Wyatt Earp 125 – Tod im Eis

Wyatt Earp –125–

Tod im Eis

Roman von William Mark

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-247-5

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Sie hatten den Toten beerdigt, den sie am Fuß des Galgens auf der Ranch gefunden hatten.

Es war keine leichte Arbeit gewesen, ein yardtiefes Loch unter die meterdicke Schneedecke in den zugefrorenen Boden zu schaufeln. Nun zeugte nur noch ein häßlicher brauner Fleck auf der makellos weißen Schneefläche hinter dem Stallhaus von dem Platz, unter dem der Bandit lag, den die Maskenmänner umgebracht hatten.

Wyatt Earp reinigte den Campspaten und schnallte ihn an dem Karabinerhaken wieder hinter dem Sattel seines Falbhengstes auf.

Doc Holliday, der die gleiche Arbeit schon beendet hatte, beobachtete die hochgewachsene Gestalt des Missouriers, der nun vom Stallhaus quer über den Hof ging und vorm Ranchhaus stehen blieb.

Langsam folgte er ihm nach und blieb schräg hinter ihm stehen.

»Was haben Sie vor, Marshal?«

Wyatt Earp entgegnete, ohne sich umzuwenden: »Wir haben das ganze Haus, die Stallungen, die Scheune und die Schuppen durchsucht, ohne auch nur die geringsten Spuren zu finden. Alles, was sie hinterlassen haben, war der Tote vor dem Galgengerüst.«

Der Missourier wandte den Kopf und blickte zu den zackigen Berggipfeln hinüber, die in den eisblauen Abendhimmel ragten und zum Greifen nahe schienen. »Sie sind in die Berge gezogen.«

Der Georgier nahm sein goldenes Etui aus der Westentasche und zog eine seiner langen russischen Zigaretten daraus hervor, schob sie zwischen seine Zähne und riß ein Zündholz an. Mit zusammengekniffenen Augen blickte auch er zu den orangerot leuchtenden Felsbastionen hinüber.

»Ja. Sie sind in die Berge geflüchtet. Und daß es sich um unsere Freunde handelt, bezweifle ich nicht eine Sekunde.«

Er stieß mit dem Stiefel gegen den Galgenmast. »Das ist ihr Werk!«

Der Bergschnee, der in gewaltigen schweren Flocken niedersank, hatte alles zugedeckt; jede Spur, die von der Ranch in irgendeine Richtung geführt hätte.

Nicht einmal die Fährte des Mannes aus dem San Pedro Valley, Kirk McLowery, der nach seiner kurzen Visite auf Navajo Field wieder davongeritten war.

Der Marshal, dessen Auge immer noch an den rotglimmenden Zinnen der Mountains haftete, sagte plötzlich leise: »Es wird einen Blizzard geben.«

Holliday, der die Fähigkeiten des Gefährten im Beurteilen aller Anzeichen der Natur kannte, ging hinüber und brachte die beiden Hengste in den Stall.

Der Marshal stand immer noch neben dem Galgengerüst an der Vorbautreppe.

»Wollen wir diese Nacht noch weiter?« fragte Holliday.

Wyatt Earp schüttelte den Kopf. »Nein, nein, es war schon richtig, daß Sie die Tiere in den Stall gebracht haben. Wir können heute nicht weg. Es kommt ein Blizzard.«

Und wie auf ein Stichwort hin kam plötzlich ein pfeifender Wind vom Plateau herunter über das flache Dach der Stallung in den Ranchhof und trieb den Schnee in einem gewaltigen Wirbel vor sich her. Er zerrte an den Jacken der Männer und hätte ihnen die Hüte vom Kopf gefegt, wenn sie sie nicht festgehalten hätten.

Sie stiegen die Treppe hinauf und gingen wieder ins Wohnhaus.

Der Marshal blieb mitten im Korridor stehen und sah sich um. Doc Holliday hatte ein Zündholz angerissen und hielt die Flamme an den Docht einer Kerosinlampe, die an der Wand hing.

Der kleine Lichtschein tanzte flackernd durch den schlauchartigen Flur und ließ den Schatten der hochgewachsenen Gestalt des Marshals riesengroß an den Wänden hinaufragen.

»Nicht die geringste Spur«, sagte der Marshal leise.

Dann stieß er die Tür zur Wohnstube auf und warf einen Blick hinein.

Es war die niedrige Stube, in der Lazaro Capucine am Vortage mit dem Mann mit der Hasenscharte den Mord an Ann Brinkley besprochen hatte.

Was Wyatt Earp nicht wußte war die Tatsache, daß noch vor wenigen Stunden in diesem gleichen Raum der Mann gestanden hatte, dem der Missourier seit Monaten folgte: der Anführer der Galgenmänner!

Die Banditen waren ganz plötzlich in Arizona verschwunden und hier oben in den Bergen Colorados aufgetaucht. Der Brand auf der Winter Ranch und der Mordanschlag auf Ann Brinkley waren ganz sicher nicht unbeabsichtigt geschehen. Denn der Rancher Winter wie auch die Hotelinhaberin Brinkley gehörten zum näheren Bekanntenkreis des Marshals. Das waren gezielte Angriffe gewesen.

Was hatten die Banditen hier oben auf dem Navajo Field zu suchen? War diese kleine Ranch nur ihr Quartier gewesen, von dem aus Capucine die Angriffe gestartet hatte? Was war mit dem großen Boß? Befand er sich in dieser Gegend?

Diese Fragen machten dem Marshal erheblich zu schaffen, er wurde den Gedanken nicht los, daß der Anführer des Geheimbundes der Maskenmänner oder Graugesichter, wie die Galgenmänner auch genannt wurden, wieder irgendwo Fallstricke für ihn gespannt hatte. Mehr als genug hatte der Chief ihm unten in Arizona geboten! Die Schläge, die der Bandit in Tombstone und der Umgebung der Stadt gegen den Marshal geführt hatte, waren mit äußerster Hinterlist und größter Brutalität geführt worden.

Was hatte das plötzliche Auftauchen der Galgenmänner hier oben in Colorado zu bedeuten? Hatte der Anführer der Bande damit nur die Absicht verfolgt, den Marshal aus dem Cochise Country in Arizona wegzulocken, um dann ungestört und in aller Ruhe seine großen Pläne zu verwirklichen? Oder hatte er sich tatsächlich ein neues Bätigungsfeld gesucht?

War die Bande in Arizona schon schwer zu jagen gewesen, so stellten sich ihrer Verfolgung durch den Missourier hier oben in den schroffen Felsschründen der Rocky Mountains geradezu gigantische Hindernisse entgegen.

Als sich der Abend über das Land senkte, hatte der Marshal das Licht gelöscht. Er stand an einem der niedrigen Fenster, um auf das in der Dunkelheit schimmernde gigantische Schneefeld hinauszublicken. Doc Holliday lehnte, seiner Gewohnheit folgend, an der Wand neben der Tür.

Da war auch noch etwas anderes, das dem Marshal größte Sorge bereitete: Kirk McLowery!

War das Auftauchen des Desperados in Shoshone schon sehr beunruhigend gewesen, so hatte sein plötzliches Erscheinen in der Schlucht unten und dann gar hier oben auf der Ranch den Marshal geradezu irritiert. Was wollte dieser Mann hier? Was suchte er hier in den Felsenbergen? Die Behauptung, daß er aus reiner Neugier und Abenteuerlust dieses Navajo Field, von dem er gehört hatte, aufgesucht haben sollte, nahm ihm der Marshal nicht ganz ab. Und wie so häufig, drängte sich Wyatt auch jetzt wieder der Gedanke auf, daß irgend etwas diesen düsteren McLowery mit den Galgenmännern verband.

»Sollte mich nicht wundern, wenn der Halunke der Boß ist«, sagte Doc Holliday plötzlich in die Stille hinein.

Verblüfft blickte sich der Missourier um.

»Ich habe gerade an ihn gedacht.«

Doc Holliday, der auf einem Zündholz herumkaute, knurrte: »Ach was, der Kerl ist ein Bluffer. Ich bin nun auch schon ein paarmal auf ihn hereingefallen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Bursche diese große Crew anführt. Nein, für den Rest der einstigen Clanton Gang reicht es vielleicht – aber nicht für einen so riesigen Verein.«

»Irgend etwas hat ihn hier herauf geführt.«

»Das ist klar, den Spaziergang nehme ich ihm auch nicht ab.«

»Ja, er spielt irgendeine graue Rolle bei der ganzen Geschichte.«

»Ob er so eine Art Boten abgibt?«

»Nein, das kann ich mir wieder nicht vorstellen, dazu ist der Halunke zu stolz und zu eingebildet. Der arbeitet auf eigene Kappe. Ein Einzelgänger ist er auf jeden Fall – selbst wenn er der Anführer dieser ganzen verfluchten Bande wäre.«

Aber der Hinweis Hollidays, daß McLowery eine Art Boten abgeben könnte, ging dem Marshal doch nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht war er gar kein bestellter Bote, vielleicht machte er es auf eigene Faust wirklich aus Lust am bösen Abenteuer. Vielleicht war das des Rätsels Lösung, daß dieser Mann dem Boß unten in Arizona mitteilte, was sich hier ereignet.

Aber diese Aufgabe hätte auch jeder andere übernehmen können, jedes unbedeutend kleine Mitglied der Bande. Weshalb sollte sich der Big Boß dazu eines so teuren Mannes bedienen? Und Kirk McLowery war ganz gewiß kein billiger Mann! Immerhin hatte er noch einen großen Namen; groß durch seine beiden Brüder, die im Tombstoner O.K. Corral im Kampf gegen die Earp-Brüder und Doc Holliday den Tod gefunden hatten.

Es war eine Weile still in dem großen, niedrigen Wohnraum der Ranch auf dem Navajo Field. Und in diese Stille hinein sagte der Marshal schließlich: »Sie sind in den Bergen. Und Lazaro Capucine ist bei ihnen. Was gibt es da noch zu überlegen.«

Lazaro Capucine, der zweite Anführer der Galgenmänner, den der Marshal unten in Tombstone gestellt hatte, war aus dem gefürchteten Straflager Sescattewa hier in Colorado geflüchtet. Es gab kaum noch einen Zweifel daran, daß er es war, der die Banditen bei dem Überfall auf die Winter Ranch angeführt hatte. Und er war auch hier auf Navajo Field gewesen und hatte den Tod Ann Brinkleys befohlen – und den Mörder mit der Hasenscharte schließlich für dessen Versagen bei dieser Tat mit dem Tod bestraft. Capucine hatte die Ranch Navajo Field verlassen und war mit seiner Crew hinauf in die Berge geritten.

Ein wahnsinnig anmutendes Unternehmen! Aber da der Missourier den Italo-Amerikaner Capucine kannte, und wußte, daß der nichts Unüberlegtes tat, stand für Wyatt fest, daß die Galgenmänner einen Scout bei sich hatten, der die Mountains genau kennen mußte. Sonst würde sich zu dieser Jahreszeit bei diesem Schnee und dazu bei diesem Sturm kein Mensch in die zerklüfteten Gipfelregionen der hohen Mountains begeben.

Es gab keine Überlegung: Der gefährliche Banditenführer Capucine mußte gestellt werden.

»Wenn er auf den Firstpaß zureitet, wäre er verloren«, sagte der Marshal wie zu sich selbst. »Aber er kann natürlich auch hinüber zum Big Stone geritten sein. Das wäre jedoch ein kaum weniger gefährlicher Weg.«

Aus dem Dunkel des Zimmers heraus kam die halblaute Stimme des Spielers: »Es fragt sich aber, was er bei dem Großen Stein da oben suchen sollte.«

»Das ist mir auch nicht klar. Jedenfalls ist er nicht talwärts geritten.«

»Wann reiten wir?« fragte Holliday nach einer Weile.

»Sobald der Sturm nachläßt.«

Die Nacht hätte die beiden Westreiter nicht gestört. Doch der Blizzard mußte erst vorüber sein.

Es war nur ein schwacher Schneesturm, der mehr und mehr verebbte. Als anderthalb Stunden nach Mitternacht der Schnee ruhiger fiel und der Sturm nachgelassen hatte, holten die beiden Männer ihre Pferde aus dem Stall und zogen sich in die Sättel.

Der Spieler lenkte auf die Öffnung zwischen Scheune und Stall zu, als der Missourier seinen Falbhengst noch einmal herumnahm und auf das Ranchtor zuritt. Holiday hatte seinen Rappen angehalten und blickte zu ihm hinüber.

Wie aus Erz gegossen saß der Marshal im Sattel und blickte gebannt in die Ebene hinunter.

Narrte ihn ein Spuk oder bewegte sich da unten tatsächlich ein dunkler Punkt bergwärts?

Der Marshal hob den Arm. Daraufhin kam der Spieler zu ihm heran und sah in die Richtung seines ausgestreckten Armes.

»He, entweder ist das ein Grisly – oder wirklich ein Reiter.«

»Das ist ein Reiter«, entgegnete der Missourier. »Und er hält genau auf die Ranch zu.«

Sie zogen sich rasch vom Tor zurück und brachten die Pferde in den Stall. Dann blieben sie, der eine rechts, der andere links, unter den Überdächern neben dem Tor stehen und warteten. Wyatt Earp konnte durch eine Ritze in der Fenz in die Ebene hinunterblicken.

»Er hält genau auf das Tor zu«, raunte er dem Georgier zu.

»Ist er denn wirklich allein?«

»Es sieht so aus. Ich halte das Gelände hinter ihm im Auge.«

Sie warteten.

Der Reiter war in der Dunkelheit überhaupt nur gegen die Helle des Schnees zu erkennen. Es dauerte lange, ehe er so nahe herankam, daß man ihn einigermaßen erkennen konnte.

Es war ein großer schwerer Mann, der weit vornübergebeugt im Sattel saß und sich mit beiden Händen an dem Knauf festzuhalten schien.

Holliday, der jetzt auch eine Lücke in der Fenz gefunden hatte, flüsterte: »He, der ist aber ziemlich am Ende.«

»Kann natürlich ein Trick sein.«

»Ja. Aber dann hätten wir die anderen von der Rückseite der Ranch zu erwarten. Und das ist so gut wie ausgeschlossen.«

Es war wirklich ausgeschlossen, denn die Rückseite der Ranch war ansteigendes Land, so steil ansteigend gegen die Berghänge, daß man einen Fuchs vom Ranchhof aus gesehen hätte. Und da sie die Rückseite der Bauten mehrmals kontrolliert hatten, wußten sie, daß ihnen von dieser Seite niemand nahe kommen konnte. Ein raffinierter Platz, den sich Capucine hier für sein Camp ausgesucht hatte! Man konnte praktisch gar nicht angegriffen werden, da man nicht überrascht werden konnte, vor allem in dieser Jahreszeit nicht, wo der Schnee so hoch lag.

Inzwischen war der Reiter bis auf vierzig Yard herangekommen. Man glaubte das Keuchen seines Pferdes und seinen eigenen pfeifenden Atem schon vernehmen zu können.

Noch wartete der Marshal.

Das Stampfen der Hufe im hohen Schnee drang nun in den Ranchhof.

Plötzlich verstummte das Geräusch.

Wyatt Earp, der den Mann durch die Luke in der Fenz scharf im Auge hatte, erkannte, wie der Reiter versuchte, sich aufrecht in den Sattel zu setzen, um die Ranch zu beobachten.

»Das fällt dir aber ziemlich spät ein, Junge«, raunte der Spieler.

Der Reiter nahm die Zügelleinen mit einem steifen Ruck auf, und das Tier setzte sich in Bewegung, wobei es den Atem prustend durch die Nüstern ausstieß. Kurz vorm Toreingang hielt das Pferd an und schnaubte heftig.

»He, verdammte Mähre, willst du wohl weitergehen?« hörten die beiden eine Stimme, die ihnen sehr bekannt vorkam.

Wyatt verließ sein Versteck und trat in die Einfahrt.

Verblüfft starrte der Reiter zu ihm hinüber. Dann versuchte er ein Gewehr, das im Lederschuh steckte, hochzunehmen und stieß einen Fluch dabei aus.

»Onkel Sam?« fragte der Marshal verblüfft.

»Master Earp!« rief der Reiter und warf beide Arme hoch. »Gott sei Dank, Sie sind hier, Mr. Earp. Wo ist der Doc?«

»Er ist auch da«, kam es von der anderen Fenzseite zurück.

Wyatt ging auf den Reiter zu und reichte ihm die Hand.

»Steigen Sie ab, Onkel Sam.«

»Ja, das ist leicht gesagt! Ich wollte, ich könnte es.«

»Sie könnten doch nicht bis zum Jüngsten Tag da oben sitzen bleiben.«

»Ja, aber ich komme nicht hinunter.«

Die beiden halfen ihm aus dem Sattel und brachten ihn ins Haus.

»Wo waren Sie denn während des Schneesturms?« fragte der Marshal.

»Ach, irgendwo da unten zwischen den Steinen.«

»Und? Wer hat Sie geschickt?«

»Niemand.« Der Neger schüttelte den Schnee von seinem breitkrempigen Quäkerhut und ließ sich auf einen Hocker nieder. »Es ist wegen Miß Brinkley.«

»Was ist mit ihr?« fragte Doc Holliday schnell.

»Es steht schlecht, Doc, sehr schlecht.«

Hollidays Gesicht wurde hart wie Felsstein.

»Ich habe es befürchtet. Es ist ein Unterschied, ob man einem Baum von einem Kerl wie Frederic Astor ein paar Bleistücke aus der Figur zieht oder einer schmächtigen jungen Frau. Die beiden Geschosse saßen aufeinander, und das letztere saß sogar ziemlich tief.« Er ging langsam zum Fenster und starrte in die Nacht hinaus. »Ich hatte trotzdem gehofft, sie durchzubringen.«

Es war eine volle Minute still in dem großen Raum.