Wharton, Edith Die kühle Woge des Glücks

PIPER

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karen Lauer

Mit einem Nachwort von Elaine Showalter




ISBN 978-3-492-98504-8

Januar 2017

© Charles Scribner’s Sons 1913. Copyright assigned to William R. Tyler.

Die Originalausgabe erschien 1913 unter dem Titel »A Custom of the Country« bei Charles Scribner’s Sons in New York.

© des Nachworts: Elaine Showalter 1994

Deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1997

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Erstes Buch

 

1

»Undine Spragg – was fällt dir ein?« rief Undines Mutter in wehleidigem Ton und hielt abwehrend ihre vorzeitig gealterte, schwer beringte Hand vor einen Brief, den ein gelangweilter Page eben abgegeben hatte.

Doch ihr Widerstand war so schwach wie ihr Protest, und sie lächelte noch ihre Besucherin an, als Miss Spragg mit ihren flinken jungen Fingern das Billett ergriff und sich ans Fenster zurückzog.

»Das ist doch wohl für mich«, warf sie ihrer Mutter über die Schulter zu.

»Haben Sie so was schon gesehen, Mrs. Heeny?« seufzte Mrs. Spragg, stolz den Kopf schüttelnd.

Mrs. Heeny, eine stämmige, kompetent wirkende Person in einem Regenmantel, deren schäbiger Schleier hochgeschlagen war und zu deren Füßen eine alte Krokotasche stand, folgte dem Blick der Mutter mit heiterer, beifälliger Miene.

»Die reizendste Gestalt, die mir je begegnet ist«, stimmte sie ihrer Gastgeberin zu, die Frage eher dem Sinn als dem Wortlaut nach beantwortend.

Mrs. Spragg und ihr Besuch thronten auf zwei schweren vergoldeten Sesseln in einem der privaten Salons im Hotel Stentorian. Die Spragg-Zimmer zählten zu den sogenannten Looey-Suiten, und die Wände des Salons waren oberhalb der polierten Mahagonitäfelung mit lachsrosa Damast bespannt und mit ovalen Bildnissen von Marie Antoinette und der Prinzessin de Lamballe geschmückt. Auf dem bunt gemusterten Teppich stand in der Mitte ein vergoldeter Tisch mit einer Platte aus Onyxmarmor und darauf ein vergoldeter Korb mit einer Palme und einer rosa Schleife. Bis auf dieses Prachtstück und ein Buch, das daneben lag – The Hound of the Baskervilles –, wies das Zimmer keine Spuren menschlicher Benutzung auf, und Mrs. Spragg selbst wirkte so erhaben wie eine Wachspuppe in einem Schaufenster. Von ihrer modischen Kleidung her hätte ihr eine solche Stellung auch durchaus gebührt, und ihr blasses, weiches Gesicht mit den geschwollenen Lidern und den hängenden Mundwinkeln ließ sie aussehen wie eine angeschmolzene Wachsfigur, der das Kinn zu einem Doppelkinn zerronnen ist.

Dagegen nahm sich Mrs. Heeny beruhigend handfest und wirklich aus. Die Art, wie ihr kompakter, dunkel bekleideter Körper in den Sessel gepflanzt war und ihre breiten roten Hände die vergoldeten Lehnen umfassten, zeugte von einer geregelten Betätigung und Selbstvertrauen: Mrs. Heeny war eine Maniküre und Masseuse der »Gesellschaft«. Für Mrs. Spragg und ihre Tochter erfüllte sie eine doppelte Funktion, indem sie beide fachgerecht behandelte und ihre Freundin war; und in der letzteren Eigenschaft war sie jetzt, nach vollbrachtem Tagewerk, auf einen Sprung vorbeigekommen, um die einsamen Damen vom Stentorian ein wenig »aufzumuntern«.

Die junge Dame, deren »Gestalt« Mrs. Heenys fachmännische Anerkennung galt, verschob auf einmal ihre reizende Silhouette, indem sie sich den beiden Frauen zuwandte.

»Hier – jetzt kannst du ihn haben«, sagte sie, den Brief zerknüllend, und warf ihn ihrer Mutter verächtlich in den Schoß.

»Wieso – ist er denn nicht von Mr. Popple?« stieß ihre Mutter leichtfertig aus.

»Nein – ist er nicht. Wie kommst du darauf, dass ich das gedacht habe?« gab ihre Tochter schroff zurück; doch dann erklärte sie in einem Ausbruch kindlicher Enttäuschung: »Er ist bloß von Mr. Marvells Schwester – oder sie schreibt zumindest, dass sie seine Schwester ist.«

Mrs. Spragg runzelte verblüfft die Stirn und tastete zwischen den Jett-Fransen an ihrem fest geschnürten Oberteil nach ihrem Monokel.

Mrs. Heenys kleine blaue Augen funkelten vor Neugierde. »Marvell – welcher Marvell ist es denn?«

Lustlos erklärte das junge Mädchen: »So ein Kleiner – Mr. Popple hat, glaube ich, gesagt, er heiße Ralph«; und die Mutter setzte hinzu: »Undine hat die beiden gestern Abend auf dem Fest hier kennengelernt. Und Mr. Popple hat von einem neuen Stück gesprochen, das man sich unbedingt ansehen müsse, und da dachte sie –«

»Woher in aller Welt willst du wissen, was ich gedacht habe?« warf Undine aufbrausend ein, und ihre grauen Augen unter den geraden schwarzen Brauen funkelten drohend.

»Wieso, du hast doch gesagt, du glaubst –«, setzte Mrs. Spragg vorwurfsvoll an; doch Mrs. Heeny achtete nicht auf das Gezänk und ging ihren eigenen Gedanken nach.

»Welcher Popple? Claud Walsingham Popple, der Porträtmaler?«

»Ja, ich glaube. Er meinte, er würde mich gern malen. Mabel Lipscomb hat ihn mir vorgestellt. Meinetwegen kann er mir gestohlen bleiben«, erwiderte das Mädchen, rot vor Ärger.

»Kennen Sie ihn, Mrs. Heeny?« fragte Mrs. Spragg.

»Das will ich meinen. Ich hab ihn für sein erstes Gesellschaftsporträt manikürt – ein Ganzporträt von Mrs. Harmon B. Driscoll.« Mrs. Heeny lächelte ihre Zuhörerinnen nachsichtig an. »Ich kenne jeden. Wer mich nicht kennt, der gehört nicht dazu, und Claud Walsingham Popple gehört sehr wohl dazu. Aber längst nicht so sehr«, fuhr sie abwägend fort, »wie Ralph Marvell – der Kleine, wie Sie ihn nennen.«

Bei den letzten Worten drehte Undine Spragg sich mit einer der schnellen Kehrtwendungen zu ihr um, die ihre jugendliche Beweglichkeit bewiesen. Sie drehte sich ständig hin und her und um sich selbst, und ihre Bewegungen schienen stets von einem Punkt in ihrem Nacken auszugehen, gleich unter der hochgesteckten Rolle ihres rotblonden Haars, und ihren ganzen schlanken Körper bis zu den Spitzen ihrer Finger und ihrer rastlosen schmalen Füße zu durchlaufen.

»Wieso, kennen Sie etwa die Marvells? Sind das denn feine Leute?« fragte sie.

Mrs. Heeny antwortete mit der resignierten Geste eines Pädagogen, der sich vergeblich bemüht hat, in einen aufrührerischen Geist den Keim des Wissens zu pflanzen.

»Aber Undine Spragg, ich hab Ihnen doch immer wieder alles über sie erzählt! Seine Mutter war eine Dagonet. Sie wohnen bei Urban Dagonet unten am Washington Square.«

Mrs. Spragg verstand noch weniger als ihre Tochter. »Was, da unten? Und warum wohnen sie bei jemand anderem? Können sie sich keine eigene Wohnung leisten?«

Undine war schneller von Begriff und sah Mrs. Heeny forschend an.

»Wollen Sie damit sagen, dass Mr. Marvell so vornehm ist wie Mr. Popple?«

»So vornehm? Claud Walsingham Popple gehört nicht mal seiner Klasse an!«

Mit einem Satz war das Mädchen bei der Mutter, schnappte sich den zerknüllten Brief und strich ihn wieder glatt.

»Laura Fairford – heißt so seine Schwester?«

»Mrs. Henley Fairford; ja. Was schreibt sie denn?«

Undines Gesicht leuchtete auf, als wäre durch die drei Vorhänge vor den Fenstern des Stentorian ein abendlicher Sonnenstrahl gedrungen.

»Sie fragt, ob ich am Mittwochabend zu ihr zum Essen komme. Ist das nicht merkwürdig? Warum fragt sie mich denn? Sie hat mich doch noch nie gesehen!« Ihr Tonfall ließ erkennen, dass sie längst daran gewöhnt war, bei Leuten, die sie gesehen hatten, sehr »gefragt« zu sein.

Mrs. Heeny lachte. »Aber er hat Sie gesehen, oder?«

»Wer? Ralph Marvell? Ja, natürlich – Mr. Popple hat ihn gestern zu dem Fest hier mitgebracht.«

»Tja, da haben Sie’s... Wenn ein junger Mann aus der Gesellschaft eine junge Dame wiedersehen will, überredet er seine Schwester, sie einzuladen.«

Undine starrte sie ungläubig an. »Wie merkwürdig! Aber es haben doch nicht alle Schwestern, oder? Es muss furchtbar öde sein für die, die keine haben.«

»Die nehmen dann die Mütter – oder verheiratete Freunde«, meinte Mrs. Heeny allwissend.

»Verheiratete Herren?« fragte Mrs. Spragg leicht schockiert, aber in dem aufrichtigen Wunsch, ihre Lektion zu lernen.

»Um Gottes willen, nein! Verheiratete Damen.«

»Aber sind denn niemals Herren dabei?« fragte Mrs. Spragg weiter, denn sie ahnte, dass Undine in diesem Fall enttäuscht wäre.

»Wo? Bei den Abendessen? Doch, natürlich – Mrs. Fairfords kleine Diners sind die schicksten in der Stadt. Heute Morgen war im Town Talk ein Bericht über eins von letzter Woche – ich glaub sogar, ich hab ihn mit dabei.« Mrs. Heeny stürzte sich auf ihre Tasche und zog eine Handvoll Zeitungsausschnitte heraus, die sie auf ihrem ausladenden Schoß verteilte und sodann mit angelecktem Zeigefinger durchblätterte. »Hier«, sagte sie und hielt mit ausgestrecktem Arm einen der Schnipsel hoch; und den Kopf zurückgeworfen, las sie in einem langsamen Singsang ohne Punkt und Komma vor: »›Letzten Mittwoch gab Mrs. Henley Fairford wieder einmal eines ihrer schicken kleinen Dinners auch diesmal war es wieder fein, klein und exklusiv und unter den Verschmähten war das Zähneknirschen groß, denn nach dem Essen zeigte Madame Olga Loukowska den Gästen ein paar von ihren neuen ›steppe dances‹ – das ist französisch und heißt ›neue Tanzschritte‹«, schloss Mrs. Heeny und stopfte ihre Dokumente wieder in die Tasche.

»Kennen Sie auch Mrs. Fairford?« fragte Undine gespannt; während Mrs. Spragg beeindruckt, aber mehr an Tatsachen interessiert, nachhakte: »Wohnt sie in der Fifth Avenue?«

»Nein, sie hat ein kleines Haus unten in der Achtunddreißigsten Straße, hinter der Park Avenue.«

Erneut zogen die Damen die Mundwinkel herab, und schnell fuhr die Masseuse fort: »Aber in den großen Häusern ist man froh, wenn sie kommt! – Ja, natürlich kenn ich sie«, antwortete sie Undine. »Vor ein paar Jahren hab ich ihren verstauchten Knöchel massiert. Sie hat eine reizende Art, aber leider kein Talent zur Unterhaltung. Ein paar von meinen Patienten machen exquisit Konversation«, fügte Mrs. Heeny mit sicherem Urteil hinzu.

Undine saß grübelnd über dem Brief. »Er ist tatsächlich an Mutter – Mrs. Abner E. Spragg –, so etwas Komisches hab ich noch nie erlebt! ›Würden Sie Ihrer Tochter wohl erlauben, bei mir zu Abend zu essen?‹ Erlauben! Ist Mrs. Fairford manchmal etwas sonderbar?«

»Nein – aber Sie«, versetzte Mrs. Heeny barsch. »Wissen Sie denn nicht, dass man in den besten Kreisen grundsätzlich so tut, als dürften Mädchen ohne die Erlaubnis ihrer Mutter gar nichts? Denken Sie daran, Undine. Wenn ein Herr Sie einlädt, müssen Sie unbedingt behaupten, Sie müssten erst mal Ihre Mutter fragen.«

»Ach du lieber Himmel! Aber wie soll Mutter wissen, was sie antworten soll?«

»Wieso, sie sagt natürlich das, was Sie wollen. Sagen Sie ihr lieber gleich, dass Sie bei Mrs. Fairford essen wollen«, fügte Mrs. Heeny schmunzelnd hinzu, während sie ihren Regenmantel um sich raffte und nach ihrer Tasche langte.

»Dann muss ich die Antwort schreiben?« fragte Mrs. Spragg beunruhigt.

Mrs. Heeny überlegte. »Nein, nein. Undine kann sie schreiben und so tun, als wäre sie von Ihnen. Mrs. Fairford kennt ja Ihre Handschrift nicht.«

Mrs. Spragg war sichtlich erleichtert, und als Undine mit dem Brief hinausrauschte, sank ihre Mutter in den Sessel zurück und wimmerte matt: »Ach, gehen Sie noch nicht, Mrs. Heeny. Ich habe den ganzen Tag keinen Menschen gesehen, und mit diesem französischen Mädchen weiß ich einfach nichts zu reden.«

Mrs. Heeny sah ihre Gastgeberin voll freundschaftlichem Mitleid an. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie für Mrs. Spragg der einzige Lichtfleck am Horizont war. Seit die Spraggs vor etwa drei Jahren von Apex City nach New York gezogen waren, hatten sie hinsichtlich des Anschlusses an ihre neue Umgebung kaum Fortschritte gemacht; und als Mrs. Spraggs Arzt ihr vor ungefähr vier Monaten geraten hatte, Mrs. Heenys fachkundigen Beistand zu beanspruchen, hatte er mehr für ihren Geist getan als für ihren Körper. Mrs. Heeny hatte mit solchen »Fällen« schon zu tun gehabt: Sie kannte diese reichen, hilflosen Familien, die in den feudalen Hotels an der West Side gestrandet waren und dort in einsamer Herrlichkeit lebten – die Väter angewiesen auf den Schein von gesellschaftlichem Leben an der Hotelbar, die Mütter, denen selbst dieser Kontakt mit ihresgleichen versagt blieb, krank vor Untätigkeit und Langeweile. Die arme Mrs. Spragg hatte in jungen Jahren ihre Wäsche selbst gewaschen, doch seit ihr Vermögen gewachsen war und sich das nicht mehr schickte, war sie in die relative Trägheit verfallen, in der die Damen in Apex City eines der Vorrechte der Reichen sahen. Doch in Apex war sie Mitglied eines Klubs gewesen, und bis zu ihrem Umzug ins Mealey House hatte der ständige Kampf mit Haushaltssorgen sie völlig ausgefüllt; während New York einer Dame keinerlei Betätigungsfeld zu bieten schien. So verschaffte sie sich zum Ersatz mit Mrs. Heenys Hilfe ein wenig Bewegung; und Mrs. Heeny wusste ihre Phantasie genauso zu bearbeiten wie ihre Muskeln. Dank Mrs. Heeny belebte sich die Einöde ihrer langen, unwirklichen Tage mit anregenden Anekdoten über die Van Degens, die Driscolls, die Chauncey Ellings und die anderen Spitzen der Gesellschaft, deren kleinste Bewegungen Mrs. Spragg und Undine einst von Apex aus in den Zeitungen verfolgt hatten und die so viel weiter weg schienen, seit die beiden nur noch die Breite des Central Park von den himmlischen Pforten trennte.

Für sich selbst hatte Mrs. Spragg keine Ambitionen – sie schien ihre ganze Persönlichkeit in ihr Kind verlegt zu haben –, doch sie war fest entschlossen, dass Undine bekommen sollte, was sie wollte, und manchmal dachte sie, dass Undine vielleicht durch Mrs. Heeny, die jene heiligen Schwellen so ungezwungen überschritt, dort eines Tages Einlass finden würde.

»Nun, wenn Sie möchten, bleib ich noch ein Minütchen da; und wie wär’s, wenn ich Ihnen die Nägel polier, während wir uns unterhalten? Das wäre doch gemütlicher«, schlug die Masseuse vor, während sie ihre Tasche an die Tischplatte hob und den glänzenden Onyx mit Flaschen und Polierbürsten bedeckte.

Mrs. Spragg streifte einwilligend die Ringe von ihren kleinen gesprenkelten Händen. Es tat ihr gut, sich in Mrs. Heenys Obhut zu fühlen, und dass diese Aufmerksamkeit sie drei Dollar kosten würde, beunruhigte sie nicht, denn Abner hatte sicher nichts dagegen. Seit ihrer etwas überstürzten Abreise aus Apex City war Mrs. Spragg stets klargewesen, dass Abner entschlossen war, nichts dagegen zu haben – entschlossen, das New Yorker Abenteuer »durchzustehen«, koste es, was es wolle. Und es sah so aus, als würde es einiges kosten. Sie lebten nun schon seit zwei Jahren in New York, doch ihre Tochter war gesellschaftlich noch keinen Schritt vorangekommen; und zu diesem Zweck waren sie natürlich hergezogen. Hatte es damals noch andere, zwingendere Gründe gegeben, so waren sie von einer Art, von der Mrs. Spragg und ihr Gatte niemals sprachen, nicht einmal in der vergoldeten Privatsphäre ihres Schlafzimmers im Stentorian; und es herrschte in diesem Punkt ein so vollkommenes Schweigen, dass es ihn für Mrs. Spragg schon nicht mehr gab: Sie glaubte wirklich, sie hätten Apex, wie Abner sich ausdrückte, verlassen, weil Undine eine Nummer zu groß sei für diesen Ort.

Das arme Kind – für New York war sie bis jetzt eine Nummer zu klein: für seine achtlosen Menschenmengen praktisch gar nicht wahrnehmbar; und ihre Mutter zitterte vor dem Tag, an dem Undine ihre Unsichtbarkeit auffallen würde. Mrs. Spragg störte das lange Warten nicht um ihrer selbst willen – sie verfügte über reichlich Phlegma und Geduld. Aber in letzter Zeit hatte sie bemerkt, dass Undine etwas nervös wurde, und nichts fürchteten ihre Eltern so sehr wie ihre nervösen Zustände. Diese mütterliche Sorge brach in Mrs. Spraggs nächsten Worten durch.

»Ich hoffe ja, dass sie sich jetzt beruhigt«, murmelte sie, sich ihrerseits schon etwas ruhiger fühlend, als ihre Finger in Mrs. Heenys geräumigen Handteller sanken.

»Wer? Undine?«

»Ja. Sie schien so fest damit zu rechnen, dass dieser Mr. Popple käme. Nach seinem Benehmen gestern dachte sie, er würde sicher heute Morgen vorbeischauen. Das arme Kind ist ja so einsam – man kann’s ihr nicht verübeln.«

»Ach, der wird schon noch kommen. In New York geht das alles nicht so schnell«, meinte Mrs. Heeny, während ihre Polierbürste lustig hin und her flog.

Mrs. Spragg seufzte erneut. »Anscheinend. Es heißt, in New York hätten’s immer alle eilig; aber sehr eilig hatten sie es bisher nicht, uns kennenzulernen.«

Mrs. Heeny lehnte sich zurück, um das Ergebnis ihrer Arbeit zu begutachten. »Nur Geduld, Mrs. Spragg, nur Geduld. Wenn man’s allzu eilig hat, muss man manchmal die ganze Naht wieder auftrennen.«

»Ja, wirklich – das ist wahr!« rief Mrs. Spragg mit so dramatischer Betonung aus, dass die Masseuse zu ihr aufsah.

»Natürlich. Und in New York noch mehr als anderswo.

Die falsche Gesellschaft ist wie Fliegenpapier: Klebt man mal fest, kann man ziehen und zerren, wie man will – man kommt nie mehr los.«

Undines Mutter seufzte wieder, diesmal etwas hilfloser. »Ach, Mrs. Heeny, würden Sie das doch Undine sagen.«

»Undine ist schon auf dem rechten Weg. Ein Mädchen wie sie kann es sich leisten zu warten. Und wenn sie dem jungen Marvell tatsächlich gefällt, wird sie bald überall ein und aus gehen.«

Dieser tröstliche Gedanke ermöglichte es Mrs. Spragg, sich Mrs. Heenys Händen rückhaltlos zu überlassen, die sie noch eine glückliche, vertrauliche Stunde lang behandelten; und sie hatte die Masseuse gerade erst verabschiedet und war dabei, die Ringe wieder aufzustecken, als die Tür sich öffnete und ihr Mann hereinkam.

Mr. Spragg legte wortlos seinen Zylinder auf den Tisch und seinen Mantel über einen der vergoldeten Stühle. Er war recht groß, hatte einen grauen Bart, einen leicht gebeugten Rücken und die schlaffe Figur eines ständig sitzenden Menschen, der untersetzt wäre, litte er nicht an einem empfindlichen Magen; und seine wachsamen grauen Augen mit den Lidsäcken darunter sahen unter den gleichen geraden schwarzen Brauen hervor wie diejenigen seiner Tochter. Das dünne Haar trug er ein wenig zu lang, bis auf den Rockkragen hinab, und an der schweren Goldkette, die quer über der knitterigen schwarzen Weste hing, baumelte ein Freimaurerabzeichen.

Er stand reglos mitten im Raum und sah sich forschend in der vergoldeten Leere um; dann fragte er freundlich: »Nun, Mutter?«

Mrs. Spragg blieb sitzen, doch ihre Augen ruhten voller Zuneigung auf ihm.

»Undine hat eine Einladung zu einem Abendessen bekommen; und Mrs. Heeny sagt, es sei eine der besten Familien. Es ist die Schwester eines der Herren, denen Mabel Lipscomb sie gestern Abend vorgestellt hat.«

In ihrer Stimme lag leiser Triumph, denn nur dank ihrer und Undines Hartnäckigkeit hatte Mr. Spragg ihr Haus in der West End Avenue wieder geräumt und mit seiner Familie die Zimmer im Stentorian bezogen. Undine war sehr bald zu dem Schluss gelangt, dass ein »Haushalt« sie am Weiterkommen hinderte – die eleganten Leute, die sie kannte, wohnten alle in Hotels oder Pensionen. Mrs. Spragg war davon leicht zu überzeugen, aber Mr. Spragg hatte zunächst Widerstand geleistet, denn zu jenem Zeitpunkt konnte er das Haus nicht so vorteilhaft verkaufen oder vermieten, wie er gehofft hatte. Nach dem Umzug hatte es zunächst so ausgesehen, als hätte er recht gehabt, als wäre der Einstieg in die Gesellschaft vom Hotel aus nicht leichter als mit einem eigenen Haus; darum war Mrs. Spragg nun an dem Hinweis gelegen, dass Undine ihre erste Einladung tatsächlich einer Bekanntschaft verdankte, die sie im Stentorian gemacht hatte.

»Siehst du, Abner, es war richtig herzuziehen«, fügte sie hinzu, und abwesend schloss er sich ihr an: »Ihr zwei schafft es wohl immer, recht zu haben.«

Doch kein Lächeln trat auf sein Gesicht, und statt sich zu setzen und sich wie sonst vor dem Essen eine Zigarre anzuzünden, drehte er ziellos drei, vier Runden im Zimmer, bis er schließlich vor seiner Frau stehenblieb.

»Was ist los – läuft unten an der Wall Street etwas schief?« fragte sie, einen Widerschein seiner Unruhe in den Augen.

Mrs. Spragg besaß nur eine ganz elementare Vorstellung von den Vorgängen »unten an der Wall Street«, doch sie konnte schon seit langem am Gesicht ihres Mannes wie an einem Barometer ablesen, ob sie ungehemmt fortfahren durfte oder besser wartete, bis das nahende Gewitter sich entladen hatte.

Er schüttelte den Kopf. »N-nein. Nichts, was ich nicht in den Griff bekomme, wenn du und Undine euch eine Zeit im Zaum haltet.« Er verstummte und sah zur Tür seiner Tochter hinüber. »Wo ist sie – ist sie ausgegangen?«

»Sie wird in ihrem Zimmer sein und mit diesem französischen Mädchen ihre Kleider durchsehen. Ich weiß gar nicht, ob sie etwas hat, was sie zu dem Essen anziehen kann«, fügte Mrs. Spragg, leise vorfühlend, hinzu.

Endlich lächelte Mr. Spragg. »Nun, ich nehm mal an, dass sie etwas haben wird«, prophezeite er.

Er schielte noch einmal nach Undines Tür, als wolle er sich vergewissern, dass sie geschlossen war; dann sagte er, dicht vor seiner Frau stehend, mit gesenkter Stimme: »Ich habe heute unten an der Wall Street Elmer Moffatt getroffen.«

»O Abner!« Eine fast körperliche Vorahnung ließ Mrs. Spragg erschauern. Ihre beringten Hände lagen zitternd auf dem schwarzen Brokat in ihrem Schoß, und ihr schwabbeliges Gesicht fiel wie ein angestochener Luftballon in sich zusammen.

»O Abner«, stöhnte sie erneut, gleichfalls zur Tür ihrer Tochter blickend.

Mr. Spraggs schwarze Augenbrauen zogen sich in einem finsteren Stirnrunzeln zusammen, doch sein Zorn galt offensichtlich nicht seiner Frau.

»Was heißt da ›O Abner‹? Elmer Moffatt kann uns vollkommen egal sein – so egal, als hätten wir ihn nie gesehen.«

»Ja, ich weiß; aber was macht er hier? Hast du mit ihm gesprochen?« fragte sie vorsichtig.

Er hängte die Daumen in seine Westentaschen ein. »Nein – Elmer und ich haben uns, glaube ich, nichts mehr zu sagen.«

Mrs. Spragg fing wieder an zu stöhnen. »Sag ihr bloß nicht, dass du ihn gesehen hast.«

»Wie du willst; aber es kann sein, dass sie ihn selbst mal trifft.«

»Oh, das glaub ich kaum – nicht bei dem Kreis, in dem sie sich jetzt bewegt! Aber sag’s ihr trotzdem nicht.«

Er wandte sich um und tastete nach den Zigarren, die er immer lose bei sich trug; seine Frau stand auf, trat leise zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Er kann ihr doch nichts tun, oder?«

»Ihr etwas tun?« Aufbrausend drehte er sich um. »Er soll ihr nur zu nahe kommen – mehr sag ich dazu nicht!«

 

2

Von Undines weiß-goldenem Schlafzimmer, das meergrün getäfelt und mit einem altrosa Teppich ausgelegt war, sah man die Siebenundsiebzigste Straße entlang bis zu den kahlen Baumkronen des Central Park.

Undine trat ans Fenster, zog die dichten Spitzenvorhänge zurück und blickte nach Osten, die lange sandsteinbraune Häuserflucht entlang. Hinter dem Park lag die Fifth Avenue – und dorthin sehnte sie sich!

Sie wandte sich um und ging zu ihrem Schreibtisch, legte Mrs. Fairfords Brief darauf und fing an, ihn genauestens zu studieren. Sie hatte in einer der Sonntagszeitungen in der Rubrik Boudoirgeplauder gelesen, dass die elegante Frau jetzt das neue burgunderrote Briefpapier und weiße Tinte wählte; und entgegen dem Rat ihrer Mutter hatte sie sich einen großen Vorrat davon zugelegt, mit ihrem Monogramm in Silber. Es enttäuschte sie darum sehr, dass Mrs. Fairford ihr auf einem unmodernen weißen Blatt schrieb, das nicht einmal mit einem Monogramm versehen war, sondern bloß mit der Adresse und der Telefonnummer. Undine bekam dadurch eine ziemlich schlechte Meinung von Mrs. Fairfords gesellschaftlicher Position und machte sich mit einiger Befriedigung daran, auf ihrem burgunderroten Briefpapier zu antworten. Dann fielen ihr Mrs. Heenys eindringliche Worte über Mrs. Fairford ein, und ihre Hand hielt inne. Was, wenn das weiße Papier nun viel neuer war als das rote? Es könnte ja auch grundsätzlich stilvoller sein. Aber was kümmerte es sie, ob Mrs. Fairford das Papier gefiel – ihr jedenfalls gefiel es! Und sie würde doch nicht vor einer Frau zu Kreuze kriechen, die in einem kleinen Haus weit hinter der Park Avenue wohnte...

Undine war von einem wilden Drang nach Unabhängigkeit erfüllt, neigte aber auch heftig zur Nachahmung. Sie wollte alle mit ihrer Eleganz und Originalität verblüffen, eiferte jedoch zwanghaft immer ihren neuesten Bekannten nach, und die so entstehende Verworrenheit ihrer Ideale machte ihr häufig zu schaffen, wenn sie zwischen zwei Richtungen wählen musste. Sie zögerte noch kurz und zog dann ein schlichtes Blatt mit der Adresse des Hotels heraus.

Es machte ihr Spaß, die Antwort unter dem Namen ihrer Mutter zu schreiben – sie kicherte bei dem Satz: »Es ist mir eine Freude, meiner Tochter zu erlauben, bei Ihnen das Abendessen einzunehmen« (dies schien ihr eleganter als Mrs. Fairfords »zu Abend essen«) –, doch als sie zur Unterschrift kam, sah sie sich vor ein neues Problem gestellt. Mrs. Fairford hatte mit »Laura Fairford« unterschrieben – wie ein Schulmädchen in einem Brief an eine Freundin. Aber sollte Mrs. Spragg sich das zum Vorbild nehmen? Undine konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihre Mutter sich vor jemandem erniedrigte, der jenseits der Park Avenue zu Hause war, und entschlossen unterschrieb sie: »Mit freundlichen Grüßen, Mrs. Abner E. Spragg.« Dann wurde sie wieder unsicher, schrieb den Brief noch einmal ab und hielt sich an Mrs. Fairfords Schlussformel: »Mit freundlichen Grüßen, Ihre Leota B. Spragg.« Aber das schien ihr doch eine seltsame Mischung aus Förmlichkeit und Vertraulichkeit zu sein, und sie unternahm einen dritten Versuch: »Herzlich, Ihre Leota B. Spragg.« Dies wiederum kam ihr ein wenig übertrieben vor, hatten sich die Damen doch noch nie gesehen; und nach einigen weiteren Versuchen entschied sie sich für eine Kompromisslösung und Schloss: »Mit freundlichen Grüßen, Mrs. Leota B. Spragg.« Das war zwar sehr konventionell, aber sicherlich korrekt.

Nachdem dieses Problem gelöst war, riss Undine die Tür zum Gang auf, rief herrisch: »Céleste!« und erklärte, als ihr französisches Mädchen erschien: »Ich will alle meine kleinen Abendkleider durchsehen.«

Gemessen an dem Umfang von Miss Spraggs Garderobe war die Zahl ihrer kleinen Abendkleider nicht beeindruckend. Sie hatte sich zwar im letzten Jahr einige nähen lassen, sie aber dann aus Ärger über den Mangel an Gelegenheit, sie anzuziehen, ungeduldig ihrem Mädchen hingeworfen. Seitdem hatten sie und Mrs. Spragg sich wohl dem abstrakten Vergnügen hingegeben, noch zwei oder drei zu kaufen, weil sie einfach zu wunderbar waren und Undine darin einfach zu gut aussah; doch auch diese war sie inzwischen leid – war es leid, sie höhnischen Fragezeichen gleich ungetragen im Schrank hängen zu sehen. Und als Céleste sie jetzt aufs Bett legte, kamen sie ihr grauenhaft gewöhnlich vor und so vertraut, als hätte sie in ihnen Nächte durchgetanzt. Doch sie ließ sich von dem Mädchen überreden und probierte sie noch einmal an.

Die ersten beiden gewannen auch durch längere Betrachtung nicht: sie wirkten bereits völlig altmodisch. »Irgendetwas stimmt nicht mit den Ärmeln«, brummelte Undine, sie beiseite werfend.

Das dritte war zweifellos am schönsten; doch sie hatte es erst auf dem Tanzabend getragen, und es war natürlich vollkommen unmöglich, es in einer Woche zweimal anzuziehen. Dennoch gefiel es ihr, sich darin zu betrachten, denn es erinnerte sie an ihre brillante Unterhaltung mit Claud Walsingham Popple und an das ruhigere, aber fruchtbarere Gespräch mit seinem kleinen Freund – dem jungen Mann, den sie kaum beachtet hatte.

»Du kannst wieder gehen, Céleste, ich komm allein zurecht«, sagte sie. Und als Céleste mit all dem ausrangierten Putz gegangen war, verriegelte Undine die Tür, zog den hohen Spiegel ein Stück vor und ließ sich, nachdem sie eine Schublade nach Fächer und Handschuhen durchwühlt hatte, wie eine eben auf einer Gesellschaft eingetroffene Dame davor auf einem Sessel nieder. Céleste hatte noch die Rollos heruntergelassen und das elektrische Licht eingeschaltet, und das weiß-goldene Zimmer mit den hellen Wandleuchten gab einen hinreichend glanzvollen Hintergrund ab, dass die Illusion sich einstellen konnte. Für alle Zwischentöne und feineren Züge wäre ein so ungemilderter Glanz verheerend gewesen, doch Undines Schönheit war so strahlend und beinahe so grell wie das Licht, das sie überströmte. Ihre schwarzen Brauen, ihr rötlich goldbraunes Haar und das reine Rot und Weiß ihres Gesichts widerstanden dieser durchdringenden, auflösenden Helligkeit: Sie glich einem Fabelwesen, das in einem Lichtstrahl wohnte.

Als Kind hatte sich Undine für die Vergnügungen ihrer Spielkameraden nie richtig begeistern können. Selbst in der ersten Zeit in Apex, als sie mit ihren Eltern noch an dem zerfransten Stadtrand wohnte und immer mit der Klempnerstochter von gegenüber, der sommersprossigen Indiana Frusk, am Zaun stand, machte sie sich wenig aus Puppen oder Springseilen und erst recht nichts aus den wilden Spielen, bei denen Indiana sich wie eine zweite Atalanta lärmend mit den Nachbarsjungen maß. Schon damals war es Undines größtes Vergnügen, sich mit Mutters Sonntagsrock schönzumachen und vor dem Ankleidespiegel feine Dame zu spielen. Die Vorliebe war ihr geblieben, und noch immer spielte sie heimlich diese Pantomime, indem sie hereinschwebte, ihre Röcke glattstrich, mit dem Fächer wedelte, stumm die Lippen bewegte und lachte; doch in letzter Zeit hatte sie alles vermieden, was sie an ihre ungestillten Sehnsüchte erinnerte. Nun konnte sie diese Inszenierung ihrer Schönheit endlich wieder ungetrübt genießen. In wenigen Tagen würde sie das, was sie jetzt spielte, wirklich darstellen; und es machte ihr Spaß, schon einmal zu sehen, wie sie auf Mrs. Fairfords Gäste wirken würde.

Sie plauderte noch eine Weile mit einem imaginären Kreis von Bewunderern, wandte sich hierhin und dorthin, fächelnd, raschelnd, an den Falten ihres Kleides zupfend, wie sie es auch in Wirklichkeit tat, wenn man ihr Beachtung schenkte. Der Grund dafür, dass sie sich andauernd bewegte, war nicht etwa Schüchternheit: Sie meinte, in Gesellschaft müsse man lebendig sein, und sie konnte sich unter Lebendigkeit nichts anderes vorstellen als Unruhe und Lärm. So sah sie sich befriedigt zu, bewunderte den Lichtschimmer auf ihrem Haar, das Aufblitzen der Zähne zwischen den lächelnden Lippen, das Spiel der Schatten auf ihrem Hals und ihren Schultern, während sie die Haltung wechselte. Nur eines empfand sie als beunruhigend: An ihrem Hals und an ihren Hüften deutete sich eine gewisse Fülle an. Sie war zwar groß genug, um etwas Fleisch zu vertragen, doch es war gerade modern, übermäßig schlank zu sein, und ihr schauderte bei dem Gedanken, sie könnte sich eines Tages von der Senkrechten entfernen.

Schließlich hörte sie auf, ihr Spiegelbild anzublinzeln und herumzuzappeln, sank in ihren Sessel zurück und gab sich der Erinnerung hin. Im Nachhinein ärgerte es sie, dass sie den jungen Marvell so wenig beachtet hatte, da er sich nun als viel bedeutender erwies als sein brillanter Freund. Er war ihr an dem Abend ziemlich schüchtern vorgekommen, wie jemand, der nicht sehr an Gesellschaft gewöhnt war; und wenn er auch auf seine stille, schamhafte Art, ein-, zweimal etwas Drolliges gesagt hatte, so fehlte ihm doch Mr. Popples Meisterschaft, seine gebieterische und doch schmeichelhafte Art zu reden. Als Mr. Popple sie mit seinen schwarzen Augen angesehen und eine »künstlerische« Anmerkung zu ihrer Haarfarbe gemacht hatte, war Undine bis ins Innerste erglüht. Sie fand es immer noch unglaublich, dass er nicht vornehmer sein sollte als der junge Marvell: Er schien viel eher in die Welt zu passen, von der sie immer in den Sonntagszeitungen las – die blendende, golddurchwirkte Welt der Van Degens, Driscolls und anderer Vertreter dieses Stands.

Die Stimme ihrer Mutter, die sich im Flur von Mrs. Heeny verabschiedete, riss sie aus ihren Gedanken. Undine wartete, bis die beiden fertig waren. Dann öffnete sie die Tür, packte die überraschte Masseuse und zog sie zu sich herein.

Voller Bewunderung starrte Mrs. Heeny die leuchtende Erscheinung an, in deren Gewalt sie sich befand.

»Donnerwetter! Undine – Sie sehen phantastisch aus! Sie probieren wohl das Kleid für den Abend bei Mrs. Fairford an?«

»Ja – nein – das ist nur ein altes.« Die Augen des Mädchens funkelten unter den schwarzen Brauen. »Bitte, Mrs. Heeny, sagen Sie mir die Wahrheit: Sind es wirklich so vornehme Leute?«

»Wer? Die Fairfords und die Marvells? Wenn Ihnen diese Gesellschaft noch nicht reicht, Undine Spragg, dann müssen Sie wohl an den englischen Hof gehen!«

Undine richtete sich stolz empor. »Ich will eben die beste. Sind sie so vornehm wie die Driscolls und Van Degens?«

Mrs. Heeny lachte verächtlich auf. »Jetzt hören Sie mal zu, Sie ungläubiges Ding! So wahr ich hier stehe, ich hab Mrs. Harmon B. Driscoll aus der Fifth Avenue schon in ihrem rosa Samtbett liegen sehen, in ihren Laken aus Honiton-Spitze, wie sie sich die Augen ausgeheult hat aus Verzweiflung darüber, dass es ihr nicht gelingt, zu einem der Konzerte bei Mrs. Paul Marvell eingeladen zu werden. An eine Einladung zum Essen würde sie nicht mal im Traum denken! Die kann sie sich für all ihr Geld nicht kaufen – und das weiß sie ganz genau!«

Einen Augenblick lang stand Undine mit geöffneten Lippen und leuchtenden Wangen da; dann warf sie der Masseuse ihre samtigen Arme um den Hals.

»O Mrs. Heeny – Sie sind ja so nett zu mir!« hauchte sie ihr durch den alten Schleier ins Ohr; woraufhin Mrs. Heeny, die sich herzlich lachend wieder losmachte und zur Tür ging, meinte: »Immer schön langsam, Undine, dann kriegen Sie alles, was Sie wollen.«

Immer schön langsam! Ja, das war der Rat, den sie brauchte. Manchmal, wenn sie in düstrer Stimmung war, warf sie ihren Eltern vor, dass sie ihn ihr nie gegeben hatten. Sie war doch noch so jung... und sie hatten ihr so wenig gesagt! Wenn sie jetzt zurückdachte, schauderte es sie vor den Gefahren, denen sie manchmal nur knapp entgangen war. Selbst hier in New York hätte sie sich noch ein- oder zweimal fast in ein riskantes Abenteuer eingelassen; und im ersten Winter hatte sie sich tatsächlich mit dem gutaussehenden Reitlehrer aus Österreich verlobt, der sie bei ihren Ausritten im Park begleitete.

Er hatte ihr ganz beiläufig ein Kartenetui mit einer Krone gezeigt und ihr anvertraut, dass er nach einem Duell wegen einer Gräfin aus einem Eliteregiment der Kavallerie hatte ausscheiden müssen; und auf diese vertraulichen Eröffnungen hin hatte sie sich ihm verschrieben und ihm ihren Ring mit den rosa Perlen geschenkt – gegen einen aus gedrehtem Silber, den ihm die Gräfin angeblich auf dem Sterbebett vermacht hatte: unter der Bedingung, dass er ihn nicht mehr ablege, bis er eine noch schönere Frau gefunden habe.

Glücklicherweise war Undine bald darauf Mabel Lipscomb begegnet, die sie, als Mabel Blitch, von einem Pensionat im Mittleren Westen her kannte. Dort hatte Miss Blitch als das einzige Mädchen aus New York eine Sonderstellung eingenommen, und Undine und Indiana Frusk, deren Eltern ihre Tochter für ein Trimester irgendwie auch dort hatten unterbringen können, stritten sich eine Zeitlang heftig um Mabels Gunst. Trotz Indianas skrupellosem Vorgehen und ihrer ziemlich rabiaten Art, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hatte Undine, der Mabel mehr Niveau zusprach, den Kampf schließlich gewonnen; und ihre Mitschülerinnen »alte Zimperliesen« schimpfend, war die geschlagene Indiana für immer vom Schlachtfeld verschwunden.

Inzwischen war Mabel nach New York zurückgekehrt und die Frau eines Börsenmaklers geworden; und Undines gesellschaftliche Aufklärung hatte an dem Tag begonnen, an dem Mrs. Harry Lipscomb ihr begegnet war und sie wieder unter ihre Fittiche genommen hatte.

Harry Lipscomb hatte darauf bestanden, Erkundigungen über ihren Reitlehrer einzuziehen, die erbrachten, dass er in Wirklichkeit Aaronson hieß und beschuldigt, einige Dienstmädchen um ihr Erspartes betrogen zu haben, aus Krakau geflohen war. Im Licht dieser Erkenntnisse hatte Undine zum ersten Mal gesehen, dass er allzu rote Lippen und im Haar Pomade hatte.

Das war eine jener Episoden, vor denen es ihr im Rückblick grauste und die sie in dem Entschluss bestärkten, weniger auf ihre eigenen Regungen zu bauen – besonders wenn es um das Verschenken von Ringen ging. Immerhin hatte sie das Gefühl, in der Zwischenzeit einiges gelernt zu haben, vor allem, seit sie auf Mabel Lipscombs Rat hin ins Stentorian gezogen waren, wo die Dame selbst residierte.

Mabel lag nichts an irgendwelchen Monopolen, und sie führte Undine schnellstens in die Stentorian-Gruppe und deren Tochtergesellschaften ein: einen Kreis, der von »Empfangstagen« lebte, verbunden durch die Mitgliedschaft in zahllosen Klubs, von weltlicher, kultureller oder auch »ernster« Art. Mabel nahm Undine zu den Empfangstagen mit und stellte sie bei den Klubtreffen als »Gast« vor, wo ihr zahlreiche andere Gäste zur Seite standen – »meine Freundin Miss Stager aus Phalanx in Georgia« oder schlicht (wenn die Dame schriftstellerisch tätig war): »Meine Freundin Ora Prance Chettle aus Nebraska – ich denke, dass Ihnen der Name etwas sagt.«

Zum Teil fanden die Versammlungen in jenen stolzen Hotels statt, die wie eine Flotte von Schlachtschiffen mit klangvollen Namen an den oberen Ufern der West Side lagen: im Olympian, im Incandescent, im Ormolu; andere dagegen, vielleicht die exklusiveren, hielt man in den ebenso stolzen, aber romantischer wirkenden Apartmenthäusern ab: im Parthenon, im Lido oder im Tintern Abbey. Undine bevorzugte die weltlicheren Treffen mit Wettspielen, von denen sie mit Rauschsilber beladen heimkam; natürlich war sie auch gebührend beeindruckt von den Diskussionsvereinen, wo berühmte Damen der Stadt von einem behelfsmäßigen Podium herab zu den Anwesenden sprachen oder man über Themen von so bleibendem Interesse wie »Was ist Charme?« oder »Der Problem-Roman« debattierte – anschließend gab es dann rosa Limonade und bunt belegte Brote, während man sich angeregt über den »ethischen Aspekt« der Frage unterhielt.

Für Undine war das alles neu und interessant, und anfangs beneidete sie Mabel darum, sich in diesen Kreisen einen Platz erkämpft zu haben. Doch schon bald fing sie an, Mabel dafür zu verachten, dass sie sich damit zufriedengab. Denn Undine hatte schnell gemerkt, dass die Aufnahme in Mabels »Clique« sie der Fifth Avenue kein bisschen näher brachte. Schon in Apex hatten die großen Taten und Gesten der Fifth Avenue Undines zarte Phantasie genährt. Sie kannte die Namen sämtlicher Mitglieder der goldenen New Yorker Aristokratie, und die Gesichtszüge ihrer berühmtesten Abkömmlinge waren ihr von ihrem eifrigen Studium der Tagespresse her vertraut. In Mabels Welt suchte sie vergeblich nach den Originalen, und nur dann und wann tauchte darin die aufregende Gestalt einer ihrer Getreuen auf: so etwa, als Claud Walsingham Popple eine Dame porträtierte, die nach Auskunft der Lipscombs »die Frau eines Stahlmagneten« war, und er sich pflichtgemäß einmal bei seiner Kundin zum Tee einfand, wo Mabel dann die Ehre hatte, ihn kennenzulernen, und ihre Freundin Miss Spragg erwähnte.

So zeigten sich Undines aufmerksamen Augen ungeahnte Feinheiten in der gesellschaftlichen Hierarchie; doch sie fürchtete schon, diese traurige Erkenntnis ganz umsonst gewonnen zu haben, als das Erscheinen Mr. Popples und seines Freunds bei dem Fest im Hotel ihr wieder Hoffnung gab. Sie hatte geglaubt, genug gelernt zu haben, um gegen einen weiteren Fehlgriff wie mit Aaronson gefeit zu sein; doch nun sah sie, welchem Irrtum sie erlegen war, als sie Claud Walsingham Popple so viel Beachtung geschenkt und seinen bescheideneren Freund fast übergangen hatte. Es war alles sehr verwirrend, und die Geschichte von der Verzweiflung der großen Mrs. Harmon B. Driscoll machte sie nur noch konfuser.

Bisher war Undine davon ausgegangen, dass die Klans der Driscolls und Van Degens und ihre Verbündeten die unbestrittene Oberherrschaft über die New Yorker Gesellschaft hätten. Auch Mabel Lipscomb glaubte das und rühmte sich gern der Bekanntschaft einer gewissen Mrs. Spoff, die nur eine Cousine zweiten Grades von Mrs. Harmon B. Driscoll war. Und nun sollte sie, Undine Spragg aus Apex, Einlass finden in einen engen Kreis, den zu erobern den Driscolls und Van Degens nicht gelungen war! Das reichte aus, es ihr doch etwas schwindlig werden zu lassen und sie in jenen Zustand allzu hohen Selbstvertrauens zu versetzen, in dem sie ihre größten Dummheiten begangen hatte.

Sie stand auf, stellte sich dicht vor den Spiegel und besah sich ihre strahlenden Augen und ihre glühenden Wangen. Diesmal brauchte sie keine Angst zu haben: mit den Fehlern und Dummheiten war es vorbei! Sie würde endlich die richtigen Leute kennenlernen – würde endlich bekommen, was sie wollte!

Während sie noch dastand und ihr glückliches Spiegelbild anlächelte, hörte sie aus dem Nebenzimmer die Stimme ihres Vaters; rasch zerrte sie sich das Kleid vom Leib, streifte die langen Handschuhe ab und nahm die Nadel mit der Rose aus dem Haar. Dann schob sie den hinabgesunkenen Putz beiseite, schlüpfte in einen Morgenrock und öffnete die Tür zum Salon.

Mr. Spragg stand vor ihrer Mutter, die mit hängenden Schultern dasaß, den Kopf auf der Brust wie bei ihren »Anfällen«. Er sah sich aufgeschreckt um, als Undine eintrat.

»Vater – hat Mutter es dir schon erzählt? Mrs. Fairford hat mich zum Abendessen eingeladen. Das ist die Tochter von Mrs. Paul Marvell – Mrs. Marvell ist eine geborene Dagonet –, und sie sind vornehmer als alle anderen. Sie laden nicht einmal die Driscolls und Van Degens ein!«

Mr. Spragg musterte sie schmunzelnd, voller Zuneigung.

»Ach ja? Und warum laden sie dann gerade dich ein?«

»Keine Ahnung – vielleicht denken sie, ich würde sie dann mit dir bekannt machen!« neckte sie ihn im gleichen Ton, wobei sie ihm die Arme um den gebeugten Rücken schlang und ihr glänzendes Haar an seine Wange presste.

»Und? Nimmst du mich mit? Hast du schon angenommen?« scherzte er, von ihr umklammert, weiter, während Mrs. Spragg sich hinter ihnen leise stöhnend rührte.

Undine warf den Kopf zurück und blickte ihn intensiv an, ihn so fest an sich drückend, dass ihr Gesicht vor seinen müden, alten Augen zu einem hellen Fleck verschwamm.

»Ich möchte furchtbar gern«, erklärte sie, »aber ich hab absolut nichts zum Anziehen.«

Hierauf gab Mrs. Spragg ein deutlicheres Stöhnen von sich. »Undine, nach den letzten Rechnungen würde ich Vater nicht um noch mehr Kleider bitten.«

»Von ›nach‹ kann keine Rede sein – sie sind noch alle da«, warf Mr. Spragg ein, wobei er die Hände hob, um die schlanken Handgelenke seiner Tochter zu umspannen.

»Tja dann – wenn du willst, dass ich aussehe wie eine Vogelscheuche und man mich nie mehr einlädt – dafür hab ich genau das Richtige«, drohte Undine in halb scherzhaftem, halb ärgerlichem Ton.

Mr. Spragg hielt sie mit ausgestreckten Armen von sich weg, und in den Falten um seine Augen zeigte sich ein Lächeln.