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FORSCHUNGEN ZUR DDR-GESELLSCHAFT
Matthias Judt (Hg.)
DDR-Geschichte in Dokumenten

Matthias Judt (Hg.)

DDR-Geschichte
in Dokumenten

Beschlüsse, Berichte, interne Materialien
und Alltagszeugnisse

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Dezember 2013 (entspricht der 2. Druck-Auflage von März 1998)
© Christoph Links Verlag GmbH, 1997
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Fotos aus dem Album zum Nationalen Aufbauprogramm der fünfziger Jahre (Deutsches Historisches Museum) und eines Fotos von Stefan Moses, Weimar.
Satz und Lithos: SATZFABRIK 1035, Berlin

Inhalt

Matthias Judt

Deutschlands doppelte Vergangenheit: Die DDR in der deutschen Geschichte

Editorische Hinweise

Ralph Jessen

Partei, Staat und »Bündnispartner«: Die Herrschaftsmechanismen der SED-Diktatur

1. Konstituierung und Festigung der SED-Herrschaft

2. Ideologische und innerparteiliche Absicherung der politbürokratischen Herrschaft

3. »Blockparteien« und »Massenorganisationen« als Transmissionsriemen der SED

4. Justiz und Verwaltung im Dienste der Staatspartei

Dokumente P1–P46

Matthias Judt

Aufstieg und Niedergang der »Trabi-Wirtschaft«

1. Ordnungspolitische Weichenstellungen in Industrie und Landwirtschaft

2. Machtverhältnisse und planwirtschaftliches System

3. Fünf Etappen der Wirtschaftsentwicklung

Dokumente W1–W75

Astrid Segert/Irene Zierke

Gesellschaft der DDR: Klassen – Schichten – Kollektive

1. Soziale Umschichtung der ostdeutschen Gesellschaft

2. Gesicherter Mangel für alle: Die materielle »Gleichstellung« der DDR-Bürger

3. Leben in der Familie und im »Kollektiv«

4. Geschlechterpolitik im Wandel

5. Jugendkultur in der staatssozialistischen Gesellschaft

Dokumente G1–G83

Peter Th. Walther

Bildung und Wissenschaft

1. Allgemeinbildende Schulen

2. Universitäten und Hochschulen

3. Akademien

Dokumente B1–B44

Andreas Trampe

Kultur und Medien

1. Kulturpolitische Zäsuren

2. »Kulturnation DDR«

3. Kultureller Alltag

4. Medialer Alltag

5. Instrumente der kultur- und medienpolitischen Lenkung

Dokumente K/M1–K/M52

Ehrhart Neubert

Kirchenpolitik

1. Das Verhältnis von Staat und Kirche

2. Religion und Religionsersatz

3. Kirche als Gesellschaftsersatz

4. Kirchliches Leben

5. Nachhaltige Veränderungen in der gesellschaftlichen Stellung der ostdeutschen Kirchen

Dokumente K1–K45

Helmut Müller-Enbergs

Garanten äußerer und innerer Sicherheit

1. Äußere Sicherheit: Sowjetische Truppen, NVA und Auslandsspionage

2. Innere Sicherheit: Grenztruppen, MfS, Volkspolizei, Wehrerziehung und Zivilschutz

3. Entscheidungsgremien der Sicherheitspolitik: Verteidigungsrat und SED-Führung

Dokumente S1–S62

Matthias Judt

Deutschland- und Außenpolitik

1. Gründungsanspruch und Staatsverständnis der DDR-Führung

2. Das Selbstverständnis der DDR-Bürger

3. Deutsch-deutsche Beziehungen und Außenpolitik der DDR

Dokumente D1–D64

Matthias Judt

Anhang

Chronik der SBZ- und DDR-Geschichte

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Annotiertes Personenregister

Orts- und Länderregister

Schlagwortregister

Angaben zu den Autoren

Matthias Judt

Deutschlands doppelte Vergangenheit: Die DDR in der deutschen Geschichte

Dasselbe Land zu lange gesehen,
dieselbe Sprache zu lange gehört,
zu lange gewartet, zu lange gehöfft,
zu lange die alten Männer verehrt
.1

Seit dem Untergang der DDR ist in der politisch interessierten Öffentlichkeit in Deutschland, aber auch im Ausland, eine mitunter emotionsgeladene Diskussion um die Entstehung dieses zweiten deutschen Nachkriegsstaates, seine Geschichte und seinen Zusammenbruch im Gange. Sie dient vor allem der historischen Wahrheitsfindung, doch das Nachwirken der jüngsten Vergangenheit beeinflußt auch andere Prozesse. Die verschiedenen Untersuchungsausschüsse, neben solchen der ostdeutschen Landesparlamente vor allem die des Deutschen Bundestages, haben mit großem Aufwand Studien zum Gesamtverlauf der DDR-Geschichte oder zu Einzelproblemen ihrer Entwicklung unterstützt, die zusätzlich zum Aufzeigen der historischen Prozesse der politischen Willensbildung der Parlamentarier dienten.2 Die strafrechtliche Bewertung von Handlungen in der DDR hat, so schwierig und so unbefriedigend das Unterfangen sein mußte, einen Beitrag zur juristischen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit geleistet. Der offene Zugang zu den personenbezogenen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit hat für jene, die ihre Unterlagen eingesehen haben, nicht nur verdeutlicht, was das MfS über sie wußte, sondern hat auch das Paranoide eines Dienstes gezeigt, der alles wissen wollte und sich seiner Überlegenheit im »Katz-und- Maus-Spiel« mit den Bürgern, die er vor sich selbst »schützen« wollte, bewußt war.

Doch genauso war die Debatte auch eine allgemein-politische mit zwei gegensätzlichen Positionen. Auf der einen Seite wurde die DDR als eine Art unzulässige Abweichung vom Normalverlauf deutscher Geschichte, der in der Erfolgsgeschichte der »alten« Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck käme, bewertet, auf der anderen Seite wurde sie als das »eigentlich bessere Deutschland« präsentiert und die tatsächlichen Exzesse in ihrer Geschichte mit »äußeren Umständen« wie den Bedingungen des Kalten Krieges begründet. Dabei verbergen sich hinter der »Ostalgie«, der nostalgischen Rückbesinnung auf einzelne Werte und Einrichtungen der untergegangenen DDR, die auch im nachhinein als die praktikableren erscheinen, und der Nostalgie für den westdeutschen Nachkriegsstaat bei einigen Westdeutschen die generellen Schwierigkeiten der Deutschen im Umgang mit ihrer jüngsten Geschichte. Bei vielen Ostdeutschen ist am Anfang der neunziger Jahre, trotzdem sie in einer demokratischen Revolution ihre politische Emanzipation vollzogen hatten, nicht unmittelbar eine uneingeschränkte Identifikation mit dem System der Bundesrepublik eingetreten, obwohl dort jene politischen Grundrechte seit Jahrzehnten verwirklicht sind, für die die DDR-Bürger im Herbst 1989 auf die Straße gegangen waren. Auf der anderen Seite kann im Hinblick auf die DDR von den Westdeutschen nicht eine nachträgliche »Identifikation« (im Sinne einer Annahme als »eigene Geschichte«) mit den historischen Prozessen in der DDR erwartet werden, obwohl gerade mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur tatsächlichen Existenz der DDR deutlich wird, wie sehr die doppelte Vergangenheit3 der »neuen« Bundesrepublik nachhaltige Wirkung zeigt. Ein traditionelles Problem der Deutschen in ihrer Selbstdefinition, das schon vor der »Wende« in der DDR von dem Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld als der »vagabundierende Identitätsbedarf«4 der Deutschen charakterisiert wurde, wirkt auch nach der Wende als fortgesetzte Kontrastierung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten fort. Hierbei leistet die Tatsache, daß 1989 etwa zwei Drittel der jeweiligen Bevölkerung in dem einen oder in dem anderen deutschen Staat geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden waren, also über keine oder nur aus Erzählungen anderer auf »Erfahrungen« aus dem zuvor vereinigten Deutschland aufbauen konnten, einen Beitrag.

Überdies sind die Debatten der neunziger Jahre um die DDR nicht vor der Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung gefeit. Mit dem Untergang des Untersuchungsgegenstandes DDR können gerade jene Zeithistoriker, Politologen und Ökonomen angegriffen werden, die, von der normativen Kraft des Faktischen ausgehend, die Perspektiven der Entwicklung in Deutschland in einer anhaltenden Spaltung sahen. Die Geschichte hat gezeigt, daß sie sich geirrt haben, doch scheint fraglich, inwieweit vor 1989 die Indikatoren erkennbar waren, die zur neuerlichen deutschen Vereinigung im Oktober 1990 führten.

Die durch den seit 1990 fast uneingeschränkt möglichen Zugang zu den historischen Quellen des »ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden« gewonnenen Erkenntnisse haben das Bild von ihm zweifellos verschlechtert, und sogar mehr, als wegen seines schnellen Unterganges nach der demokratischen Revolution vom Herbst 1989 angenommen werden konnte. Die durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen begleitete, auch von Publizisten vollzogene retrospektive Analyse der DDR-Geschichte hat im Ergebnis zur notwendigen Revision früherer, von Illusionen um die vermeintliche Stabilität der DDR geprägten Darstellungen geführt.5 Doch es sind Forschungsergebnisse, die auf Unterlagen beruhen, die vor 1989 nicht einmal für die linientreuesten DDR-Historiker verfügbar gewesen waren. So konnte das Ausmaß der innerstaatlichen Repression in der DDR und die dabei angewendeten Methoden nur ungenau erkannt werden.6 Das zunehmende Gefühl der Resignation der DDR-Bürger wurde hingegen in Gesprächen mit ihnen oder mittels solcher Texte wie dem eingangs zitierten Ausschnitt aus dem Song »Langeweile« der Ost-Berliner Rockband Pankow deutlich. Gleichwohl bleibt auch im Nachgang der schnellen Entwicklung zur deutschen Vereinigung vom Oktober 1990 zu hinterfragen, in welchem Maße der offensichtlich tiefsitzende Wunsch bei den DDR-Bürgern nach dem Zusammenleben mit den »BRD-Deutschen« und in welchem Maße die Aufgabe jeglicher Hoffnungen in eine Verbesserung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensumstände innerhalb der DDR den Ausschlag für die Entscheidung gegeben hatte, die DDR so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. So bleibt es nach wie vor eine Aufgabe der historischen Forschung, die Geschichte der DDR in ihrer Gesamtheit zu untersuchen.

Bei dieser Analyse der DDR-Gesellschaft ist zu unterscheiden zwischen ihren konstitutiven Grundlagen, wie sie im wesentlichen in ihrer Entstehungsphase gelegt worden waren, einigen wichtigen Ereignissen, die ob ihrer für nahezu alle Bereiche der DDR-Gesellschaft übergreifenden Bedeutung einen ebenso »konstitutiven Charakter« erlangten, und dem Verlauf sowie den Ergebnissen einzelner Entwicklungsetappen der DDR-Geschichte. Die beiden wesentlichen konstitutiven Grundlagen der DDR sind das Vorhandensein der marxistischen Ideologie, die über kurz oder lang zur entscheidenden Existenzgrundlage der DDR werden mußte, und der Tatbestand der Besetzung des Gebietes zwischen Oder/Neiße und Elbe/Werra durch die Truppen der Roten Armee.

Der britische Historiker Eric Hobsbawn hat das »kurze 20. Jahrhundert« als das »Zeitalter der Extreme« beschrieben.7 Eines dieser Extreme war die enorme Stärke, die der Staatssozialismus in der Welt als Herausforderung für die kapitalistische Ordnung hatte erreichen können, eine Stärke, die in Wahrheit vor allem auf der Schwäche der westlichen Systeme basierte: Der Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnungen des 19. Jahrhunderts war eine der Ursachen der Oktoberrevolution in Rußland 1917, die Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre bei gleichzeitig ablaufender, die vorherigen Entwicklungen in anderen Ländern nachholender Industrialisierungspolitik in der Sowjetunion ließ die planwirtschaftliche Ordnung als realistische Alternative zum Kapitalismus erscheinen, und der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland machte die Rote Armee zum offensichtlich unverzichtbaren Instrument bei der von außen bewirkten Niederschlagung des Hitlerregimes.8

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstand nicht nur der Ost-West-Konflikt als Gegensatz der beiden großen Blöcke, dem von der Sowjetunion beherrschten östlichen der staatssozialistischen Länder und dem von den USA geführten westlichen Bündnis. Die wachsenden Spannungen zwischen den vormaligen Kriegsalliierten hatten auch Konsequenzen für die Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Vor dem Hintergrund des sich entwickelnden Kalten Krieges konnte zwar die Staatlichkeit des vormaligen deutschen Feindstaates der Alliierten wiederhergestellt werden, allerdings nur in Form der auch von deutschen Entscheidungsträgern in den vier Besatzungszonen betriebenen Gründung zweier Nachkriegsstaaten.9 Der von Hobsbawn für die Blöcke festgestellte Gegensatz der Extreme spiegelte sich somit in Deutschland selbst als der Gegensatz zwischen dem von deutschen Kommunisten geführten ostdeutschen Staat und dem von deutschen Antikommunisten geführten westdeutschen Staat.

Mit der Gründung des »ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschen Boden« folgten die deutschen Kommunisten wohl dem praktischen Beispiel der Sowjetunion. Obwohl die am 7. Oktober 1949 in Berlin ausgerufene DDR zeit ihrer Existenz des Schutzes der Sowjetunion bedurfte, basierte der in den folgenden Jahrzehnten praktizierte »real existierende Sozialismus« doch nicht allein auf einer aus der UdSSR importierten Ideologie. Gerade bei den deutschen Kommunisten war der deutlich artikulierte Anspruch vorhanden, auch im Geburtsland der beiden wichtigen Theoretiker des Kommunismus, Karl Marx und Friedrich Engels, an den Aufbau der scheinbar so erfolgreichen staatssozialistischen Ordnung zu gehen. Und immerhin: Nach den offenkundig schlechten Erfahrungen mit dem deutschen Kapitalismus in der Vergangenheit – der Hyperinflation zu Beginn der zwanziger Jahre, der Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre und dem Not und Elend bringenden Krieg in der ersten Hälfte der vierziger Jahre – wirkte das Faszinosum der planwirtschaftlichen Ordnung auch in Deutschland stark. Diese Ordnung letztendlich – im Anfang zweifellos mit dem Anspruch, ein Beispiel für ganz Deutschland zu setzen – in der SBZ einzuführen, bedurfte allerdings der Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht.

Im Zusammenhang mit der Übernahme der Regierungsgewalt in Deutschland durch die vier großen Siegermächte wurde in der Sowjetischen Besatzungszone am 9. Juni 1945 mit der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) ein Verwaltungsapparat geschaffen, der zwei wesentliche Stützen hatte. Einerseits war die zentrale SMAD durch sowjetische Militärverwaltungen auf regionaler (SMA der Länder) und lokaler Ebene (Kommandanturen) untersetzt. Andererseits nutzte die Sowjetunion ihre Machtposition, um bei der Reorganisation der deutschen Verwaltung durch die Begünstigung von KPD bzw. SED personell und strukturell den Aufbau eines deutschen Staates zu erreichen, der nicht nur keine Bedrohung für die Sowjetunion, sondern sogar eine Bereicherung im späteren östlichen Bündnis sein würde. Die im Prinzip mit den westlichen Alliierten abgestimmte Politik der Entnazifizierung, Dekartellisierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung Deutschlands wurde so von der sowjetischen Besatzungsmacht im Gebiet der späteren DDR in der besonderen Vermischung ihrer Sicherheits- und ideologischen Interessen modifiziert. Die von innen uneingeschränkte und unkontrollierte Macht der SED und ihrer Führung ist auf der Basis dieser vordergründig an Sicherheitsinteressen orientierten Politik der Sowjetunion geschaffen worden.

Entnazifizierung bedeutete in diesem Kontext nicht allein die »bloße« Entfernung von ehedem aktiven Nazis aus Justiz, Verwaltung und Bildungswesen, sondern vor allem ihren Ersatz durch »antifaschistische Kader«, insbesondere solche, die ihre Zuverlässigkeit dadurch zum Ausdruck bringen konnten, Mitglied oder Sympathisant der Partei zu sein, die tatsächlich darauf verweisen konnte, als erste Opfer der Nazis geworden zu sein, und viele führende Repräsentanten aus Widerstand und Exil in den dreißiger Jahren als Mitglieder hatte: die KPD.

Entmilitarisierung und Dekartellisierung beinhaltete im sowjetischen Verständnis nicht allein die Zerschlagung der Wehrmacht und der Kriegsindustrie, sondern vor allem eine Revolution in den Eigentumsverhältnissen in der Industrie Ostdeutschlands: Die Beschlagnahme von Industriebetrieben (ab Sommer 1945), ihre Überführung in »Volkseigentum« (ab Sommer 1946) sowie die Gründung Sowjetischer Aktiengesellschaften ab Anfang 1946 schufen einen dominanten staatlichen Sektor in der ostdeutschen Volkswirtschaft, der diese bis 1990 prägen sollte. Zusätzlich vollzog sich mit der Bodenreform vom September 1945 und der Kollektivierung 1952 bis 1960 auch in der Landwirtschaft eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, womit, gemeinsam mit dem Volkseigentum in der Industrie nach der Vorgabe der marxistischleninistischen Ideologie letztlich die Ursache von früheren Klassenkonflikten beseitigt sei.

Demokratisierung schließlich orientierte sich am Modell der »Volksdemokratie«: Nicht nur Parteien erlangten darin politische Entscheidungsrechte, sondern auch die sogenannten Massenorganisationen, die nach Gründungsinitiativen seitens der KPD bzw. der SED als vorgebliche Interessenvertreter berufsständischer oder gesellschaftlicher Gruppen in Wahrheit entscheidende Bedeutung für die Ausprägung der Suprematie der SED erlangen sollten. Die Herrschaft durch Kader wurde abgesichert, indem die SED neben den eigenen, im Namen der Partei agierenden Vertretern in Gremien wie dem Demokratischen Block, den drei »Deutschen Volkskongressen für Einheit und einen gerechten Frieden«, der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) oder nach Gründung der DDR in der Volkskammer noch weitere Parteimitglieder über die Vertreter der Massenorganisationen plazieren konnte, die der SED zu jedem Zeitpunkt die Stimmajorität auch dann sichern sollten, wenn Kampfabstimmungen entlang der Parteilinien zu befürchten waren. Sodann die Herrschaft der SED in eine Herrschaft ihrer Führungsspitze zu verwandeln, bedurfte zum einen der Disziplinierung der eigenen Mitgliedschaft, zum anderen der Domestizierung der anderen Parteien und Interessenverbände.

Die Disziplinierung wurde mittels der Durchsetzung des Konzepts von der »Partei neuen Typus« ab 1948 erreicht, das eine straffe Zentralisierung aller Entscheidungsprozesse in der Partei selbst und – über die Mitglieder – in Staat und Gesellschaft beinhaltete. Dazu mußte zunächst innerhalb der SED die innerparteiliche Demokratie beseitigt werden. Im Rahmen ihrer Stalinisierung wurde hierfür der vorgebliche »Kampf gegen den Nationalkommunismus« genutzt, der sich mit dem Konflikt zwischen dem sowjetischen und dem jugoslawischen Parteiführer, Stalin bzw. Tito, »anbot«. Mit wiederholten Säuberungen wurden potentielle Widersacher des Zentralisierungsprozesses entfernt und die verbleibenden Mitglieder diszipliniert. Dabei diente das Instrument des »Parteiverfahrens« (in dessen Verlauf die Verfehlungen des Mitgliedes quasi öffentlich im Rahmen seiner Parteiorganisation behandelt wurden) weniger dem sichtbaren Bestrafungsritual als dem Signal an die eigentlich nicht betroffenen Parteimitglieder: Verfehlungen dieser oder jener Natur führen zu entsprechender Bestrafung. Gepaart mit der unbedingten Bindung der Parteimitglieder an Beschlüsse des Parteigremiums, dem sie angehörten, sowie aller übergeordneten Hierarchieebenen konnte das Entscheidungsmonopol der Parteiführung abgesichert werden: Die Aufgabe von Rechten, die Mitglieder demokratischer Parteien üblicherweise haben, wurde durch deren Privilegierung in der übrigen Gesellschaft kompensiert. Gleichsam wurde mit dem institutionalisierten sogenannten demokratischen Zentralismus auch die wichtigste Grundlage für die Lähmung der Entscheidungsprozesse in der DDR schlechthin gelegt: Jede problematische Entscheidungssituation auf unteren Ebenen wurde hiernach zur eigenen Absicherung und aus Furcht, eine falsche Entscheidung zu treffen, nach oben gereicht, jede unter Umständen als falsch erkannte Entscheidung einer höheren Ebene wurde von unteren Ebenen auch dann nicht in Frage gestellt, wenn deren Nachteile offensichtlich waren. Diese Hierarchie setzte sich bis in den zentralen Parteiapparat fort, wobei dort die Rollen sogar vertauscht wurden: Nach dem Parteistatut war der Parteitag das höchste Organ der SED, und das Zentralkomitee übernahm diese Funktion zwischen den Parteitagen. Formal kam dem Zentralkomitee auch die Wahl des Politbüros zu. Tatsächlich waren die Tagungen des Zentralkomitees der SED jedoch zu Versammlungen willfähriger Claqueure des eigentlich herrschenden und sich selbst wählenden Politbüros mutiert.

Die Domestizierung der anderen Organisationen erreichte man, indem potentielle Widersacher in den bürgerlichen Parteien CDU und LDPD mit massiver Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht ihrer Posten verlustig wurden (und ihrer Verhaftung in der Regel nur durch Flucht in den Westen entgehen konnten) sowie mit der Gründung zweier neuer, vermeintlich bürgerlicher Parteien, der NDPD und der DBD im Jahre 1948, einschließlich der Kooptation einiger ihrer führenden Vertreter in die neugebildeten Organe der staatlichen Verwaltung in der SBZ/DDR. Die neuen Parteien ebenso wie CDU, LDPD und auch die Massenorganisationen wie der Gewerkschaftsbund FDGB und der Jugendverband FDJ gaben Loyalitätserklärungen gegenüber der SED ab, in denen sie den Führungsanspruch der »Partei der Arbeiterklasse« uneingeschränkt anerkannten. Dieser Führungsanspruch der SED, den diese am Ende der vierziger Jahre noch »durchsetzen« mußte, war von Anfang an fester Bestandteil der DDR-Gesellschaftskonzeption, wurde jedoch – formal – erst mit der ersten »sozialistischen Verfassung« der DDR vom 6. April 1968 festgeschrieben.

Das Abdrängen der anderen Parteien und Organisationen in eine vordergründig nicht erkennbare Minderheitenrolle in den staatlichen und gesellschaftlichen Gremien wurde mit der Institutionalisierung der Einheitslistenwahl (erstmals schon bei den Wahlen zum 3. Deutschen Volkskongreß im Mai 1949 angewendet) festgeschrieben. Nach den vergleichsweise »enttäuschenden« Wahlergebnissen im ersten Versuch, wo nur knapp zwei Drittel der Wähler für die Einheitsliste gestimmt hatten, wurde bei allen folgenden Wahlen in der DDR, beginnend mit der Volkskammerwahl im Oktober 1950 bis hin zu den Kommunalwahlen im Mai 1989, nachgeholfen: durch Druck, ausgeübt von Wahlhelfern, die nicht wahlwillige Bürger immer wieder zur Stimmabgabe aufforderten oder – wie die Kontrolle der Wahlergebnisse im Mai 1989 offenbarte – durch Fälschung. Das Auf und Ab der Zustimmungswerte bei den verschiedenen Wahlen zu kommunalen, regionalen oder zentralen Parlamenten bewegte sich im Zehntel-Prozentpunkt-Bereich, oberhalb der 99,5-Prozent-Marke.

Zur inneren Absicherung der diktatorischen Herrschaft der SED diente letztendlich auch die besondere Ausgestaltung des Rechtssystems der DDR. Getreu der ideologischen Vorgabe, daß es in keiner Gesellschaft eine neutrale und unabhängige Rechtsordnung gäbe, hingegen in den verschiedenen Rechtsordnungen die Durchsetzung unterschiedlicher »Klasseninteressen« zum Ausdruck käme, war folgerichtig die »sozialistische Gesetzlichkeit« durch die Ausrichtung auf die »Interessen des Proletariats« charakterisiert. Sofern keine politischen Implikationen eines konkreten juristischen Verfahrens vorauszusetzen waren, funktionierte das Rechtsprechungssystem der DDR dabei in einer Weise, die rechtsstaatlichen Maßstäben durchaus Genüge tat. Die korrekte Aburteilung von Straftätern und die durchgeführten Zivilrechtsverfahren sind hinsichtlich der Art und Weise der Prozeßführung wenig umstritten, auch wenn im Vergleich mit der BRD eine hohe Verurteilungsquote die schwächere Position der Angeklagten in DDR-Prozessen verdeutlicht und die Strafen relativ hoch ausfielen. Im Falle einfacher Arbeitsrechtskonflikte ermöglichten die sogenannten Konfliktkommissionen in Betrieben und Institutionen sogar, im Gros der Fälle eine gütliche, außergerichtliche Einigung unter Einbeziehung von Kollegen zu erreichen. Sofern jedoch politische Interessen in Strafverfahren involviert waren, diente die »sozialistische Gesetzlichkeit« auch nach dem Buchstaben des Gesetzes der eindeutigen Durchsetzung von »Interessen der Arbeiterklasse«, tatsächlich der Interessen der »Diktatoren des Proletariats«. Die bewußt vage Formulierung von Straftatbeständen ermöglichte es dem Staat, im Falle eines politisch motivierten Konfliktes mit einem Bürger strafrechtliche Disziplinierungsmaßnahmen gegen diesen einzuleiten. Die Anklage reichte von Artikel 6 der ersten Verfassung von 1949 mit seinen Bestimmungen zur sogenannten Boykotthetze bis hin zu den Regelungen entsprechend des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes von 1979 mit Straftatbestimmungen wie »Sammeln von Nachrichten [auch nicht geheimen] für ausländische Organisationen« (auch Journalisten), »illegale Verbindungsaufnahme« (wozu das Aufsuchen einer westlichen Botschaft gehören konnte), »staatsgefährdende Hetze«, »Staatsverleumdung« und »Herabwürdigung staatlicher Tätigkeit«. Auch wenn die Bestimmungen des politischen Strafrechts nur in einem geringen Teil der Strafprozesse zur Anwendung kamen, erfüllte es die gleiche Funktion in der gesamten DDR-Gesellschaft wie etwa der bereits erwähnte Kampf gegen »Revisionisten« in der SED. Das Exempel sollte Signalwirkung für all jene besitzen, die eigentlich nicht vor Gericht standen.

Bei der durch die Stalinisierung der SED, die Gleichschaltung der anderen Parteien und der Massenorganisationen, die Durchsetzung des undemokratischen Wahlverfahrens und des Auf- und Ausbaus des Sicherheitsapparates erreichten Festigung der diktatorischen Strukturen in der DDR erlangten zudem einige wichtige Ereignisse in der Geschichte der DDR große Bedeutung, kam ihnen doch ein ähnlich konstitutiver Charakter zu.

Als sich im Juni 1953 aus einem Streik Ost-Berliner Bauarbeiter wegen der Ende Mai administrativ von der »Arbeiterregierung« verordneten Normerhöhungen binnen weniger Stunden ein DDR-weiter Aufstand entwickelte, an dem neben den Arbeitern auch andere Schichten der Bevölkerung teilnahmen, vermittelte der Verlauf der Ereignisse zwei wesentliche »Lernerlebnisse« an beide, am ursprünglichen Konflikt beteiligte Seiten:

1. Die vermeintlich gefestigte diktatorische Macht der SED war »leicht« zu erschüttern, jedoch unmittelbar durch den massiven Einsatz der in der DDR stationierten sowjetischen Truppen wieder zu sichern. Die Erfahrung der DDR-Bürger vom Juni 1953 wurde bis in die achtziger Jahre hinein immer wieder durch Ereignisse in anderen Ländern des sowjetischen Einflußbereiches »bestätigt«. Sowjetische Truppen marschierten 1956 in Ungarn ein, um den auch von ungarischen Kommunisten geführten Unabhängigkeitsprozeß zu stoppen, 1968 in die Tschechoslowakei, um dort die Reformbewegung des »Prager Frühlings« – der wiederum von Kommunisten angeregt worden war – niederzuschlagen, Ende 1979 in Afghanistan, um ein verläßlicheres Regime in Position zu bringen. 1981 bestand die ernsthafte Möglichkeit eines Einmarsches in Polen, der »nur« durch die Verhängung des Kriegsrechtes intern verhindert wurde. 1989 unterstützte die DDR-Propaganda – nach langer Zeit anti-maoistischer Tiraden – offensiv die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China. Erst als Anfang Oktober 1989 keine sowjetischen Truppen zur befürchteten gewaltsamen Niederschlagung von Demonstrationen in Leipzig anrückten, verlor die alte Erfahrung der DDR-Bürger vom Juniaufstand 1953 ihre Gültigkeit.

2. Der erste massive Konflikt zwischen den Regierenden und den Regierten in der DDR besaß insofern traumatische Bedeutung für den weiteren Verlauf der DDR-Geschichte, als er für wie auch immer initiierte oder motivierte Konflikte in der DDR-Gesellschaft selbst dann eine schnelle Politisierung befürchten ließ, wenn eigentlich kein Anlaß zur Politisierung vorlag. Die Befürchtung, ein ernster Konflikt könne von staatlicher Seite als politischer Angriff mißverstanden werden (was zu ähnlichen Reaktionen wie 1953 führen könne), erzeugte Zurückhaltung bei den Regierten. Genauso bedingte es die schnelle Bereitschaft auf Seiten des Staates, während Spontanstreiks in der DDR-Volkswirtschaft bei gleichzeitiger Suche nach den Rädelsführern auf die Forderungen der Streikenden einzugehen. Charakteristisch für die staatliche Politik der Konfliktvermeidung war es fortan also, prinzipiellen Auseinandersetzungen auszuweichen: Die Propagandalosung der fünfziger und sechziger Jahre »Keine Fehlerdiskussion, Probleme werden im Vorwärtsschreiten gelöst« symbolisierte diese Konfliktscheu. Das Zugeben von »Fehlern« der Regierung im unmittelbaren Vorfeld des 17. Juni 1953 hatte in den Augen der Herrschenden den eigentlichen Grund für den Ausbruch des Aufstandes geliefert. Neue »Fehler« zu benennen war also »gefährlich«, wer sie benannte, würde die »Gefahr« der Konterrevolution heraufbeschwören. Die Nachwirkungen des 17. Juni 1953 ermöglichten der SED-Spitze auch, in den Jahren 1956 bis 1958 innerparteiliche Opponenten der Ulbricht-Führung unter dem Vorwand, ihre Kritik (ihre Fehlerdiskussion) leiste dem »Feind« Vorschub, zu entmachten. Damit konnten sie die Krise, die aus dem Bekanntwerden einiger der Verbrechen Stalins entstanden war, zu ihren Gunsten beenden.

Das zweite Ereignis mit konstitutivem Charakter war in vielfacher Hinsicht der Bau der Berliner Mauer ab dem 13. August 1961. Das Abriegeln der DDR-Grenzen zu Berlin (West) sowie die Verstärkung der Grenzsicherung nach Westdeutschland markierten den Abschluß der ersten Phase der DDR-Entwicklung, in der in Ostdeutschland der Aufbau des staatssozialistischen Systems unter den Bedingungen der offenen Grenze zum Westen begonnen worden war. Die Massenflucht von DDR-Bürgern über West-Berlin hatte während dieses Aufbaus zu enormen Belastungen geführt, konnte sich der DDR-Staat doch nicht sicher sein, daß etwa die Investition in eine höhere Ausbildung bei einem seiner Bürger sich für ihn durch die Arbeit eines solchen »Kaders« in der DDR auch auszahlen würde. Gleichzeitig begünstigte die »Republikflucht« – wie der Weggang in den Westen offiziell bezeichnet wurde – auch den Elitenwechsel in der DDR auf eine besondere Weise. Die »Entbürgerlichung« der DDR-Gesellschaft war nicht allein in den fünfziger Jahren durch die massive Förderung von solchen Schichten der Bevölkerung bestimmt gewesen, denen zuvor tatsächlich der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen (und damit sozial besser gestellten Berufen) erschwert war, sondern sie war überhaupt an ein vorläufiges Ende gelangt, indem die meisten Träger des Bürgertums das Land bis 1961 verlassen hatten. Zusätzlich führte der Weggang von ca. 2,7 Millionen Menschen von 1949 bis zum 13. August 196110 zu struktuellen Veränderungen der Opposition. Die Antikommunisten hatten fast alle das Land verlassen. Geblieben waren die, die eine Reform des staatssozialistischen Systems der DDR forderten, dieses im Prinzip jedoch erhalten, nur verbessern wollten. In anderen staatssozialistischen Ländern blieben in weit stärkerem Maße bürgerliche, antikommunistische Elemente bestehen. Die DDR-Führung selbst nutzte das Instrument der genehmigten ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach dem 13. August 1961 immer wieder dazu, gegebenenfalls entstehende Strukturen einer Opposition durch Ausbürgerung ihrer Vertreter zu zerschlagen oder als gefährlich erachtete Reformkräfte auf diese Weise loszuwerden. Die immer wieder gerade von den evangelischen Kirchen als einer der letzten, nicht SED-dominierten gesellschaftlichen Instanzen vorgetragene Aufforderung an die DDR-Bürger, im Lande zu bleiben, war durch den Gedanken bestimmt, alternatives Denken in der DDR zu halten.

Mit dem Mauerbau, als »zweite« oder sogar »eigentliche« Staatsgründung der DDR11 charakterisiert, konnte die DDR-Führung Probleme der eigenen Entwicklung nicht mehr (oder nur noch sehr vermittelt) mit den negativen Folgen eines aktiven Einflusses des westdeutschen Staates begründen. Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen dem Bau der Mauer und dem Beginn der Reformphase der sechziger Jahre in der DDR verdeutlicht, daß selbst die Reformer innerhalb der SED-Führung in der Vorstellung einer von außen nicht zu »störenden« Vision an die Umgestaltung zunächst des Planungs- und Leitungsmechanismus in der DDR-Volkswirtschaft gingen, die auch in der Liberalisierung des Kulturlebens in der DDR ihren Ausdruck finden sollte. Entscheidende Bedeutung hatte der Mauerbau jedoch auf das Selbstverständnis der DDR und ihrer Bürger. Die diplomatische Isolierung der DDR hielt nach dem 13. August 1961 offiziell noch einige Jahre an, die irrtümliche Vorstellung gerade der von Konrad Adenauer geführten Bundesregierungen allerdings, das »Pankower Regime« einfach übergehen zu können, fand mit dem Mauerbau ein abruptes Ende. Gleichzeitig war er aber auch der Beginn des mehr als 28 Jahre andauernden Traumas der DDR-Bürger, nur als zuverlässige Reisekader während Dienstreisen, als Rentner oder, im Ergebnis eines »Gnadenerweises«, in dringenden Familienangelegenheiten das Land in Richtung Westen zeitweilig verlassen zu dürfen. Das »Sich-Einrichten« in und mit der DDR begann erst richtig mit dem Bau der Mauer.

Das dritte Ereignis mit konstitutivem Charakter für die Geschichte der DDR ist die Machtübernahme Erich Honeckers im Jahre 1971. Der Umschwung zu dem im Vergleich mit Ulbricht 19 Jahre jüngeren Erich Honecker spiegelte nicht allein einen Generationswechsel auf der Ebene der Parteiführung wider. Mehr als zwanzig Jahre nach Gründung der DDR, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich in der DDR-Gesellschaft generell ein Wechsel zu den Generationen vollzogen, die Ausbildung und Sozialisation überwiegend oder ausschließlich im zweiten deutschen Nachkriegsstaat erlebt hatten. Zwar waren 1971 wichtige Indikatoren12 der DDR-Geschichte noch unter der vorherigen Führung begonnen bzw. vollzogen worden, doch die Früchte dieser langjährigen Arbeit erntete Erich Honecker. Sein Name wird mit den Höhepunkten der auswärtigen Anerkennung der DDR verbunden: der Austausch von Botschaftern mit den wichtigsten westlichen Industrieländern, besonders mit den westalliierten Siegermächten 1973 und 1974, und vor allem die deutsch-deutschen Verhandlungen, in deren Ergebnis es mit dem Grundlagenvertrag von 1972 zur staatlichen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik kam.

Wichtiger jedoch ist im Zusammenhang mit dem Machtantritt Erich Honeckers die ausgeprägte Sozial- und Konsumpolitik, die unter seiner Führung durchgesetzt wurde. Das Ankurbeln des Wohnungsbaus, die schnelle Verbesserung des Ausstattungsniveaus mit langlebigen Konsumgütern und das gleichzeitige Beibehalten einer im Endeffekt ruinösen Preissubventionspolitik waren fester Bestandteil der Richtlinien, wie sie die SED auf ihrem VIII. Parteitag 1971 und – mit einem neuen Parteiprogramm 1976 – auf ihrem IX. Parteitag beschlossen hatte. Die Erfahrung der forcierten Modernisierungspolitik unter Walter Ulbricht, besonders im Umfeld des 20. Jahrestages der DDR 1969, der im Vergleich zu Westdeutschland erheblich gewachsene Rückstand im Konsumtionsniveau und die einfache Tatsache, daß in vielen Städten der DDR immer noch Kriegszerstörungen in erheblichem Maße zu erkennen waren, machte die Politik Erich Honeckers in der Bevölkerung zunächst populär. Die vergleichsweise liberale Kulturpolitik in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, die Befriedung der Konflikte mit den Kirchen und anderes ließen Hoffnungen entstehen. Doch die Abkehr von der Ulbrichtschen Modernisierungspolitik sollte ein langsames Veralten von Produktlinien, auf denen die ostdeutsche Industrie zuvor international hatte mithalten können, und falsche Reaktionen auf Entwicklungen auf den internationalen Märkten zum Resultat haben: Auf die Ölpreiserhöhungen, die sich auf die DDR wegen deren Einbindung in das östliche Wirtschaftssystem in weit geringerem Maße oder zumindest zeitversetzt auswirkten, reagierte die Führung unter Erich Honecker nicht mit der Wiederaufnahme der Modernisierungspolitik, sondern mit der Hinwendung zur verstärkten Autarkie, das heißt der Substitution von Importen durch eigene Produkte, z. B. im Energiesektor besonders verdeutlicht durch den verstärkten Einsatz der einheimischen Braunkohle statt möglicher Energieeinsparung.

Das vierte Ereignis, das die DDR-Entwicklung wesentlich bestimmte, war kein Resultat der SED-Politik: Die von Michail Gorbatschow ab 1985 vorangetriebene Umgestaltung und Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft beinhaltete auch die Gewährung weitergehender, tatsächlicher innerer Souveränitätsrechte an die als sowjetische Satelliten bezeichneten ost- und mitteleuropäischen Länder. Die DDR nutzte sie – um so weiterzumachen wie bisher. Der XI. Parteitag der SED 1986 verkündete Kontinuität, wo die Reform der sowjetischen Gesellschaft schon voranschritt. Die jahrzehntelang gebrauchte Losung »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« – zuvor von der Bevölkerung durch den Austausch des Wortes »siegen« mit »siechen« verhöhnt, verschwand just zu dem Zeitpunkt, als die Bevölkerung »lernbereit« war. Der Verzicht der SED-Führung auf die Reform des eigenen Systems hat die Abkehr der eigenen Bürger von der anfangs von ihr nicht prinzipiell abgelehnten staatssozialistischen Idee beschleunigt und die wesentliche Ursache für die Fluchtwelle von 1989 geliefert.

Ein fünftes Ereignis ist ebenfalls als konstitutiv zu bewerten, obgleich es der Anfang vom Ende der DDR war. Der »Appell Leipziger Bürger«, der am frühen Abend des 9. Oktober 1989 über den Leipziger Stadtfunk verlesen wurde, vermittelte den sich versammelnden Demonstranten zur neuerlichen Montagsdemonstration, daß die unterzeichnenden sechs Leipziger Bürger, drei in dieser Frage tatsächlich machtlose Bürger, ein Pfarrer, ein Kabarettist und ein Dirigent, sowie drei Sekretäre der Leipziger SED-Bezirksleitung, eine Eskalation der Gewalt bei der anstehenden Demonstration verhindern würden. Der Verzicht der Machthaber auf den Einsatz ihrer Machtmittel konnte nicht einmalig bleiben, die »Chance«, die eigene Macht erneut mit Gewalt zu bewahren (wobei man dieses Mal nicht mit der Unterstützung sowjetischer Truppen rechnen konnte), war dauerhaft vertan. Der Versuch von Mitgliedern der SED-Führung, durch die Entmachtung des nunmehr greisen Erich Honecker sich an die Spitze einer von oben gesteuerten und kontrollierten »Reformbewegung« zu setzen, scheiterte, noch ehe er begonnen hatte. Die Öffnung der Berliner Mauer aus dem gleichen Grunde, aus dem sie errichtet worden war – einen Flüchtlingsstrom zu stoppen –, änderte nichts mehr am Schicksal der DDR.

Diese Ereignisse mit konstitutivem Charakter ordnen sich in den Gesamtverlauf der DDR-Geschichte ein, der mehrere Entwicklungsetappen umfaßt.13 Nach der Vorgeschichte, der Geschichte der sowjetischen Besatzungszone (1945 bis 1949), in der mit Hilfe der Besatzungsmacht das politische und wirtschaftliche System der späteren DDR etabliert worden war, lassen sich sechs weitere Phasen in der Geschichte des zweiten deutschen Staates herausstellen. Die erste Phase umfaßt die Jahre 1949 bis 1955. Im Bereich der Wirtschaftsentwicklung ist sie durch die Perioden des Zweijahrplanes 1949/50 und des ersten Fünfjahrplanes geprägt, die den Übergang der SBZ/DDR-Wirtschaft von Aufbauarbeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit zur dauerhaft etablierten, auf langfristige Entwicklung ausgerichteten Planwirtschaft beinhalteten. Für andere Bereiche der Entwicklung der ostdeutschen Gesellschaft sollte diese Phase der DDR-Geschichte ähnlich große Bedeutung erlangen: Anfang Februar 1950 entstand das Ministerium für Staatssicherheit, zeitgleich mit der Ausschaltung der bürgerlichen Opponenten des Einheitslistenwahlsystems. Im Juli 1950 verabschiedete der III. Parteitag der SED ein neues Parteistatut, das die Struktur der SED immer stärker der der KPdSU anglich. 1952 wiederum war es die 2. Parteikonferenz, die Walter Ulbricht nutzte, um den beginnenden Aufbau des Staatssozialismus in der DDR zu verkünden. Der in diesem Zusammenhang forcierte Aufbau des schwerindustriellen Bereiches folgte nicht allein den Notwendigkeiten der immer noch umfangreichen Reparationslieferungen der DDR an die Sowjetunion, sondern stellte als sogenannte sozialistische Industrialisierung den Nachvollzug vorgeblich positiver Erfahrungen der Sowjetunion dar. Bestandteil der Konstituierung des Staatssozialismus sollte genauso die beginnende – noch weitgehend freiwillige – Kollektivierung in der Landwirtschaft sein. All diese Maßnahmen wurden auf Kosten der Entwicklung des konsumtiven Bereiches vollzogen. Die Verwaltungsreform von 1952 begünstigte die Zentralisierung der staatlichen Macht. Mit der Abkehr vom Länderprinzip und der Einführung von 14 Bezirken war auch die Beschneidung der legislativen und exekutiven Rechte der regionalen Verwaltungen verbunden. Der beginnende Aufbau eigener ostdeutscher militärischer Verbände sowie das Scheitern der Wiedervereinigungspolitik verstärkten den Prozeß der getrennten Entwicklung von DDR und BRD. Mehrere Ereignisse begünstigten die schrittweise Ablösung von Verbindungen der DDR mit dem Westen und ihre verstärkte Einbindung in das von der Sowjetunion dominierte System der osteuropäischen Länder: Die Stalin-Noten von 1952 mit dem Vorschlag für ein neutralisiertes, von Besatzungstruppen freies Deutschland blieben ergebnislos. Die Berliner Außenministerkonferenz (1954) und das Genfer Gipfeltreffen der vier Deutschland besetzenden Siegermächte (1955) scheiterten in dem Versuch, eine einvernehmliche Lösung für eine Wiedervereinigung Deutschlands zu finden. Daraufhin gewährte die UdSSR der DDR am 25. März 1954 erweiterte Souveränitätsrechte, die am 20. September 1955 zur »vollen« Souveränität ausgebaut wurden. Höhepunkte der Integration waren der Abschluß des ersten Freundschafts- und Beistandsabkommens mit der UdSSR im September 1955 und die Teilnahme am Militärbündnis des Warschauer Vertrages vom Mai 1955.

Die zweite Phase der DDR-Entwicklung umfaßt den Zeitraum der Jahre von 1956 bis etwa 1963. In ihr setzte die DDR die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse fort. Einerseits forcierte die SED-Führung die Etablierung genossenschaftlicher Strukturen in der Landwirtschaft, indem sie zunehmend und besonders in den Jahren 1959 und 1960 zu offenem Zwang gegenüber solchen Einzelbauern überging, die ursprünglich nicht in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) eintreten wollten. In der Industrie und im Handwerk wurde die Phase der »kalten« Nationalisierung des gewerblichen Privateigentums mittels der rigiden Anwendung des Wirtschaftsstrafrechts durch die der massiv geförderten Gründung von Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) und von Betrieben mit staatlicher Beteiligung (BSB) abgelöst. Die wieder ansteigenden Republikfluchtzahlen offenbarten, wie sehr die nunmehr schon etablierte Planwirtschaft der DDR der Reform bedurfte. Die in den Wirtschaftswissenschaften und in der Kultur als Ergebnis der Entstalinisierungskrise seit 1956 (als Nikita Chruschtschow in einer Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU einen Teil der Verbrechen der Stalinzeit offengelegt hatte) existierenden Reformforderungen konnten von der Ulbricht-Führung erneut im Verweis auf die Gefahr einer Konterrevolution14 abgewendet werden. Trotzdem symbolisierte das Aufstellen eines ehrgeizigen Siebenjahrplanes im Oktober 1959, der jedoch wegen vieler seiner irrealen Zielstellungen scheitern mußte, einen beginnenden Modernisierungsprozeß, wie er sich auch in anderen Bereichen der Gesellschaft, besonders aber im Bildungswesen und in den Wissenschaften offenbarte. Das Trauma der Grenzschließung in Berlin stoppte dabei nicht die Entwicklung hin zur Reform; diese setzte sich stattdessen nach einer kurzen Konsolidierungsphase 1961/62 verstärkt im Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung (NÖSPL/NÖS) fort.

Das NÖS stand am Anfang der dritten Phase der DDR-Entwicklung, die die letzten Jahre der Ulbricht-Führung von 1963 bis 1970 umfaßt. Schwerpunkt der Reformbestrebungen war vordergründig der Planungsmechanismus, doch gingen die Reformüberlegungen weit über dieses Niveau hinaus. Die Aufwertung der ökonomischen Faktoren Lohn, Preis, Kredit, Zins und Gewinn und die gleichzeitige »Abwertung« solcher Kategorien wie Bruttoproduktion und Produktionsausstoß richteten sich auf eine effizientere Gestaltung der Wirtschaftsprozesse. Zur gleichen Zeit strahlte die Wirtschaftsreform auch auf andere Bereiche der DDR-Gesellschaft aus, besonders auf den Kulturbetrieb, in welchem in Literatur und Film die von der Parteiführung geforderte Hinwendung zu Themen der DDR-Entwicklung tatsächlich vollzogen wurde – nur nicht im gewünschten Sinne der Partei. Folge der 11. Tagung des Zentralkomitees des SED, des sogenannten Kultur-Plenums, 1965 war das Verbot einer kompletten Jahresproduktion von DEFA-Filmen. Dies bedeutete eine ideologische Verhärtung besonders im Bereich des Filmschaffens, jedoch noch nicht die endgültige Abkehr vom gesamten Reformkonzept. So war die erneute Einengung des Entscheidungsspielraums der Betriebe nicht mit der generellen Aufgabe der Modernisierungskonzeption verbunden. Im Gegenteil: Mit den sogenannten »zusätzlichen Vorhaben« zum 20. Jahrestag der DDR-Gründung suchte der greise Walter Ulbricht seiner Modernisierungsstrategie neuen Schwung zu verleihen. Indes überzog er nicht nur die Geduld der DDR-Bürger, die ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende weniger nach einer Modernisierung der Volkswirtschaft als nach der Modernisierung ihres Alltagslebens trachteten. Gepaart mit den sicherheitspolitischen Interessen der Sowjetunion, die den beginnenden deutsch-deutschen Verhandlungsprozeß mit großem Mißtrauen begleitete, leiteten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten besonders des Jahres 1970 das Ende der Ulbricht-Ära ein. Am 21. Januar 1971 erbaten die wichtigsten Mitglieder des SED-Politbüros in einem Brief an die Führung der KPdSU die Ablösung Walter Ulbrichts.

Der Beginn der vierten Phase der DDR-Entwicklung stand im Zeichen des Machtwechsels von Walter Ulbricht zu Erich Honecker. Der Zeitraum der siebziger Jahre symbolisiert auf den ersten Blick augenscheinlich die erfolgreicheren Jahre der Honecker-Ara. Indes bedeutete die massive Hinwendung zur »Politik der Hauptaufgabe«, so die offizielle Bezeichnung der auf dem VIII. SED-Parteitag 1971 eingeleiteten Linie, die auf die Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der DDR-Bürger auf der Grundlage qualitativ hochwertiger und effizienter Produktion ausgerichtet war, auch den schrittweisen Übergang zu einer die Leistungskraft der ostdeutschen Volkswirtschaft überstrapazierenden Sozialpolitik. Die tatsächliche Liberalisierung in der Kulturpolitik der ersten Hälfte der siebziger Jahre und das Streben nach geregelten Beziehungen zu den Kirchen waren die eine Seite der Medaille, die erneute Verhärtung in der Kulturpolitik, wie sie sich in der Maßregelung jener Künstler zeigte, die gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 protestiert hatten, und die beginnende Auseinandersetzung mit alternativen und oppositionellen Gruppen unter dem Dach der einzigen autonomen Großorganisation in der DDR, den (evangelischen) Kirchen, die andere. Die außenpolitischen Erfolge der DDR (»Anerkennungswelle« und vertragliche Regelung der deutsch-deutschen Beziehungen) wurden mit einer stärkeren Einbindung der DDR in das Bündnis der staatssozialistischen Länder, der strikten Befolgung der sowjetischen Vorgaben in der Außenpolitik und der in der Verfassung festgeschriebenen Abgrenzungspolitik im Verhältnis zur BRD gegengesichert. Die noch 1968 in einer Volksabstimmung angenommene erste »sozialistische Verfassung der DDR« wurde mit einem einfachen Gesetz15 der Volkskammer in sehr entscheidendem Maße geändert. Neben der Streichung der Wiedervereinigungsklauseln beinhalteten die Bestimmungen über die verminderten Befugnisse des Staatsrates der DDR eine Stärkung der Machtkompetenzen des SED-Politbüros.