

Die große Holzuhr an der Küchenwand schlug sieben Uhr fünfundvierzig, aber sie log, und Priscilla war gezwungen, dies einzugestehen. Es hatte keinen Sinn – der Duft der Plätzchen, der Tisch ohne Frühstücksgeschirr, Edna beim Einkaufen und Becky im Kino – da konnte sie genausogut aufgeben.

Sie stellte alle Uhren wieder vor, wahrte jedoch das Gesicht, indem sie es nachlässig tat, so daß zwischen der Uhr im Eßzimmer und der in der Küche eine Differenz von zehn Minuten bestand.

Sie war nun wieder da, wo sie angefangen hatte, allein und ohne Freunde, arm und verwaist, und alle amüsierten sich, außer ihr.

Blieb noch die Herausforderung des Dachbodens. Es wäre eine doppelte Probe ihrer Selbstbeherrschung, wenn es ihr gelänge, ohne das geringste Zögern die Stufen zum Dachboden hinaufzusteigen und dort mit den Fingernägeln über die große Schiefertafel zu kratzen. Dies war der beste Selbstbeherrschungstest, den Priscilla je erfunden hatte. Manchmal, vor allem wenn Becky zusah, konnte Priscilla fünf volle Minuten lang kratzen, was sie zu Woodlawn Avenues Weltmeisterin im Tafelkratzen machte. Das unangenehme Geräusch der Fingernägel und die {31}schauerlichen Vibrationen, die direkt bis in die Schultern krochen, wären jedoch relativ leicht zu ertragen, verglichen mit dem Erklimmen der Dachbodentreppe.

Die Abgeschiedenheit des Dachbodens vom übrigen Haus bestand vor allem in der Abwesenheit von Erwachsenen. Hier war das Betätigungsfeld für Priscillas schöpferische Energie. Sie verfaßte Gedichte an der Tafel (zumeist über Hunde und unerwiderte Liebe), schrieb Geschichten und spielte ihre Theaterstücke, ohne die Einmischung von Erwachsenen befürchten zu müssen. Die Treppe zum Dachboden war zu steil für Großpapa und Mutter, Vater ging nur einmal im Jahr, zu Beginn der Angelsaison, dort hinauf, und Edna sagte, vor Dachböden habe sie Bammel. Sie würde keinen Fuß auf einen setzen, behauptete Edna, nicht nach allem, was sie wisse.