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Aus dem Englischen von Manfred Sanders

Festa-epub.tif

Kapitel 7: Der Höllenfeuerclub

1

Deutschland war das Land des Teufels – daran hegte Michael Gallatin keinen Zweifel.

Von dem Heuwagen aus, auf dem er und Maus mitfuhren – mit ungewaschener Kleidung und ebensolcher Haut, die Gesichter hinter zweiwöchigem Bartwuchs verborgen –, beobachtete Michael Kriegsgefangene beim Bäumefällen am Straßenrand. Die meisten der Zwangsarbeiter waren abgemagert und sahen wie alte Männer aus, aber der Krieg besaß die Fähigkeit, selbst Jugendliche alt aussehen zu lassen. Sie trugen sackartige graue Arbeitsuniformen und schwangen ihre Äxte wie müde Maschinen. Bewacht wurden sie von einer Lkw-Ladung Nazisoldaten, bis an die Zähne mit Maschinenpistolen und Gewehren bewaffnet. Die Soldaten rauchten und unterhielten sich, während die Gefangenen schufteten, und irgendwo in der Ferne brannte etwas – eine dichte schwarze Rauchwolke hing vor dem grauen östlichen Horizont. Ein Bombentreffer, vermutete Michael; die Alliierten verstärkten ihre Bombenangriffe im Vorfeld der Invasion.

»Halt!« Ein Soldat trat vor ihnen auf die Straße, und der Wagenlenker – ein drahtiger deutscher Angehöriger der Résistance, der Günther hieß – zügelte die Pferde. »Raus mit diesen Faulenzern!«, rief der Soldat, ein übereifriger junger Leutnant mit roten Wangen, die so dick wie Knödel waren. »Wir haben Arbeit für sie!«

»Es sind Freiwillige«, erklärte Günther mit würdevoller Miene, obwohl er nur die abgetragene Kleidung eines Bauern trug. »Ich bringe sie nach Berlin zur Arbeitseinteilung.«

»Ich teile sie zur Straßenarbeit ein«, blaffte der Leutnant. »Los, raus mit ihnen. Sofort!«

»Oh Scheiße«, flüsterte Maus in seinen zotteligen braunen Bart. Michael hatte es sich neben ihm im Heu gemütlich gemacht, und neben Michael saßen Dietz und Friedrich, zwei weitere deutsche Widerstandskämpfer, die sie begleiteten, seit sie vor vier Tagen das Dorf Sulingen erreicht hatten. Im Heu versteckt lagen drei Maschinenpistolen, zwei Luger, ein halbes Dutzend »Kartoffelstampfer«-Handgranaten und eine Panzerfaust mit einer Sprenggranate.

Günther wollte protestieren, aber der Leutnant stapfte bereits zur Rückseite des Wagens und rief: »Raus! Alle raus aus dem Wagen! Kommt schon, bewegt eure faulen Ärsche!« Friedrich und Dietz, die einsahen, dass es besser war, zu gehorchen, als mit einem kleinen Hitler zu diskutieren, stiegen aus dem Wagen. Michael folgte ihnen, Maus kam als Letzter. Der Leutnant wandte sich wieder an Günther. »Los, du auch. Fahr den Scheißwagen von der Straße und komm mit!« Günther ließ die Zügel schnalzen und lenkte den Wagen unter eine Gruppe Kiefern.

Der Leutnant scheuchte Michael, Maus, Günther und die anderen beiden Männer zum Lastwagen, wo man ihnen Äxte aushändigte. Michael sah sich um und zählte neben dem Leutnant noch 13 weitere deutsche Soldaten. Mehr als 30 Kriegsgefangene waren damit beschäftigt, die Kiefern zu fällen. »Also gut!«, bellte der Leutnant, der bis auf einen Schnäuzer glatt rasiert war. »Ihr zwei nach da drüben!« Er schickte Michael und Maus mit einer Handbewegung nach rechts. »Die anderen dahin!« Günther, Dietz und Friedrich wurden nach links geschickt.

»Äh … Entschuldigung, Herr Leutnant«, meldete Maus sich ängstlich. »Äh … was sollen wir denn eigentlich tun?«

»Bäume fällen natürlich!« Der Leutnant verengte die Augen und musterte den kaum 1,60 Meter großen, braunbärtigen und schmutzigen Maus. »Bist du genauso blind, wie du dumm bist?«

»Nein, Herr Leutnant. Ich habe mich nur gefragt …«

»Befolge einfach die Befehle! Und jetzt mach dich an die Arbeit!«

»Ja, Herr Leutnant.« Maus nahm seine Axt und trottete an dem Leutnant vorbei. Michael folgte ihm. Die anderen gingen zur gegenüberliegenden Straßenseite. »He!«, rief der Leutnant. »Zwerg!« Maus blieb stehen, innerlich vor Angst zitternd. »Das Einzige, was die Wehrmacht mit dir anfangen könnte, wäre, dich in eine Kanone zu stopfen und auf die verdammten Engländer zu schießen!« Ein paar der anderen Soldaten lachten, als hielten sie es für einen großartigen Witz. »Ja, Herr Leutnant«, antwortete Maus und stapfte zum Waldrand.

Michael suchte sich einen Platz zwischen zwei Kriegsgefangenen und begann, die Axt zu schwingen. Die anderen Zwangsarbeiter hielten weder in ihrer Arbeit inne, noch nahmen sie anderweitig von ihm Notiz. Holzspäne flogen durch die kühle Morgenluft, und der Duft von Kiefernharz vermischte sich mit dem Geruch nach Schweiß und Anstrengung. Michael fiel auf, dass viele der Zwangsarbeiter gelbe Davidsterne auf ihren Arbeitsuniformen trugen. Alle waren männlich, alle schmutzig, und alle hatten die gleichen ausgemergelten Gesichter und glasigen Augen. Sie waren, zumindest für den Augenblick, in ihren Erinnerungen abgetaucht, und die Äxte wurden in einem monotonen, mechanischen Rhythmus geschwungen. Michael fällte einen dünnen Baum und trat einen Schritt zurück, um sich mit dem Unterarm das Gesicht abzuwischen. »He, nicht aufhören!«, schnauzte ihn ein Soldat an, der hinter ihm stand.

»Ich bin kein Häftling«, stellte Michael klar. »Ich bin Bürger des Deutschen Reiches. Ich erwarte, mit Respekt behandelt zu werden … Junge«, fügte er noch hinzu, denn der Soldat war höchstens 19 Jahre alt.

Der Deutsche funkelte ihn an. Es gab einen Moment der Stille, unterbrochen nur von den dumpfen Schlägen der Äxte, und dann brummte der Soldat etwas und ging weiter die Reihe der Zwangsarbeiter entlang, seine MP 40 an die Brust gedrückt.

Michael machte sich wieder an die Arbeit und schwang die Axt in hohem Bogen. Unter seinem Bart knirschte er mit den Zähnen. Es war der 22. April, 18 Tage nachdem er und Maus Paris verlassen und sich auf die Route begeben hatten, die Camille und die französische Résistance für sie arrangiert hatten. In diesen 18 Tagen waren sie in Fuhrwerken, Ochsenkarren, Güterzügen, zu Fuß und per Ruderboot durch Hitlers Reich gereist. Sie hatten in Kellern geschlafen, auf Dachböden, in Höhlen, im Wald und in Wandverstecken, und sie hatten sich von dem ernährt, was ihre Helfer für sie entbehren konnten. Ein paarmal hätten sie hungern müssen, hätte Michael nicht eine Gelegenheit gefunden, sich unbemerkt seiner Kleidung zu entledigen und nach kleinen Beutetieren zu jagen. Trotzdem hatten Michael und Maus fast fünf Kilo verloren und sahen hohläugig und hungrig aus. Aber so sahen auch die meisten Zivilisten aus, die Michael unterwegs gesehen hatte; die Rationen gingen an die Soldaten, die in Norwegen, Holland, Frankreich, Polen, Griechenland und Italien stationiert waren, und natürlich an die, die in Russland um ihr Leben kämpften, und die Bewohner des Deutschen Reiches starben jeden Tag ein kleines bisschen mehr. Hitler mochte stolz auf seinen eisernen Willen sein, aber es war sein eisernes Herz, das langsam, aber sicher sein Land zerstörte.

Und was hat es mit der Eisernen Faust auf sich?, fragte Michael sich, während seine Axt Holzspäne durch die Luft schleuderte. Er hatte viele der Widerstandskämpfer und Agenten zwischen Paris und Sulingen nach diesem Begriff befragt, aber niemand kannte seine Bedeutung. Man war sich jedoch einig, dass diese Codebezeichnung ganz Hitlers Stil entsprach; außer in seinem Willen und seinem Herzen musste es auch einiges an Eisen in seinem Gehirn geben.

Was auch immer diese Eiserne Faust war, Michael musste es herausfinden. Der Juni rückte näher, die Invasion stand bevor, und es wäre Selbstmord, wenn die Alliierten die Strände stürmten, ohne genau zu wissen, was sie dort erwartete.

Ein weiterer Baum fiel unter Michaels Axthieben. Berlin lag knapp 50 Kilometer östlich von hier. So weit waren sie gekommen, durch ein Land, zernarbt von nächtlichen Bombenangriffen. Sie waren SS-Trupps, Panzerwagen und misstrauischen Dorfbewohnern aus dem Weg gegangen, nur um jetzt von einem unreifen Leutnant aufgehalten zu werden, der nichts Besseres im Sinn hatte, als Bäume zu fällen. Agentin Echo sollte in Berlin Kontakt zu Michael aufnehmen – auch das hatte Camille arrangiert –, und zu diesem Zeitpunkt konnte jede Verzögerung fatal sein. Keine 50 Kilometer mehr, und die Äxte gruben sich weiter in das Holz.

Maus fällte seinen ersten Baum und sah zu, wie er langsam umkippte. Links und rechts von ihm arbeiteten die Häftlinge stumpf weiter. Die Luft war voller stechender Holzsplitter. Maus stützte sich auf die Axt, seine Schultern schon jetzt völlig verkrampft. Tief im Wald ahmte ein Specht klopfend die Äxte nach. »Na los, an die Arbeit!« Ein Soldat mit einem Gewehr trat neben Maus.

»Ich ruhe mich nur für eine Minute aus. Ich …«

Der Soldat trat ihm gegen die rechte Wade – nicht fest genug, um ihn zu Fall zu bringen, aber mit genug Wucht, dass er einen blauen Fleck davontragen würde. Maus schreckte zusammen und sah, wie sein Freund – der Mann, den er nur als Grünauge kannte – seine Arbeit einstellte und sie beobachtete.

»Ich sagte: an die Arbeit!«, befahl der Soldat, den es nicht zu kümmern schien, ob Maus Deutscher war oder nicht.

»Schon gut, schon gut.« Maus nahm seine Axt wieder in die Hand und humpelte etwas tiefer in den Wald. Der Soldat war direkt hinter ihm, offenbar wartete er nur auf einen weiteren Vorwand, den kleinen Mann treten zu können. Kiefernnadeln kratzten über Maus’ Gesicht, als er die Zweige beiseiteschob, um an den Stamm zu gelangen.

Und da sah er zwei dunkelgraue, mumifizierte Füße vor seinem Gesicht hängen.

Verblüfft blickte er nach oben. Sein Herz machte einen Satz.

An einem Ast hing ein Toter, grau wie Jonas’ Bart, eine Schlinge um das gebrochene Genick und mit offenem Mund. Seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt, und er trug Kleidung, die die Farbe von Aprilschlamm angenommen hatte. Wie alt der Mann gewesen war, als er starb, war schwer zu sagen, allerdings hatte er lockiges rötliches Haar – das Haar eines jungen Mannes. Seine Augenhöhlen waren leer, ausgeräumt von den Krähen, und auch Stücke seiner Wangen waren herausgehackt worden. Er war nur noch eine dürre, ausgetrocknete Hülse, und an einem Draht um seinen Hals hing ein Pappschild mit den verblassten Worten: ICH BIN EIN DESERTEUR. Darunter hatte jemand mit einem schwarzen Stift gekritzelt: Und bin nach Hause zum Teufel gegangen.

Maus hörte, wie jemand ein ersticktes Geräusch ausstieß. Es kam aus seiner eigenen Kehle, begriff er dann. Er spürte die Schlinge um seinen Hals.

»Was ist? Steh nicht rum und glotze. Hol ihn runter!«

Maus blickte nach hinten zu dem Soldaten. »Ich? Nein … bitte … ich kann nicht …«

»Na los, Zwerg. Mach dich ein bisschen nützlich.«

»Bitte … mir wird schlecht …«

Der Soldat holte zu einem weiteren Tritt aus. »Ich sagte: Hol ihn runter! Und ich werde es dir nicht noch einmal sagen, du kleines …«

Er wurde zur Seite gestoßen, stolperte über einen Baumstumpf und fiel auf den Hintern. Michael packte die Knöchel des Toten und zog mit einem festen Ruck daran. Das verrottete Seil gab nach, glücklicherweise bevor der Kopf der Leiche abging. Michael zog noch einmal, und das Seil zerriss. Der Leichnam fiel zu Boden und lag wie ein Stück glänzendes Leder vor Maus’ Füßen.

»Du Hund!« Der Soldat sprang auf, knallrot im Gesicht, entsicherte seinen Karabiner und drückte den Lauf auf Michaels Brust. Sein Finger lag auf dem Abzug.

Michael bewegte sich nicht. Er schaute in die Augen des anderen, sah dort das empörte Kind und sagte »Spar deine Kugeln für die Russen« in seinem besten bayrischen Akzent, da seine neuen Papiere ihn als bayrischen Schweinebauern identifizierten.

Der Soldat blinzelte, aber sein Finger blieb auf dem Abzug.

»Mannerheim!«, blaffte der Leutnant, der mit schnellen Schritten näher kam. »Nehmen Sie das Gewehr runter, Sie verdammter Idiot! Das sind Deutsche, keine Slawen!«

Der Soldat gehorchte sofort. Er schob den Sicherungshebel wieder zurück, starrte Michael aber weiter mürrisch an. Der Leutnant trat zwischen die beiden. »Los, bewachen Sie die da drüben«, befahl er Mannerheim und zeigte auf eine andere Gruppe Häftlinge. Der junge Soldat stapfte davon, und der rotwangige Leutnant wandte sich Michael zu. »Und du fasst meine Männer nicht an, verstanden? Ich hätte dich erschießen lassen können und wäre damit im Recht gewesen.«

»Wir stehen beide auf derselben Seite«, erinnerte Michael ihn mit festem Blick. »Nicht wahr?«

Der Leutnant zögerte. Etwas zu lange. Hatte er etwas Falsches in Michaels Akzent gehört? Michaels Blut fühlte sich eiskalt an. »Zeig mir deine Reisegenehmigung«, sagte der Leutnant.

Michael griff in seinen schlammbespritzten braunen Mantel und gab dem Mann die Papiere. Der Leutnant faltete sie auseinander und überflog die getippten Worte. In der unteren rechten Ecke befand sich ein offizieller Stempel, gleich unter der Unterschrift des zuständigen Verwaltungsbeamten. »Ein Schweinebauer«, murmelte der Deutsche leise und schüttelte den Kopf. »Mein Gott, ist es schon so weit gekommen?«

»Ich kann kämpfen«, sagte Michael.

»Bestimmt. Und du wirst es vielleicht auch müssen, wenn die russische Front zusammenbricht. Die dreckigen Hunde werden nicht stehen bleiben, bis sie Berlin erreichen. Wofür hast du dich freiwillig gemeldet?«

»Schlachten«, antwortete Michael.

»Na, damit wirst du wohl einige Erfahrung haben, was?« Der Leutnant betrachtete verächtlich Michaels schmutzige Kleidung. »Schon mal mit einem Gewehr geschossen?«

»Nein, Herr Leutnant.«

»Und warum hast du dich erst jetzt freiwillig gemeldet?«

»Ich habe meine Schweine großgezogen.« Eine Bewegung erregte Michaels Aufmerksamkeit; über die Schulter des Leutnants sah er, wie ein Soldat zu Günthers Heuwagen schlenderte, in dem die Waffen versteckt lagen. Er hörte Maus husten und wusste, dass der kleine Mann es ebenfalls gesehen hatte.

»Teufel«, sagte der Leutnant, »du bist fast so alt wie mein Vater.«

Der Soldat näherte sich der Rückseite des Heuwagens. Michaels Nackenhaare richteten sich auf. Und dann kletterte der Soldat auf den Wagen und legte sich ins Heu. Einige andere Soldaten buhten und johlten, aber der Mann lachte nur, nahm seinen Helm ab und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Michael sah drei Soldaten auf der Ladefläche des Lastwagens sitzen, die anderen hatten sich zwischen den Zwangsarbeitern verteilt. Er warf einen Blick auf die andere Straßenseite zu Günther; der Widerstandskämpfer hatte mit dem Fällen innegehalten und starrte den Soldaten an, der ahnungslos auf ihrem Arsenal lag.

»Du siehst einigermaßen kräftig aus. Ich glaube nicht, dass die Schlachtbrigade was dagegen hat, wenn du mir ein paar Tage beim Bäumefällen hilfst.« Der Leutnant faltete Michaels Papiere zusammen und gab sie ihm zurück. »Wir verbreitern die Straße für die Panzer. Siehst du? So erweist du dem Reich einen Dienst und musst dir nicht mal die Hände blutig machen.«

Ein paar Tage, dachte Michael grimmig. Eine solche Verzögerung konnte er sich auf gar keinen Fall leisten.

»Ihr beide macht euch wieder an die Arbeit«, befahl der Leutnant. »Wenn wir hier fertig sind, könnt ihr weiterfahren.«

Michael sah, wie der Soldat auf dem Heuwagen herumrutschte und eine bequemere Position zu finden versuchte. Der Mann drückte das Heu platt, und wenn er die Waffen ertastete, die darunter versteckt lagen …

Sie konnten nicht einfach abwarten, ob der Soldat die Waffen entdeckte oder nicht. Der Leutnant stapfte zurück zum Lastwagen, zufrieden mit seinen Überzeugungskünsten. Michael packte Maus am Ellbogen und zog ihn mit sich, auf die Straße zu. »Mund halten«, warnte er ihn leise.

»He, ihr!«, rief einer der anderen Soldaten. »Wer hat euch erlaubt aufzuhören?«

»Wir haben Durst«, sagte Michael laut genug, dass der Leutnant es hören konnte. »Wir haben eine Feldflasche in unserem Wagen. Wir dürfen doch bestimmt einen Schluck Wasser trinken, bevor wir weitermachen, oder?«

Der Leutnant winkte ihnen weiterzugehen und schwang sich auf die Ladefläche des Lkws, um seine Beine auszuruhen. Michael und Maus gingen über die Straße, während die anderen Häftlinge weiter hackten und Kiefern knirschend umstürzten. Günthers Blick war auf Michael gerichtet, seine Augen glasig und voller Angst, und Michael sah, wie der Soldat im Heu nach irgendetwas tastete, das ihn beim Liegen störte.

Hektisch flüsterte Maus: »Er hat sie gefunden …«

»A-ha!«, rief der Soldat, als seine Finger den Gegenstand herauszogen. »Sehen Sie mal, was diese Saukerle vor uns versteckt haben, Leutnant Zeller!« Er hielt die halb volle Flasche Schnaps hoch, die er entdeckt hatte.

»Bauern und ihre Geheimnisse«, sagte Zeller. Er stand auf. Die anderen Soldaten sahen gespannt zu. »Sind da noch mehr Flaschen?«

»Moment, ich seh mal nach.« Der Soldat wühlte im Heu.

Michael hatte den Wagen erreicht, Maus war etwa sechs Schritte hinter ihm. Er ließ die Axt fallen, griff tief in das Heu und schloss die Finger um einen Gegenstand, von dem er wusste, dass er dort lag. »Hier ist etwas für euren Durst«, sagte er, als er die Maschinenpistole herauszog und entsicherte.

Der Soldat glotzte ihn an. Die Augen des jungen Mannes waren so blau wie ein nordischer Fjord.

Michael erschoss ihn, ohne zu zögern. Die Kugeln wanderten über die Brust des Soldaten und ließen ihn tanzen wie eine Marionette. Nachdem er die erste Salve abgefeuert hatte, wirbelte Michael herum, zielte auf die Soldaten auf der Ladefläche des Lkws und eröffnete das Feuer. Die Äxte hörten auf zu hacken; für einen Augenblick standen Häftlinge und deutsche Soldaten reglos da wie bemalte Statuen.

Und dann brach die Hölle los.

Die drei Soldaten auf dem Lkw gingen zu Boden, durchsiebt von MP-Kugeln. Leutnant Zeller warf sich unter dem Kugelhagel auf die Ladefläche und griff nach seiner Pistolentasche. Ein Soldat, der neben Günther stand, hob sein Gewehr, um auf Michael zu feuern, aber Günther grub seine Axt zwischen die Schulterblätter des Mannes. Auch die beiden anderen Widerstandskämpfer hoben ihre Äxte, um sie gegen zwei weitere Soldaten zu richten; Dietz’ Axt trennte einem halb den Kopf ab, aber Friedrich bekam einen Schuss mitten durchs Herz, bevor er den Schlag ausführen konnte.

»Runter!«, schrie Michael Maus an, der wie betäubt in der Schusslinie stand und mit weit aufgerissenen Augen den toten Deutschen im Heu anstarrte. Maus rührte sich nicht. Michael trat einen Schritt vor und stieß ihm den Kolben der Maschinenpistole in den Bauch – das Einzige, was ihm auf die Schnelle einfiel –, und Maus klappte zusammen und fiel auf die Knie. Eine Pistolenkugel schlug direkt neben Michael Holzsplitter aus dem Heuwagen; ihre Flugbahn hatte die Flanke des Pferdes gestreift, das sich laut wiehernd aufbäumte. Michael kniete sich hin und feuerte eine lange Salve auf den Lkw ab. Die Kugeln durchlöcherten die Reifen und zerschmetterten die Front- und Heckscheibe, aber Zeller presste sich dicht auf die Bretter der Ladefläche.

Günther schlug noch einmal mit seiner Axt zu und zertrümmerte den Arm eines Soldaten, der gerade mit seiner MP 40 auf ihn schießen wollte. Als der Soldat schreiend zu Boden fiel, schnappte Günther sich die Waffe und beharkte zwei weitere Soldaten, die zwischen den Bäumen in Deckung gehen wollten. Beide taumelten und stürzten. Eine Pistolenkugel pfiff an Michaels Kopf vorbei, aber Zeller feuerte, ohne zu zielen. Michael schob den Arm über die Kante des Wagens und tastete im Heu umher. Eine weitere Kugel spritzte einen Hagel von Holzsplittern in sein Gesicht, einer bohrte sich nur einen Zentimeter neben seinem linken Auge in die Haut. Aber Michael hatte gefunden, was er suchte; er holte die Handgranate heraus, duckte sich und zog den Zündstift. Zeller brüllte seinen verbliebenen Männern zu: »Tötet den Mann im Heuwagen! Tötet das Schw…«

Michael warf die Handgranate. Sie landete kurz vor dem Lkw auf dem Boden, hüpfte einmal und rollte unter das Fahrzeug. Und dann warf Michael sich über Maus und schützte seinen eigenen Kopf mit den Armen.

Mit einem dumpfen Knall explodierte die Granate. Der Lkw wurde von seinen durchschossenen Reifen gehoben. Orangefarbene und purpurne Flammen schossen in die Höhe und warfen den Lkw in einer Feuersäule auf die Seite. Er krachte auf den Boden, und auf das Knirschen des Metalls folgte sofort eine zweite Explosion, als der Benzintank in die Luft ging. Eine Säule aus schwarzem Rauch mit einem roten Kern stieg in den Himmel. Zeller feuerte nicht mehr. Ein Regen aus brennendem Stoff und glühendem Metall ging herunter, und das Pferd riss seine Zügel von dem Ast los, an den Günther es gebunden hatte, und floh panisch die Straße entlang.

Günther und Dietz, der das Gewehr eines Toten genommen hatte, knieten zwischen den Baumstümpfen und schossen auf die vier Soldaten, die dem ersten Kugelhagel entkommen waren. Einer der Männer geriet in Panik, sprang auf und rannte los, und Dietz schoss ihm in den Kopf, bevor er drei Schritte weit gekommen war. Und dann stürmten zwei Häftlinge vor, mitten zwischen die verbliebenen Soldaten, und machten sich mit ihren Äxten an die Arbeit. Beide wurden erschossen, bevor sie ihr Werk vollenden konnten, aber drei weitere Zwangsarbeiter übernahmen ihren Platz. Die Äxte hoben und senkten sich, die Klingen blutverschmiert. Ein letzter Schuss erklang, in die Luft gefeuert von einer fallenden Hand. Es gab einen letzten Schrei, dann hielten die Äxte inne.

Michael stand auf und nahm die Maschinenpistole wieder an sich, die er zur Seite geworfen hatte; sie war noch warm, wie ein behaglicher Ofen. Günther und Dietz erhoben sich aus ihrer Deckung und untersuchten schnell die Gefallenen. Ein paar Schüsse erlösten die Verwundeten. Michael bückte sich und berührte Maus an der Schulter. »Alles in Ordnung?«

Maus richtete sich auf. Seine Augen waren feucht und immer noch geschockt. »Du hast mich geschlagen«, keuchte er. »Warum hast du mich geschlagen?«

»Besser ein kleiner Klaps als eine Kugel. Kannst du aufstehen?«

»Ich weiß nicht.«

»Du kannst«, sagte Michael und zog ihn auf die Beine. Maus hielt noch immer die Axt umklammert, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. »Wir sollten besser verschwinden, bevor hier noch mehr Deutsche auftauchen.« Michael schaute sich um, in der Erwartung, die Häftlinge im Wald verschwinden zu sehen, aber die meisten hatten sich nur auf den Boden gesetzt, als warteten sie auf die nächste Wagenladung Nazis. Michael überquerte die Straße, gefolgt von Maus, und ging zu einem mageren Mann mit dunklem Bart, der sich am Kampf gegen die Soldaten beteiligt hatte. »Was ist los?«, fragte Michael. »Sie sind jetzt frei. Sie können gehen, wenn Sie wollen.«

Der Mann, dessen Gesichtshaut sich wie braunes Leder über die vorspringenden Knochen spannte, lächelte schwach. »Frei«, flüsterte er mit schwerem ukrainischem Akzent. »Frei. Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht.«

»Da ist der Wald. Warum gehen Sie nicht?«

»Gehen?« Ein anderer Mann, noch magerer als der erste, stand auf. Er hatte ein schmales Gesicht und war fast kahl geschoren. Sein Akzent stammte aus Nordrussland. »Gehen wohin?«

»Ich weiß nicht. Einfach … weg von hier.«

»Wozu?«, fragte der Mann mit dem dunklen Bart. Er zog seine dichten Augenbrauen hoch. »Nazis sind überall. Ist ihr Land. Wohin sollen wir gehen, wo Nazis uns nicht wieder fangen?«

Michael konnte es nicht begreifen; es widersprach vollkommen seiner Natur, dass jemand, dessen Ketten gerade gesprengt worden waren, nicht alles daransetzen sollte, um zu verhindern, dass sie neu geschmiedet wurden. Aber diese Männer waren schon lange Kriegsgefangene, wurde ihm klar. Sie hatten vergessen, was Freiheit bedeutete. »Glauben Sie nicht, dass Sie zumindest eine Chance hätten …«

»Nein«, unterbrach der Kahle ihn. Seine Augen waren schwarz und in die Ferne gerichtet. »Keine Chance.«

Während Michael mit den Männern sprach, lehnte Maus sich benommen an einen Baumstamm. Ihm war schlecht und er hatte das Gefühl, von dem Blutgeruch gleich ohnmächtig zu werden. Er war kein Kämpfer. Gott, hilf mir, nach Hause zu kommen, dachte er. Bring mich einfach nur nach …

Nur zwei Meter vor Maus setzte sich einer der toten Deutschen plötzlich auf. Der Mann hatte einen Schuss in die Seite bekommen, sein Gesicht war aschfahl. Maus erkannte ihn: Mannerheim. Und er sah auch, dass Mannerheim nach einer Pistole griff, die neben ihm lag, und damit auf Grünauges Rücken zielte.

Maus öffnete den Mund, um zu schreien, aber zu mehr als einem leisen Krächzen fehlte ihm die Kraft. Mannerheims Finger lag auf dem Abzug. Seine Hand zitterte; er stützte sie mit der anderen Hand, die voller Blut war.

Mannerheim war Deutscher. Grünauge war … was auch immer. Deutschland war Maus’ Heimatland. ICH BIN EIN DESERTEUR. Zwerg. Und bin nach Hause zum Teufel gegangen.

Das alles wirbelte in einem Sekundenbruchteil durch Maus’ Kopf. Mannerheims Finger krümmte sich um den Abzug. Grünauge unterhielt sich noch. Warum drehte er sich denn nicht um? Warum drehte er …

Die Zeit lief ab.

Maus hörte sich selbst einen animalischen Schrei ausstoßen – und er sprang vor und ließ die Axtklinge auf Mannerheims braunhaarigen Schädel herabsausen.

Die Schusshand zuckte und die Pistole feuerte.

Michael hörte eine Wespe an seinem Kopf vorbeizischen. Oben in den Bäumen brach ein Zweig und fiel zu Boden. Er fuhr herum und sah Maus mit dem Axtstiel in der Hand, die Klinge tief in Mannerheims Schädel vergraben. Der Körper des Soldaten sackte nach vorne, und Maus ließ den Stiel los, als hätte er sich daran verbrannt. Und dann fiel Maus auf die Knie. So blieb er – den Mund halb geöffnet, ein kleiner Speichelfaden tropfte ihm vom Kinn –, bis Michael ihm auf die Beine half.

»Mein Gott«, flüsterte Maus. Er blinzelte; seine Augen waren blutunterlaufen. »Ich habe einen Menschen getötet.« Tränen füllten seine Augen und liefen ihm übers Gesicht.

»Noch haben Sie Zeit, zu fliehen«, sagte Michael zu dem Häftling mit dem dunklen Bart, während er Maus’ Gewicht stützte.

»Mir ist heute nicht nach Laufen«, kam die Antwort. Der Mann blickte hinauf in den zinnfarbenen Himmel. »Vielleicht morgen. Ziehen Sie weiter. Wir werden denen sagen …« Er zögerte; dann kam ihm die Idee. »Wir werden denen sagen, die Alliierten sind gelandet.« Er lächelte verträumt.

Michael, Maus, Günther und Dietz ließen die Zwangsarbeiter hinter sich zurück. Sie gingen die Straße entlang, immer dem Wald nach, und fanden den Heuwagen einen knappen Kilometer weiter. Das Pferd graste friedlich auf einer taufeuchten Wiese.

Sie fuhren so schnell wie möglich weiter. Schwarze Rauchwolken hingen jetzt wie Flaggen der Zerstörung ebenso am westlichen wie am östlichen Horizont. Maus starrte ins Leere, sein Mund bewegte sich, ohne einen Laut von sich zu geben, und Michael schaute nach vorne und versuchte den Blick des jungen Soldaten zu vergessen, unmittelbar bevor er ihn erschossen hatte. Die Schnapsflasche, die das Gefecht unbeschadet überstanden hatte, war zwischen ihnen hin und her gegangen und dann wieder im Heu versteckt worden. In diesen Zeiten war Alkohol ein unschätzbares Gut.

Sie fuhren weiter, und jede Drehung der Wagenräder brachte sie Berlin näher.

2

Michael hatte Paris im Sonnenschein gesehen; Berlin sah er in grauer Düsternis.

Es war eine riesige, ausufernde Stadt. Sie roch dumpfig und erdig, wie ein Keller, der zu lange vom Licht abgeschottet war. Und alt sah sie aus, ihre gedrungenen Gebäude hatten alle die gleiche graue Farbe. Michael fühlte sich an Grabsteine auf einem modrigen Friedhof erinnert, wo tödliche Pilze wucherten.

Sie überquerten in Spandau die Havel und wurden auf der anderen Seite sofort von einer Kolonne aus Kübelwagen und Truppentransportern, die auf dem Weg nach Westen waren, von der Straße gedrängt. Ein kühler Wind wehte von der Havel her und ließ die verblichenen Nazifahnen an ihren Masten flattern. Das Straßenpflaster war rissig von den Ketten der Panzer. Über dem Stadtbild quollen dunkle Rauchwolken aus Schornsteinen und wurden vom Wind zu Fragezeichen verwirbelt. An den Steinmauern der Mietshäuser hingen verblasste und halb zerfetzte Plakate und Bekanntmachungen wie GEDENKT DER HELDEN VON STALINGRAD, AUF NACH MOSKAU!, EIN GROSSER SIEG FÜR DEUTSCHLAND, DER ENDSIEG IST NAHE. Inschriften auf Grabsteinen, dachte Michael. Berlin war ein Friedhof voller Gespenster. Natürlich waren Menschen auf den Straßen, in Autos und Blumenläden, in Kinos und Schneidereien, aber es gab keine Lebensfreude. Berlin war keine Stadt des Lächelns, und Michael fiel auf, dass die Menschen oft über ihre Schultern blickten, voller Angst vor dem, was sich aus dem Osten näherte.

Günther kutschierte sie durch die eleganten Straßen von Charlottenburg – wo in Häusern, die wie Lebkuchenschlösser aussahen, ebenso irreal wirkende Herzöge und Barone lebten – in die kriegszerrissene Innenstadt. Hier drängten sich die Mietshäuser enger zusammen, grimmige Bauten mit Verdunkelungsvorhängen. Dies waren die Straßen, in denen Herzöge und Barone keine Macht hatten. Michael fiel etwas Merkwürdiges auf: Nur ältere Menschen und Kinder waren auf der Straße zu sehen, keine jungen Männer bis auf die Soldaten, die in Lkws und auf Motorrädern vorbeihasteten, und diese Männer hatten junge Gesichter, aber alte Augen. Berlin war in Trauer, denn seine Jugend war tot.

»Wir müssen meinen Freund nach Hause bringen«, sagte Michael zu Günther. »Ich habe es ihm versprochen.«

»Ich habe die Anweisung, euch in ein sicheres Versteck zu bringen, und genau das werde ich auch tun.«

»Bitte«, meldete Maus sich. Seine Stimme zitterte. »Bitte … mein Haus ist nicht weit von hier. Es liegt in Tempelhof, in der Nähe des Flughafens. Ich zeige dir den Weg.«

»Tut mir leid. Meine Anweisungen sind …«

Michael krallte seine Hand um Günthers Nacken. Der Deutsche hatte sich als guter Weggefährte erwiesen, aber Michael hatte keine Zeit, zu diskutieren. »Ich ändere hiermit deine Anweisungen. Wir können zum Versteck fahren, nachdem wir meinen Freund nach Hause gebracht haben. Tu es, oder gib mir die Zügel.«

»Ihr wisst gar nicht, was für ein Risiko ihr da eingeht!«, protestierte Dietz. »Und wir auch! Wir haben bereits einen Freund wegen euch verloren!«

»Dann steig ab und geh zu Fuß. Na los! Steig ab.«

Dietz zögerte. Auch er war fremd in Berlin. »Verdammt«, sagte Günther leise und ließ die Zügel schnalzen. »Also gut. Wo in Tempelhof?«

Maus nannte ihm schnell die Adresse, und Michael ließ Günthers Nacken los.

Nicht viel weiter stießen sie auf die ersten ausgebombten Gebäude. Die schweren amerikanischen B-17- und B-24-Bomber hatten ihre Fracht abgeliefert, und die Straßen lagen voller Schutt. Einige Häuser waren gar nicht mehr zu erkennen, nur noch Haufen aus Steinen und Balken. Andere waren aufgeplatzt und unter der Wucht der Detonationen eingestürzt. Ein Rauchschleier lag dicht über der Straße. Hier war die Düsternis noch dichter, und im Zwielicht glühten die roten Kerne der schwelenden Schutthaufen wie die Tore des Hades.

Sie fuhren durch ein Viertel, in dem Zivilisten mit schmutzigen Kleidern und Gesichtern in den Trümmern eines Gebäudes wühlten. Flammenzungen leckten an eingestürzten Holzbalken, und eine ältere Frau weinte, während ein Greis sie zu trösten versuchte. Mit Laken bedeckte Leichen lagen, in deutscher Präzision aufgereiht, auf dem rissigen Gehweg. »Mörder!«, schrie die Frau, und es war schwer zu sagen, ob sie in den Himmel blickte oder in die Richtung von Hitlers Reichskanzlei. »Gott verfluche euch, ihr verdammten Mörder!«, kreischte sie, und dann schlug sie wieder schluchzend die Hände vor das Gesicht, weil sie den Anblick der Vernichtung nicht mehr ertragen konnte.

Vor dem Pferdewagen erstreckte sich eine Landschaft der Zerstörung. Auf beiden Seiten der Straße waren Häuser explodiert, verbrannt und eingestürzt. Dichter Rauch hing in Schleiern über der Szene, so schwer, dass selbst der Wind ihn nicht vertreiben konnte. Fabrikschornsteine ragten in die Höhe, aber die Fabrik selbst war zermalmt worden wie eine Raupe unter einer genagelten Stiefelsohle. Der Schutt lag so hoch, dass Günther gezwungen war, einen anderen Weg in den südlichen Teil von Tempelhof zu suchen. Weiter im Westen tobte ein großes Feuer und spuckte wirbelnde rote Flammen in den Himmel. Der Bombenangriff musste erst letzte Nacht erfolgt sein. Maus saß zusammengesunken da, mit glasigen Augen. Michael hob die Hand, um die Schulter des kleinen Mannes zu berühren, aber dann ließ er sie wieder sinken. Es gab nichts, was man sagen konnte.

Günther fand die Straße und hielt einen Moment später vor der Adresse, die Maus ihm genannt hatte.

Das Mietshaus hatte aus roten Backsteinen bestanden. Es gab kein Feuer; die Asche war kalt und wurde vom Wind um Maus’ Gesicht geblasen, als er vom Wagen stieg und dann auf den Überresten der Vordertreppe stand.

»Das ist es nicht!«, sagte Maus zu Günther. Sein Gesicht war nass von kaltem Schweiß. »Das ist die falsche Adresse!«

Günther antwortete nicht.

Maus starrte die Ruine an, die einmal sein Zuhause gewesen war. Zwei Mauern waren eingestürzt, ebenso die Böden der meisten Stockwerke. Die zentrale Treppe ragte, schwer verbrannt, im Gebäude auf wie eine verkrüppelte Wirbelsäule. Ein Schild neben dem verkohlten Loch, in dem sich einmal die Haustür befunden hatte, warnte: GEFAHR! ZUTRITT VERBOTEN! Es trug den Hakenkreuzstempel der Bauaufsicht. Maus verspürte den entsetzlichen Drang, zu lachen. Mein Gott!, dachte er. Jetzt bin ich den ganzen weiten Weg gekommen, und die lassen mich nicht mal in mein Haus. Er entdeckte die Scherben einer blauen Vase in den Trümmern und musste daran denken, dass sie einmal Rosen enthalten hatte. Tränen brannten in seinen Augen. »Luise!«, rief er, und der Klang dieses verzweifelten Schreis ließ Michaels Seele erschaudern. »Luise! Antworte mir!«

Ein Fenster öffnete sich in einem verrußten Gebäude auf der anderen Straßenseite, und ein alter Mann schaute heraus. »He!«, rief er. »Wen suchen Sie?«

»Luise Mausenfeld! Wissen Sie, wo sie und die Kinder sind?«

»Die Leichen sind weggebracht worden«, antwortete der Alte achselzuckend. Maus hatte ihn noch nie gesehen; ein junges Paar hatte früher in der Wohnung gewohnt. »Es war ein schlimmes Feuer. Sehen Sie, wie diese Steine verkohlt sind?« Er klopfte auf einen, um seine Worte zu unterstreichen.

»Luise … die beiden Mädchen …« Maus schwankte; die Welt, diese brutale Hölle, drehte sich um ihn.

»Der Mann ist auch gestorben, in Frankreich«, fuhr der alte Mann fort. »Habe ich jedenfalls gehört. Sind Sie ein Verwandter?«

Maus’ Antwort bestand aus einem langen Schrei abgrundtiefer Qual, der zwischen den Überresten der Mauern hin und her hallte. Und dann, bevor Michael aus dem Wagen springen und ihn aufhalten konnte, rannte Maus die klapprige Treppe hinauf, deren angekokelte Stufen unter seinem Gewicht knackten und knarrten. Sofort folgte Michael ihm in das Reich aus Asche und Dunkelheit, und er hörte den alten Mann rufen: »Sie können da nicht rein!«, bevor das Fenster auf der anderen Straßenseite zufiel.

Maus eilte die Treppe hinauf. Sein linker Fuß brach durch eine morsche Stufe; er zog ihn heraus und lief weiter, hielt sich am verkohlten Geländer fest und hangelte sich daran hoch. »Bleib stehen!«, rief Michael, aber Maus ignorierte ihn. Die Treppe zitterte, und ein Teil des Geländers brach plötzlich ab und stürzte hinab in den Schutt. Maus schwankte einen Moment am Abgrund, dann packte er das gegenüberliegende Geländer und lief weiter. Er erreichte eine Etage, etwa 15 Meter über dem Boden, und die wackligen Dielen knarrten unter seinen Füßen. »Luise!«, schrie Maus. »Ich bin’s! Ich bin nach Hause gekommen!«

Er betrat ein Gewirr von Räumen, von den Bomben aufgerissen, sodass man die Besitztümer einer toten Familie sehen konnte – einen rußbedeckten Ofen; zerbrochenes Geschirr und hier und da eine Schüssel oder Tasse, die auf wundersame Weise die Zerstörung überlebt hatte; die Überreste eines Kiefernholztisches, heruntergebrannt bis auf die Beine; den Rahmen eines Stuhles mit rostigen Federn, aufgerollt wie Gedärm; die Reste von Tapeten an den Wänden, so gelb wie Lepraflecken, und darauf hellere Rechtecke, wo einmal Bilder gehangen hatten. Maus taumelte durch die kleinen Zimmer, rief nach Luise, Carla und Lucilla. Michael konnte ihn nicht aufhalten, und es hatte auch keinen Sinn, es zu versuchen. So folgte er ihm lediglich von Zimmer zu Zimmer, immer nahe genug, um ihn festzuhalten, sollte der kleine Mann durch den Fußboden brechen.

Maus ging in das ehemalige Wohnzimmer; im Fußboden waren Löcher, die herabstürzende Dachtrümmer geschlagen hatten. Das Sofa, auf dem Luise und die Mädchen so gern gesessen hatten, war nur noch ein verkohltes Knäuel aus Sprungfedern. Und das Klavier, das Hochzeitsgeschenk von Luises Großeltern, war ein Albtraum aus Tasten und Drähten. Aber da war noch der Kamin, der Maus und seine Familie in so vielen kalten Nächten gewärmt hatte. Und da war das Bücherregal, obwohl nur wenige Bücher überlebt hatten. Selbst sein geliebter Schaukelstuhl hatte es überstanden, wenn auch schwer angekokelt. Er stand noch genau da, wo er ihn zurückgelassen hatte. Und dann blickte Maus an die Wand, direkt neben dem Kamin, und Michael hörte ihn aufstöhnen.

Einen Moment lang bewegte Maus sich nicht; und dann, ganz langsam, ging er über den knarrenden Boden zum eingerahmten Eisernen Kreuz – dem Orden seines Sohnes.

Das Glas des Rahmens war gesprungen, aber davon abgesehen war das Eiserne Kreuz unversehrt. Ehrfürchtig nahm Maus den Rahmen von der Wand und las die Inschrift mit dem Namen seines Sohnes und dem Datum seines Todes. Sein Körper zitterte; in seinen Augen funkelte der Wahnsinn. Zwei helle rote Flecken bildeten sich auf seinen blassen Wangen über dem schmutzigen Bart.

Maus schleuderte das eingerahmte Eiserne Kreuz an die Wand, und Glassplitter regneten durch das Zimmer. Klimpernd fiel das Metall zu Boden. Sofort stürzte Maus vor, hob den Orden vom Boden auf und fuhr herum – das Gesicht rot vor Wut –, um ihn durch ein zerbrochenes Fenster zu werfen.

Michaels Hand schloss sich um Maus’ Faust und versiegelte sie. »Nein«, sagte er mit fester Stimme. »Wirf es nicht weg.«

Maus starrte ihn ungläubig an. Er blinzelte langsam, benebelt vom trüben Schleier der Verzweiflung, und stieß ein Stöhnen aus, das wie der Wind klang, der durch die Ruinen seines Hauses pfiff. Und dann hob Maus die andere Hand, ballte sie zur Faust und schlug Michael so fest, wie er konnte, ans Kinn. Michaels Kopf ruckte nach hinten, aber er ließ Maus nicht los und machte auch keine Anstalten, sich zu verteidigen. Maus schlug ihn noch einmal und noch ein drittes Mal. Michael sah ihn nur an, seine grünen Augen loderten und ein Tropfen Blut sickerte aus einem Riss in seiner Unterlippe. Maus holte aus, um ihn ein viertes Mal zu schlagen, und sah, wie Michael die Kiefermuskeln anspannte, um sich gegen den Schlag zu wappnen. Ganz plötzlich wich alle Kraft aus Maus’ Schulter; seine Muskeln wurden schlaff und seine Hand öffnete sich. Er versetzte Grünauge eine Ohrfeige, aber der Schlag war kraftlos. Und dann sackte sein Arm an der Seite herab, neue Tränen brannten in seinen Augen, und seine Knie gaben nach. Er wäre gestürzt, hätte Michael ihn nicht festgehalten.

»Ich will sterben«, flüsterte Maus. »Ich will sterben, ich will sterben, Oh Gott, bitte lass mich …«

»Steh auf«, sagte Michael. »Komm schon, steh auf.«

Maus’ Beine hatten keine Knochen mehr. Er wollte sich auf diesen Fußboden fallen lassen und dort liegen bleiben, bis Thors Hammer die Erde zerschmetterte. Er roch Schießpulver an der Kleidung des anderen Mannes, und dieser bittere Geruch brachte jede einzelne grauenvolle Sekunde des Gefechts im Kiefernwald in sein Gedächtnis zurück. Maus riss sich von Michael los und taumelte zurück. »Bleib weg von mir!«, rief er. »Zum Teufel mit dir, bleib weg!«

Michael sagte nichts. Der Sturm war im Anmarsch und musste sich austoben.

»Du bist ein Mörder!«, kreischte Maus. »Eine Bestie! Ich hab dein Gesicht gesehen, da hinten im Wald. Ich hab es gesehen, als du diese Männer getötet hast! Deutsche! Meine Landsleute! Du hast diesen Jungen abgeknallt und dabei nicht mal mit der Wimper gezuckt!«

»Es war keine Zeit zum Zucken«, sagte Michael.

»Du hast es genossen!«, tobte Maus weiter. »Das Töten hat dir Spaß gemacht, nicht wahr?«

»Nein, hat es nicht.«

»Oh Gott … Jesus … Du hast auch mich zu einem Mörder gemacht.« Maus’ Gesicht verzerrte sich. Er hatte das Gefühl, von inneren Kräften zerrissen zu werden. »Dieser junge Mann … ich habe ihn ermordet. Ich habe ihn getötet. Ich habe einen Deutschen getötet. Oh mein Gott.« Er sah sich in dem verwüsteten Zimmer um und glaubte, die Schreie seiner Frau und seiner beiden Töchter hören zu können, als die Bomben sie zerfetzten. Wo war er gewesen, als die alliierten Bomber den Tod auf seine Familie geworfen hatten? Er hatte nicht einmal ein Foto von ihnen; seine gesamten Papiere, seine Brieftasche, seine Fotos waren ihm in Paris abgenommen worden. Das war die Grausamkeit, die ihn schließlich auf die Knie zwang. Er krabbelte zu einem Haufen aus verbrannten Trümmern und begann verzweifelt nach einem Bild von Luise und den Kindern zu suchen.

Michael wischte sich mit dem Handrücken das Blut von der Unterlippe. Maus schleuderte Trümmerstücke nach allen Seiten, behielt das Eiserne Kreuz aber fest in der Hand. »Was hast du jetzt vor?«, fragte Michael.

»Ihr habt das getan! Ihr! Die Alliierten. Eure Bomber. Euer Hass auf Deutschland. Hitler hatte recht. Die Welt fürchtet und hasst Deutschland. Ich dachte, er wäre verrückt, aber er hatte recht.« Maus grub tiefer. Aber da waren keine Bilder, nur Asche. Er kroch zu den verbrannten Büchern und suchte nach den Fotografien, die im Regal gestanden hatten. »Ich verpfeife dich. Das werde ich tun. Ich verpfeife dich, und dann gehe ich in die Kirche und bete um Vergebung. Oh Gott … ich habe einen Deutschen ermordet. Ich habe einen Deutschen ermordet, mit meinen eigenen Händen!« Er schluchzte, Tränen liefen über sein Gesicht. »Wo sind die Bilder? Wo sind die Bilder?«

Michael hockte sich ein paar Schritte entfernt hin. »Du kannst hier nicht bleiben.«

»Das ist mein Zuhause!«, rief Maus so laut, dass die leeren Fensterrahmen zitterten. Seine Augen waren blutunterlaufen und tief eingesunken. »Hier lebe ich«, fügte er hinzu, aber jetzt kam nur noch ein Flüstern aus seiner rauen Kehle.

»Hier lebt niemand mehr.« Michael stand auf. »Günther wartet. Wir müssen gehen.«

»Gehen? Gehen wohin?« Unbewusst wiederholte Maus die Worte des russischen Gefangenen, der eine Flucht für sinnlos gehalten hatte. »Du bist ein britischer Spion, und ich bin ein Bürger des Deutschen Reiches. Mein Gott … warum habe ich mich nur von dir überreden lassen? Meine Seele brennt. Oh Jesus, vergib mir!«

»Hitler hat die Bomben heraufbeschworen, die deine Familie getötet haben«, sagte Michael. »Glaubst du, dass niemand die Toten beweint hat, als die Naziflugzeuge London bombardierten? Glaubst du, dass deine Frau und deine Kinder die einzigen Toten waren, die jemals aus einem zerbombten Gebäude getragen wurden? Wenn ja, dann bist du ein Dummkopf.« Er sprach leise und ruhig, aber sein grüner Blick durchdrang Maus. »Warschau, Narvik, Rotterdam, Sedan, Dünkirchen, Kreta, Leningrad, Stalingrad – Hitler hat Leichen so weit nach Norden, Süden, Osten und Westen verstreut, wie er nur konnte. Hunderttausende, um die getrauert werden muss, und du weinst in den Ruinen eines einzelnen Zimmers.« Er schüttelte den Kopf, verspürte eine Mischung aus Mitleid und Abscheu. »Dein Land stirbt. Hitler bringt es um, aber bevor er sein Werk vollendet, wird er noch so viele vernichten, wie er kann. Dein Sohn, deine Frau, deine Töchter – was bedeuten sie Hitler schon? Haben sie ihn interessiert? Ich glaube, nicht.«

»Halt deine Klappe!« Tränen glitzerten wie falsche Diamanten in Maus’ Bart.

»Es tut mir leid, dass hier die Bomben fielen«, redete Michael weiter. »Es tut mir leid, dass sie in London fielen. Aber als die Nazis die Macht übernahmen und Hitler seinen Krieg begann, mussten die Bomben irgendwo fallen.«

Maus antwortete nicht. Er konnte in den Trümmern keine Fotos finden, also setzte er sich auf den verkohlten Fußboden und schaukelte vor und zurück.

»Hast du Verwandte hier?«, fragte Michael.

Maus zögerte; dann schüttelte er den Kopf.

»Gibt es einen Ort, wo du hingehen kannst?«

Noch ein Kopfschütteln. Maus schniefte und wischte sich die tropfende Nase.

»Ich muss meine Mission erledigen. Du kannst mit mir in das Versteck kommen, wenn du willst. Von dort kann dich Günther vielleicht aus dem Land bringen.«

»Das hier ist mein Zuhause«, sagte Maus.

»Ist es das?«, entgegnete Michael. Es kam keine Antwort. »Wenn du auf einem Friedhof wohnen willst, dann ist das deine Sache. Wenn du aufstehen und mit mir gehen willst, dann komm. Ich gehe jetzt.« Michael wandte Maus den Rücken zu, ging durch das verbrannte Wohnzimmer zur Treppe und stieg zur Straße hinab. Günther und Dietz tranken einen Schluck aus der Schnapsflasche; der Wind war schneidender geworden. Michael wartete neben dem verkohlten Eingang des Mietshauses. Er würde Maus zwei Minuten geben. Wenn der Mann nicht herauskam, musste er entscheiden, was zu tun war. Eine unglückliche Situation – Maus wusste zu viel.

Eine Minute verging. Michael sah zwei Kinder, die in einem Haufen schwarzer Backsteine wühlten. Sie entdeckten ein Paar Stiefel, und das eine Kind scheuchte das andere davon weg. Und dann hörte Michael das Knarren der Treppe und spürte, wie seine Muskeln sich entspannten. Maus trat aus dem Haus in das triste graue Licht. Er blickte hinauf in den Himmel und auf die umstehenden Gebäude, als sähe er das alles zum ersten Mal. »Also gut«, sagte er mit müder und emotionsloser Stimme. Seine Augen waren rot und geschwollen. »Ich komme mit.«

Sobald Michael und Maus auf dem Wagen saßen, ließ Günther die Zügel schnalzen, und das klapprige Pferd trottete los. Dietz reichte Michael den Schnaps; Michael nahm einen Schluck und bot Maus die Flasche an. Der kleine Mann schüttelte den Kopf. Er starrte auf seine offene rechte Hand, in der das Eiserne Kreuz lag.

Michael wusste nicht, was er getan hätte, wenn Maus nicht herausgekommen wäre. Ihn getötet? Vielleicht. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er war ein Profi in einem schmutzigen Geschäft, und das einzig Wichtige war die anstehende Mission. Die Eiserne Faust. Frankewitz. Blok. Dr. Hildebrand und der Gaskrieg. Und natürlich Harry Sandler. Was hatten sie alle miteinander zu tun, und welche Bedeutung hatten gemalte Einschusslöcher auf grünem Metall?

Er musste es herausfinden. Wenn er versagte, endete die Invasion der Alliierten möglicherweise in einer Katastrophe.

Er lehnte sich zurück an die Seite des Wagens und spürte die Umrisse einer Maschinenpistole im Heu neben sich. Maus starrte das Eiserne Kreuz an, fasziniert davon, dass so ein kleines kaltes Ding das Letzte sein konnte, was in seinem Leben noch eine Bedeutung hatte. Und dann schloss er die Hand um das Metall und steckte es in die Tasche.