Dirk Bernemann

Ich hab die Unschuld
kotzen sehen

Teil 3
Hoffnung ist Betrug

– Anti-Pop –

Inhalt

Vorwort

Das Gelächter der Geschlechter

Die Langsamkeit des Willens

Put your hands ab in the air

Verhandlungssache

Girls just wanna have Pfand

Das Hungerhaus

Til, schweig er

Ich habe die Frau niedergestochen, die sie Heulsuse nannten …

Sein Butterbrot hat der Mann nur halb aufgegessen

Die okayen Leute naschen vom kulturellen Kuchen

In Zerstörung lieb

Ich könnte …

Die tragische Kommode

Die Floristin im Rollstuhl

Wir Wirren

Ich möchte die Erektion von Guido Westerwelle sein

Pandasex im September

Normalisierungsprinzip

Ich bin nur schön, wenn ich glücklich bin

Der falsche Mensch und ich

Hygienna und der Happy End Boy

Klebendigkeit

Die eine Frau da

Das Wasser ist kalt und Else lächelt

Vorwort

Im Alter, so hörte ich letztens, stellt sich eine gewisse Genugtuung ein, die mein Leben auf der Deponie der gut gezielten Reizworte wohl rechtfertigen könnte. Zurückgelehnt lag ich da und schaute dem Fluss beim Fließen, den Mädchen beim Lächeln und den Hunden beim Kacken zu. Ein ruhiges Leben auf einer Veranda zu führen und anderen bei der Rotation ihrer Herzen zuzusehen, erhellte mir die Tage.

Aber so ruhig die Ruhe auch war, so unruhig war ich innerlich; das typische Gefühl, das entsteht, wenn man schreiben MUSS! Und? Also? Ja? Weitermachen, brüllte mich mein unbändiger Wille an, und ich entgrub mich aus der Verbuddelung, die ich selbst verschuldet hatte, und lief ein Stück.

Da laufe ich jetzt also wieder auf der abgeranzten Start- und Landebahn, die ich für meine Gedanken gefunden habe. Hier kommt alles, was sturzfliegerisch auf mich hereinbricht, als oberelegante Wortveranstaltung wieder heraus. Dies ist mein scheiß Theater, mein volltrunkenes Kino, meine subversive Konzertbühne, und das Licht geht immer wieder aus und später wieder an und in der Zwischenzeit passieren in irgendwelchen Leben Dinge, mit denen Umgang gepflegt werden muss.

«Komm Baby, ich mach dich zum Zeugen irgendwelcher Leben», so höre ich mich schon wieder singen und auch tanzen dazu, denn meine Poesie hielt ich ja immer auch für so musikalisch, dass sie zumindest so was wie einen Beat hat, der sich vom entspannten Walzer zum unentspannten Amokpogo weiterentwickeln kann. Alles eine Frage der Einlassungsfähigkeit.

Diese Literatur ist ein Werkzeug. Damit operiere ich mich selbst am offenen Herzen, wofür ich manchmal harte Gegenstände benutze, um Gefühle aus meinem Ich zu prügeln, die nach Öffentlichkeit schreien. Und da stehen sie dann, diese Gefühle. Sieht aus wie eine Ausflugsgruppe der örtlichen Sonderschule, aber alle haben den Bedarf, etwas zu sein und sich in ihrem Bereich Geltung zu verschaffen.

Beim Schreiben dieser Zeilen brüllte mich mein Feingefühl an. Und es ruft laut, wie das Feingefühl nun mal brüllt, und es verlautbart:

«Das Bald ist das Jetzt der Mutlosen
und das Jetzt ist in der Gewalt der Wutlosen.»

Und das trieb mich an, das Projekt zu beschleunigen, und ich wollte wieder Blutgeschmack im Mund vom Scherbenessen oder einfach nur vom Durchatmen in der Hölle. Ich bin es meiner Sensibilität einfach schuldig, an irgendeinem Punkt, an dem ich aufgehört habe irgendwas zu tun, auch einfach mal liegen zu bleiben. Aber auch der Punkt des Wiederaufstehens darf nicht verpasst werden.

Um meiner eigentlichen Existenz als verwirrte und enthronisierte Kultfigur gerecht zu werden, griff ich auf eine Taktik zurück, die schon etliche Popstars vor mir wählten. Rückzug und dann Wiederangriff. Ich zog mich also zurück, plante nicht viel, außer Toilettengänge und Widerstandskämpfe, und dadurch entstand fast wie von selbst die abartig überirdische Lust, den Leuten nochmal zu zeigen, was der Slogan «Unschuld kotzen» wirklich bedeutet. Denn ich bin im Lauf der Zeit so vielen Fehlinterpretationen begegnet, dass ich angefangen habe, es zu lieben fehlinterpretiert zu werden.

Gedacht, geschrieben, fertig. Storys aus der Mitte des äußeren Randes. Kurz und schmerzvoll. Denn das hier ist die großartige, schmerzhafte und wunderbare Sache, die sich Leben nennt! Und wir stehen an der Front und sehen dem Leben beim Passieren zu. Und ich steh so rum und spüre den Wunsch, an meinen Eingeweiden zu kleben, ein Problem darzustellen, das nicht wegzuignorieren ist.

Also, seien Sie bereit, dies ist für Sie, für mich, wieder für alle, die es wissen wollen. Und nennen Sie mich, wie es Ihnen behagt, ich bin immer noch der Elefant sensible im deutschsprachigen Literaturprollzellanladen.

Irgendjemand hat mal gesagt, meine Geschichten zu lesen sei wie mit einem geliebten Menschen im Arm und einem kuscheligen Gefühl im Herzen einer brennenden Stadt von einem Hügel herab beim Kaputtgehen zuzusehen. Ich finde das wunderschön.

In vollendeter Genugtuung,

Ihr Lieblingsautor,
Dirk Bernemann

Das Gelächter der Geschlechter

Ulf schloss seine Kneipe auf und die ersten zwei Stunden war alles leise. Er wählte die Howard Carpendale-CD aus, um dem Abend die musikalische Brisanz zu geben, nach der so ein Abend zu verlangen schien. Obwohl Brisanz, so dachte Ulf, Brisanz war doch was ganz anderes als das, wovon der Howard da sang. Brisanz müsste doch irgendwo prickeln, dachte Ulf, stellte den Howard etwas lauter und wartete auf ein Prickeln, das irgendwo in ihm stattfinden könnte. Es blieb ruhig in Ulf.

Die paar Alkoholiker, die immer schon sehr früh kommen, die musste man immer vor der Bestellung nach dem Geld fragen und es sich am besten auch zeigen lassen. Das wusste Ulf, er hatte Erfahrung in dem Job – leider sah er auch so aus. Er hatte ein Kneipenerfahrungsgesicht, sah beschädigt aus von dem, was junge Menschen «Nightlife» nannten und Ulf «Leben». Ulf sah aus wie ein Geschöpf, das sich selbst im Dunkeln verstecken mag. Bei Tageslicht funktionierte er nicht, der Ulf, nächtens hatte er die Funktion eines Schankwirts inne und das rechtfertigte seine Existenz, dachte er bei sich.

Ab 22 Uhr kamen immer mehr Leute, vielen verstreuten Einsamen bot Ulf an seinem Tresen Platz. Effiziente Trinker, verzweifelte Frauenverschnitte, selbstmitleidige Jungspunde, die typische Kneipenbesetzung. Direkt am Tresen saß ein Paar, das sich gerade erst kennengelernt hatte.

«Immer diese Enttäuschungen, die so zahlreich daher kommen.» Karins Sprache war gewählt, sie selbst gepflegt, sie tippte mit manikürten Händen am Tresen entlang und ließ es klingen als ritte dort ein Playmobilpony des Weges. «Ja ja, schlimm.» Martins Beipflichtung war eine Empathievortäuschung, die Männer seines Formates gerne kundtun, wenn sie sich auf dem direkten Weg in Vaginen befindlich glauben.

Karin, Erzieherin, chaotisch, vergesslich, tollpatschig. Mal Tier, mal Kind, und ein Leben in der kleinen Handtasche, das in Unordnung geraten schien. Unter der intimen Kneipenbeleuchtung unterhielten sie sich miteinander, die Zärtlichkeit eines Rausches beschützte sie vor der Wirklichkeit. Wohl ein Monster, diese Wirklichkeit, die nächtens anders brüllt als bei Tageslicht. Der Abend machte sie schön, die Karin, nur der Abend. Hinter dem Tresen zapfte einer Bier, der nur Ulf heißen konnte, weil er wie ein Ulf aussah. Karin sah das an, was Ulf sein Gesicht nannte, und fühlte sich gut, im nächsten Moment woanders hingucken zu dürfen.

Martin, Ingenieur, im Vollsaft stehend, suchend, blindlings stolpernd, einmal monatlich kegelnd, knapp unter 30, einiges verspielt, unter anderem das, was er für Stil und Humor hält, geschmacklich nicht fixiert, gen Mittelmaß tendierend, wo auch immer sich das versteckt hält, hier in den dunklen Katakomben der Extreme. Den Zufall herauszufordern, des-wegen ist er hier. Abschlepperkneipe. Martin kann sie ignorieren, seine Verzweiflung. Die paar Bier, die er alleine trank wollten ihm schon sein idiotisches Verhalten vor Augen führen, jetzt aber saß sie hier.

Eine Vorliebe für Gedichte, sagte sie, hätte sie, für selbst geschriebene. Martin bat sie um einen Vortrag, er wusste: Je offener die Seele, desto offener die Vagina, aber Karin verweigerte sich. Martin setzte nach, wenn schon sonst nichts funktionierte, dann vielleicht Sex mit der vom Leben gebeutelten Verbeulten. Dafür würde er auch eines ihrer Gedichte ertragen. Zugeständnisse. Er gab ihr Schnaps, sie begann schleppend, ohne ihn dabei anzublicken:

In dein Herz will ich mich trampeln,
durch deiner Venen Lauf mich strampeln,
ich will in deinem Körper hausen
und Liebe machen ohne Pausen
.

Martin lächelte sanftmütig. Nicht schlecht für ein Gedicht, das ihm eine unbekannte Frau in einer nebulös verhangenen Kneipe vortrug. Er schwieg kunstverständnislos. Er trank aus Gier nach Betäubung. Karin trank mit. Martin gab ihr Schnaps. Sie schämte sich ein wenig. Er gab ihr mehr Schnaps. «Mich interessieren zwei Dinge», sagte sie als Überleitung, «Abba und die Geschichte der DDR.» Martin begann auf Sächsisch The winner takes it all zu singen, und Karin lachte weiße Zähne in seine Gegenwart. Ihr Lachen schleuderte sie ihm hin und wäre sie Fleischwarenfachverkäuferin hätte sie wahrscheinlich gefragt, ob es auch ein bisschen mehr sein dürfe und Martin hätte vielleicht verneint und sie hätte sich gewundert, weil doch alle immer ja sagen, wenn diese Frage aufkommt.

Die Karin. In ihren Mund steckte mal ein Strohhalm, dann wieder eine Zigarette und sehr häufig fielen zwischendurch Wörter heraus. Irgendein pädagogischer Job, irgendein Fitnessstudio und weitere Wahllosigkeiten. Sie erzählte viel, ihr Mund ging auf und zu, ließ Worte wie Werbebotschaften ins Freie. Werbebotschaften für ein Produkt, dass vielleicht in den 80er-Jahren mal populär gewesen war und jetzt ein Revival erleben sollte. Als 36-jährige Singlefrau, so sagte sie zu Martin, fühle sie sich sehr oft einsam zwischen all diesen nach Glück riechenden Paaren, die wie ineinander verstrickte Fäden wirken. Sie roch frischer, als sie aussah, ihr Duft war so exotisch, wie sie deutsch war. Ihre Blondheit lächelte Martin in sein Leben. «Ich bin seit 3 Jahren geschieden», ergänzte sie noch, «die Ehe war die Hölle.» Irgendwo wischte Howard Car pendale einen romantikzersetzten Schmachtlappen durch das Etablissement.

Was Karin suchte, war durch ihre Botschaften klar zu erkennen. Ihr Herz lag offen auf dem Tresen, man konnte die Schlagfrequenz spüren. Verzweiflung – nice to meet you! Karin lachte laut, auch bei Martins schlechtesten Witzen. Sie sagte ihm noch, sie wolle einen Waschbrettbauch wie Shakira, ihr Hintern wäre schon entsprechend breit. Hahaha, sie lachte, Martin auch, Gott weiß warum. (O-Ton Gott: Ne, eigentlich hab ich keine Ahnung warum. Einst erschuf ich den Menschen, um … MAUL! … okay.)

Brüste ordnen. Über die Größe der Brust sprechen. Sie, die Brüste, argumentativ einsetzen. Was sie hier suche, wisse sie auch nicht, schließlich ginge es nicht um eine klar definierte Suche, so relativierte sie ihre unattraktive Direktheit, und Martin fragte sich kurz, was in diesen 36 Jahren passiert sein musste, um dieses Leben, das hier vor ihm faulte, so werden zu lassen. Eine Antwort ließ er aus, obwohl sie breitbeinig im Raum saß, diese Antwort. Die Antwort war Karin selbst.

Kürzlich, so sagte Karin dann noch, sei sie auf einem Schlagerkonzert gewesen, Jaques Brast, so hieß der Künstler, und Martin nickte und log: «Ja, kenn ich.» Karin summte irgendein Lied, das alles hätte sein können, von Anlassergeräusch einer Kettensäge bis zu irgendeiner abgrundtieftraurigen Beerdigungsmusik von Bach. Martin sah Karin an und wippte etwas ungeschmeidig hin und her. Da klopfte eine Ungeduld an sein Bewusstsein wie die Gier eines hungrigen Löwen, der um eine Zebraherde herumstreift.

Seit sie sich hier auf zwei sich gegenüberstehenden Barhockern zur Musik von Howard Carpendale unterhielten, seitdem fragte Martin sich, wer die Verantwortung für ein solches Leben überhaupt tragen kann. Sie bestimmt nicht. Er schon mal gar nicht, denn auch er hatte zu schleppen an seiner Existenz und bestellte Schnaps und lächelte, als sei nichts, und Karin fragte, was denn sei, und Martin lächelte und berührte kurz mit Absicht ihre Hand und stellte sich vor, die diese verzweifelten Finger in sie fuhren, geradewegs in die feuchte Hitze von Karins Schritt, und wer, so entschied Martin, bräuchte schon Antworten, wenn es derlei zu denken gab.

Karin sagte, dass da ein Tier in ihr zugegen wäre, ein wildes, ganz arg urwäldlerisches wäre das, aber ein zähmbares. Ob Martin sich derlei zutraue, wollte sie wissen, und er trank und sie trank und er trank nochmal und sagte: «Klar!» Sie beschrieb ihm dann dieses Tier, und da er diesem Tier schon häufiger in diesen blöden Nächten begegnet war, langweilte er sich ein wenig, tat aber so, als sei er maximal erstaunt über ihr inneres Tier, dass Karin so offenherzig in die Welt gebar. Da lag es dann, ihr hilfloses Tier, der Verzweiflung näher als irgendeiner Art von Leben, und Howard sang: «Hello again – dort am Fluss, wo die Bäume stehn …» Karin wog ihren Kopf im Takt der Bäume, die am Fluss standen. Hin und her. Martin trank und bewegte sich ansonsten sehr wenig und wenn, dann auf keinen Fall zur Musik von Howard Carpendale. «Uhhuhuhuhuhu, ich sag nur hello again …» Irgendwo zerbrach ein Glas, was Martin positiv auffiel.

Die Nächte so einsam und ihre Hand auf seiner, ihre Stimme wie ein bekanntes Lied, die zufällige Berührung ihres Handrückens zwischen seinen Beinen, weitere Biere, ein paar Zigaretten, austauschbare Lieblichkeiten, die einigermaßen lieblos vorgetragen wurden, und Gespräche über Musik und Literatur, die die Spannung erhöhten und der Begegnung gleichzeitig einen langweiligen Anstrich gaben. Martin dachte: Ficken! Karin dachte: Wo bleibt das Glück? Martin sagte: «Meine Liebesfantasien sind irgendwie durch Rosamunde Pilcher-Schnulzen geprägt, die ich mir ständig reinziehe.» Karin sagte: «Hello again.» Ulf zapfte Biere und summte mit Carpendale im Duett.

Warum nicht über Sex reden? Martin und Karin redeten über Sex, und der Werbespot ging weiter. Auf jeden Fall: die Nächte so einsam, der Winter so beschissen lang, die Kälte geht an die Knochen, die Einsamkeit ein hungriger Esser, das Essen ungenießbar. Es folgten kleine Küsse, darin Forderungen, Botschaften, Kurztexte, Lebensbeichten. Nichts erzählen müssen, dachte sich Martin. Billig, willig, chillig. Karins Zunge war ein hemmungsloses und gefräßiges Tier, einem kleinen verrückten Hamster gleich, der im Zimmer ihres gemeinsamen Gesichtes Nahrung vermutete und nun von Ecke zu Ecke mümmelte. Martin wusste sofort: Der Hamster würde verhungern. An sich, an ihnen und überhaupt.

Ein deformierter Wille wie aus heißem Wachs ließ Martin in ein Taxi und später in eine anonyme Frau gleiten. So fremd die Frau, so exzessiv ihr Geschrei, so willkürlich die Verteilung der Lust, so nüchtern er selbst.

Karin hingegen stand noch in der Kneipe, um Längen besoffener als zum Zeitpunkt seines heimlichen Verschwindens. Zeit zu weinen, dachte sie sich, Zeit einfach loszuheulen. Ihre Fassade blieb aber trocken.

Howard Carpendale war nur noch ein verschwommenes Geräusch. Es hatte sich in Martin ein Wille verfestigt, nach dieser Urinausschüttung das Lokal zu verlassen, in die Ungewissheit fremder Arme zu gleiten, und sei es auch nur kurz. Immer mit einem Bein auf der Straße. Als er von der Toilette kam, stand da eine, die sich Sabine nannte, und rauchte. Sie hielt ihm ihre kleine Hand hin und argumentierte ebenfalls mit Körperlichkeiten. Allerdings noch zielloser und unverbrauchter als zuvor die Karin. Innerhalb einer Minute zuckten da Blitze. Fünf Sätze reichten aus.

«Hey, ich bin Sabine, wer bist du denn?»

«Egal, das Schicksal meint es gut mit uns.»

«Wir sollten uns mal eindringlich unterhalten.»

«So richtig auf Teufel komm rein?»

«Taxi!»

Sie fuhren los, hatten Sex, schliefen ein, wachten auf, hatten nochmal Sex, tranken Kaffee, und Martin fühlte etwas in sich aufsteigen, was er unbedingt bewahren wollte. Sabine und Martin waren für einen Moment Körperfreunde geworden. Sex mit ihr hatte eine therapeutische Eigenschaft, er war kopflos, maßlos und haltlos. Sabine winselte wie ein Hündchen, auf das man versehentlich getreten war, und Martin hielt sich daraufhin für einen wahrlich fabulösen Geschlechtsverkehranbieter. So gern er geblieben wäre, so entschieden setzte Sabine ihn am frühen Nachmittag vor die Tür. Vor dieser Tür fühlte er eine Mischung aus Männlichkeit und Panik, die er irgendwann, unter schierer Ignoranz der Realität, Lebenserfahrung nennen würde.

In einer kleinen Mietwohnung wachte Karin neben dem schnarchenden Körper eines currywurstgestählten Kneipiers auf, der sich letzte Nacht aus seinem schuppigen Genital in sie ergossen hatte. Karin wusste, wie man Verzweiflung buchstabierte. Ulf auch. Karins Kopf fühlte sich arg explosionsgefährdet an, und sie dachte an Martin und berührte unabsichtlich Ulf, der irgendwie im Weg lag, und es fuhr ein Ekel in sie und Karin fühlte das Tier in sich, und es war ein müdes, altes, von der großen Herde abgekommenes Tier, das sicherlich in Bälde verstürbe.

Währenddessen saß Martin zuhause und weinte, denn Sabine hatte sich so entschieden gegen ihn entschieden, und jetzt war er so müde, aber er fand keinen Schlaf, denn vielleicht würde Sabine ja nochmal anrufen. Aber sie hatte nicht mal seine Nummer haben wollen, und Martin weinte. Seine Männlichkeit war ganz aus ihm gewichen, die Panik aber war geblieben. So was hatte er ja noch nie erlebt, also so ein Mädchen, das sich so spontanen Fügungen fügte, einfach so ihre Wohnungstür und Vagina öffnete, um es mit ihm im spontanen Rausch der Willkürlichkeit zu treiben. Am Abend weinte Martin dann nicht mehr, hatte sich seinen Anschein von Männlichkeit zurückerobert und nannte Sabine «Schlampe» oder «Idiotin, die es wohl mit jedem Trottel trieb». Wahrscheinlich hatte er sogar recht damit, vor allem mit der Trotteltheorie.

Als Ulf erwachte, war Karin schon fast zwei Stunden weg. Kein Zettel. Keine Botschaft. Nichts. Nur einen Kopfabdruck im Kissen und ein blondes Haar fand der Ulf, und er hob das Haar vom Bettlaken ab, aß es auf und schlief wieder ein, auf seinem Gesicht ein Lächeln.