Jakop ist stets ein Einzelgänger gewesen, seit seiner Jugend in einem abgelegenen norwegischen Tal. Sein bester Freund ist der merkwürdige Pelle, mit dem er lange Gespräche führt. Dieser schlagfertige Kerl sagt Dinge, die Jakop nie über die Lippen brächte. Jakops Hobby sind indogermanische Sprachen und nordische Göttermythen. Außerdem liebt er Begräbnisse und das gesellige Beisammensein danach. Bei den Angehörigen der Toten fühlt er sich wohl. Unter ihnen lernt er auch Agnes kennen, die sein falsches Spiel zwar durchschaut, ihn aber nicht verrät. Er verliebt sich in sie und hofft, dass sie ihn trotz des vorlauten Pelle erhört. Ein treuer Freund ist ein hinreißender philosophischer Schelmenroman und eines von Jostein Gaarders schönsten Büchern.

 

Hanser E-Book

Jostein Gaarder

 

Ein treuer Freund

 

Roman

 

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

 

 

Carl Hanser Verlag

EIN TREUER FREUND

 

 

GOTLAND, MAI 2013

 

Liebe Agnes, erinnerst du dich: Ich hatte versprochen, dir zu schreiben. Jedenfalls wollte ich es versuchen.

Ich sitze hier auf einer Insel in der Ostsee, und auf einem kleinen Schreibtisch vor mir steht mein Laptop. In einer Zigarrenkiste daneben befindet sich alles, was ich an Gedächtnisstützen brauche.

 

Mein Hotelzimmer besitzt einen Boden aus Kieferndielen, und ich brauche neun Schritte, um es zu durchqueren, was ich mehrmals getan habe, bis ich wusste, wie ich meinen Bericht beginnen soll. Mitten im Raum steht eine Sitzgruppe aus zwei roten Sesseln, einem roten Sofa und einem Teakholztisch, und ich musste jedes Mal durch einen der zwei schmalen Korridore zwischen Tischkante und Polstermöbel hindurch.

Ich habe ein Eckzimmer und kann in zwei Richtungen aus dem Fenster schauen. Vom einen Fenster, dem nach Norden, sehe ich von oben auf die typische gepflasterte Straße einer alten Hansestadt, aus dem anderen, das nach Westen geht, blicke ich über Almedalen und weit hinaus aufs Meer. Es ist warm, und ich habe beide Fenster geöffnet.

 

Ich stand eine halbe Stunde am Fenster und beobachtete die Menschen, die unter mir durch die Straße gingen, die meisten in Röcken oder kurzen Hosen und lockeren, kurzärmeligen Blusen oder Hemden. Pfingsttouristen. Viele von ihnen sind paarweise unterwegs, oft Hand in Hand, manche auch in großen, lärmenden Gruppen.

Es ist ein Märchen, dass Jugendliche mehr Krach machen als Leute meines Alters. Treten sie im Rudel auf und haben womöglich noch getrunken, können Menschen in mittleren Jahren ebenso laut sein wie Teenager. Man könnte auch sagen, ebenso menschlich. Seht mich an! Hört mir zu! Amüsieren wir uns nicht königlich?

Wir wachsen aus unserer menschlichen Natur nicht heraus. Wir wachsen mit ihr mit. Und wir wachsen in sie hinein.

 

Mir gefällt der Blick auf das Straßenleben anderthalb Stockwerke unter mir. Die Entfernung ist so gering, dass ich den Vorübergehenden ziemlich nahe bin. Sogar Gerüche steigen zu mir hoch, denn auch Menschen riechen, vor allem an windstillen Sommertagen in engen Gassen. Zudem halten manche brennende Zigaretten in der Hand, und ich spüre den beißenden Rauch in der Nase. Ich befinde mich gerade so weit über der Straße, dass die Objekte meiner Aufmerksamkeit in der Regel nicht zu mir hochschauen, mich also auch nicht bemerken, besonders dann nicht, wenn ich halb versteckt hinter dem blauen, bei gelegentlichen Windstößen aus dem Fenster flatternden Vorhang stehe.

Ich genieße es zu beobachten, ohne beobachtet zu werden.

Dabei behalte ich auch die Segelboote weit draußen auf der glitzernden See im Auge; es ist die sanfte Brise von Westen, die hin und wieder den Vorhang des Nordfensters bewegt.

In der vergangenen halben Stunde habe ich drei weiße Segel gesehen. Es ist ein strahlend schöner Tag und, von den gelegentlichen Brisen abgesehen, nahezu windstill. Also nicht das allerbeste Segelwetter.

 

Es ist nicht nur Pfingsten. Es ist auch der 17. Mai, der norwegische Nationalfeiertag. Der Gedanke daran macht mich fast ein bisschen wehmütig, denn es ist, als hätte man Geburtstag und befände sich unter Fremden, die davon nichts wissen. Niemand gratuliert einem oder singt ein Geburtstagslied.

Die norwegische Nationalhymne singt hier natürlich auch niemand, und ich habe keine einzige norwegische Flagge gesehen. Obwohl: Die Häkeldecke auf dem Hotelbett leuchtet so weiß wie der Glittertind, die Polstermöbel sind rot und die Vorhänge an den Fenstern blau – die norwegischen Farben. Mehr kann man nicht verlangen.

Beachte bitte das Datum! Im Augenblick, da ich dies schreibe, ist seit unserer Begegnung in Arendal genau ein Monat vergangen.

Ein paar Stunden später hast du auch Pelle kennengelernt. Ihr habt euch gut verstanden, anders kann man es nicht sagen.

 

Wir waren uns vorher nur ein einziges Mal begegnet, etwas mehr als ein Jahr zuvor, zwei Tage vor Heiligabend 2011; im Folgenden möchte ich versuchen, dir den Hintergrund dieser ersten Begegnung zu schildern. Ich tue es, weil du mich um eine Erklärung für mein damaliges Verhalten gebeten hast. Die werde ich nach bestem Wissen zu geben versuchen. Allerdings halte ich es in diesem Zusammenhang für angebracht, auch dir eine Frage zu stellen. Ich hatte mich blamiert, und du hast mich zurückgehalten, als ich aufspringen und davonlaufen wollte. Warum du das getan hast, ist für mich ein Rätsel, über das ich mir bis heute den Kopf zerbreche. Und es hat an jenem Nachmittag ja nicht nur mich überrascht, sondern offensichtlich alle, die mit uns am Tisch saßen. Ich bin mir sicher, viele von ihnen haben sich dieselben Fragen gestellt wie ich: Warum tut sie das? Warum lässt sie ihn – beziehungsweise mich – nicht laufen?

 

Wo soll ich anfangen?

Ich könnte mit meiner Kindheit in Hallingdal beginnen, um zu zeigen, wie ich zu dem Menschen wurde, der ich heute bin. Oder ich könnte das genaue Gegenteil versuchen und zwei bemerkenswerte Ereignisse an den Anfang stellen, die sich erst heute Nachmittag hier auf der Insel zugetragen haben, aber durchaus zu meinem Bericht dazugehören. Von da könnte ich zu unserer Begegnung vor einem Monat in Arendal zurückblenden, um von dort den Faden erst zu dem verstörenden Nachmittag im Dezember 2011 zurückzuspinnen – einem der schwersten Tage deines Lebens, Agnes – und schließlich zur Beerdigung Erik Lundins zu Beginn des neuen Jahrtausends. Mich Schritt für Schritt in die Vergangenheit begebend, könnte ich dir am Ende von Erfahrungen erzählen, die ich schon als Junge gemacht habe und aufgrund derer ich auf ein gewisses Verständnis hoffen könnte, um nicht zu sagen, auf eine Art Vergebung wie nach einer Beichte.

 

Wie können wir unsere Lebensläufe am ehesten verstehen? Erzählen wir sie vom Beginn her, oder nehmen wir besser das Hier und Jetzt, das uns natürlich am deutlichsten vor Augen steht, und bewegen uns, davon ausgehend, an den Beginn zurück? Die Schwäche der zweiten Vorgehensweise liegt darin, dass es in einem Menschenleben ja keine zwingenden Abfolgen von Ursache und Wirkung gibt, wir vielmehr immer wieder schicksalhafte Entscheidungen treffen müssen.

Es gibt keinen schlüssigen Nachweis, dass man nur so werden konnte, wie man ist. Viele haben ihn versucht, aber herausgekommen ist kaum mehr als ein Schlussstrich unter ihre Existenz.

 

Ich war wieder am Fenster. Die drei Segelboote kommen bei der Windstille nicht vom Fleck. Ich weiß, dass es ein abstruser Einfall ist, aber ich muss dabei an uns drei denken, an dich und mich – und an Pelle, denn er gehört unbedingt dazu.

Es ist mir fast peinlich, aber weit hinten in meinem Kopf hat sich ganz von selbst ein altes Lied aus der Sonntagsschule angestimmt: Mein Boot ist so klein, und das Meer ist so groß …

Und hiermit fasse ich einen Entschluss: Ich werde meinen Bericht sozusagen mitten auf der Reise beginnen lassen. Ich werde von dem Augenblick an erzählen, als ich auf Erik Lundins Beerdigung deinen Vetter kennenlernte. Danach werde ich den Fäden folgen, die direkt zu unserer ersten Begegnung etwa zehn Jahre später führen. Zur Last, die ich aus Hallingdal mitgeschleppt habe, komme ich später.