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Scherben vor Gericht image Reihe: 21

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Erste Auflage 2014

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main, 2014

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-942223-70-6

eISBN: 978-3-942223-71-3

Edit Engelmann

Scherben vor Gericht

Albtraum eines Premierministers

Novelle

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IMPRESSUM

Scherben vor Gericht

Reihe: 21

Autorin

Edit Engelmann

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia und Lucida Calligraphy

Covergestaltung

www.harries-artdirection.de

Coverbild

Thorsten Harries: ›Scherben‹

Lektorat

Alexandra von Streit

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Februar 2014

ISBN: 978-3-942223-70-6

eISBN: 978-3-942223-71-3

Für die Menschen – nicht für die Märkte

Inhalt

VORSPIEL

SCHERBEN VOR GERICHT

BIOGRAPHISCHES

VORSPIEL

Es war am späten Nachmittag, kurz nach Büroschluss am Vorabend des Nationalfeiertages, als es mehrmals hintereinander an die teakfarbene Tür klopfte.

»Herein!«, rief der Premierminister in der Annahme, seine Sekretärin wolle ihm einen Kaffee und die Unterschriftenmappe bringen.

Er schaute erst auf, als das Klacken auf dem teuren Parkettboden nicht die trippelnden Stöckelschuhe aus dem Vorzimmer verriet, sondern deutlich schwerere Schritte auf die hölzernen Bohlen knallten.

Verblüfft blickte er den Eindringling an, der im Stechschritt auf ihn zu marschierte. Zwischen den stampfenden Schritten schliffen die Schuhe über den Boden. Kurzfristig verschluckte der kostbare Perserteppich vor seinem Schreibtisch die Geräusche des Paradierenden. Der Besucher trug eine Art Uniform. Nichts Modernes. Mehr so etwas aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Goldlitzen prangten überall, ein Schwert baumelte am Bein herunter, und ein Raupenhelm mit rotem Büschel thronte über dem ernsten Gesicht.

»Wie sind Sie hier hereingekommen?«, herrschte der Premierminister den Gardeoffizier an. Insgeheim wunderte er sich. Was war das für ein Soldat? Wieso kam der zu ihm? Wieso konnte der überhaupt bis zu ihm vordringen? Und wo war seine Sekretärin? Wo das Sicherheitspersonal? Sie hätten niemals jemanden ohne Ankündigung und Überprüfung vorlassen dürfen.

Der Soldat sagte kein Wort, sondern näherte sich mit langsamen, fast mathematisch präzise anmutenden Paradeschritten dem Schreibtisch.

Mit einem doppelt knallenden Hab-Acht-Schritt blieb er stehen und hielt dem Premierminister mit ausgestrecktem Arm einen weißen Umschlag entgegen. Noch immer sagte er kein Wort, sondern präsentierte das Kuvert mit ausdruckslosem Gesicht. Sein Blick ging über den Premierminister hinweg und richtete sich auf die Fahne, die direkt hinter dessen Schreibtischstuhl angab, welchem Staat dieser vorstand. Genauer gesagt, er musste wohl Premierminister von zwei Staaten sein, denn zwischen den deckenhohen dunklen Regalen mit den teuren ledergebundenen Büchern standen zwei unterschiedliche Fahnen.

Den Premierminister durchfuhr ein Schauer. Er hatte das Gefühl, es wäre kälter geworden, seit der Soldat hereingekommen war. Er wollte aufspringen, um ihn für seine Unverfrorenheit zurechtzuweisen. Aber er konnte es nicht. Die stumme Gegenwart des anderen hielt ihn auf seinem Sessel fest. Wortlos nahm er das Kuvert entgegen und hörte seine eigene Stimme einen Dank murmeln, den er im nächsten Moment schon als höchst überflüssig empfand.

Mit ruckhaften Bewegungen und Schritten drehte sich der Soldat um. Er verließ genauso rhythmisch-langsam den Raum, wie er ihn betreten hatte.

Erst als sich die Tür hinter dem merkwürdigen Boten geschlossen hatte, konnte der Premier wieder Atem holen. Was er mit einem ziemlich tiefen Zug tat, um dann erleichtert seufzend die Luft auszustoßen.

Mit einem Satz sprang er auf. In Windeseile zog er seine schusssichere Bleiweste an. Seit er Premierminister geworden war, trug er sie als wichtigstes Kleidungsrequisit fast ständig am Leib. Seine Frau lachte zwar darüber, aber jemand in seiner Position hatte so etwas nötig. Noch schnell das Sakko darüber, damit niemand seiner Vorsichtsmaßnahme gewahr werden konnte; dann rauschte er ins Vorzimmer, wo ihn eine Dame im klassisch schwarzen, knieumspielenden Rock mit hellblauer Bluse, Hochsteckfrisur und den typischen Büro-Fünfzentimeter-Absatz-Schuhen entnervt anblickte. Mit einem Ruck schlug sie den Aktenordner zu. Was wollte er denn jetzt schon wieder?

»Wieso haben Sie ihn unangekündigt hereingelassen? Wo kam der Gardist überhaupt her?«, rüffelte er sie an.

Unbeherrscht bis zur Unfreundlichkeit, ging es ihr durch den Kopf. So war er. Die freundliche, verbindlich-diplomatische Art und das immer wohlwollende Lächeln hob er sich für die besonderen Gelegenheiten auf; beispielsweise wenn er andere Staatsoberhäupter begrüßte oder irgendetwas auf ihn gerichtet war, das nach einem Mikrofon oder einer Kamera aussah. Ansonsten war er das, was man einen Radfahrer nannte: nach oben buckeln, nach unten treten. Eben ein typischer Opportunist - denn wie man das Beste aus jeder Situation für sich selbst herausschlagen konnte, wusste er genau, egal, ob das Beste in münzklingender Form war oder andere Annehmlichkeiten beinhaltete. Sie seufzte innerlich. Leider konnte man sich seinen Chef nicht immer aussuchen; schon gar nicht in den Vorzimmern von Premierministern, die neuerdings so schnell wechselten, dass sie ihre eigenen Sekretärinnen gar nicht nachholen konnten.

»Wen bitte hereingelassen?«, fragte sie in aller Ruhe. Professionell vom Scheitel bis zur Sohle nahm sie ihre schwarze, großrandige Brille von der Nase und legte sie sorgsam auf ihrem Busen ab, wo sie an einem Band hängen blieb. »Ich habe niemanden hereingelassen.«

»Wo kam der Gardist denn sonst her?«, versetzte er übellaunig. »Jeder, der zu mir hereinkommt, muss doch an Ihnen vorbei.«

»An mir ist niemand vorbei gekommen«, antwortete die Dame indigniert. »An mir kommt auch nicht jemand so einfach vorbei. Und hier ist in der letzten Stunde niemand vorbeigekommen, erst recht nicht jemand, der wie ein Gardist aussah.«

»Ach, lassen Sie«, winkte er barsch ab, wandte sich um und preschte mit hastigen Schritten hinaus auf den Gang, wo zwei Wachen rechts und links der Tür Haltung annahmen.

»Wer war der Soldat?«, fragte er mit schneidender Stimme den rechten Gardisten. Dieser schaute ihn aus großen Augen an. Er hatte kein Wort verstanden. Er war erst seit zwei Monaten im Land. In dieser Zeit hatte er täglich acht Stunden vor der Bürotür verbracht und zwölf Stunden schlafend oder zurückgezogen in einem kleinen Hotelzimmer, was sein Arbeitgeber für ihn angemietet hatte. Sich umsehen, die Stadt besuchen, Sprache lernen, versuchen, Freunde zu finden - das war nichts für seinesgleichen. Privates Sicherheitspersonal, noch dazu im Auslandseinsatz, verweilte nicht so lange im Einsatzgebiet, dass sich solche Erkundungen lohnten. Obendrein waren die Söldner höchst unbeliebt bei der Bevölkerung, die daraus kein Hehl machte, sobald sie einen solchen erkannte. Da blieb er lieber im Hotel und verbrachte die wenigen freien Stunden mit PC-Spielen. ›War and Terror‹. Das Spiel seines Lebens. Im realen wie im virtuellen Dasein.

»Wo kam dieser Soldat her?«, wiederholte der Premierminister seine Frage jetzt in der Sprache des ausländischen Leibwächters. Aber dieser wusste von nichts. Schneidig kam die Antwort: »Sir, welcher Soldat, Sir?«

»Der Gardist, der Soldat, der Mann in Uniform, der gerade eben bei mir im Büro war? Wo kam der her? Der muss sich doch bei euch ausgewiesen haben«, verlangte der Premierminister zu wissen; er wurde immer ungeduldiger.

»Sir, hier ist niemand gewesen, Sir!«, antwortete der andere Leibwächter und salutierte ebenfalls.

Gehirnamputierte!, dachte der Premierminister, dem inzwischen die Ader an der Schläfe schwoll. Aber was sollte man von privaten Sicherheitsleuten schon anderes erwarten – Leuten, die auf lediglich zwei Verwendungszwecke hin gedrillt waren: Kanonenfutter oder Schutzweste. Je nachdem, wie es dem Auftraggeber besser ins Tagesgeschäft passte. Bei so einem Job war selbstständiges Denken nicht nur hinderlich, sondern gänzlich unerwünscht und wurde durch entsprechendes Schleifen rechtzeitig abgeschaltet.

Schließlich suchte sich der Premierminister die ihm plausibelste Antwort selbst, so wie er auch sonst fernab der Realität das Geschehen der Welt seinem inneren Bild anpasste. Morgen war Nationalfeiertag. Wird wohl einer gewesen sein, der dafür geprobt hatte. Schließlich würden am morgigen Tag alle möglichen Bataillone aufmarschieren, teilweise in historischen Uniformen.

Alles Nichtsnutze, schoss es ihm durch den Kopf, bevor er stürmischen Schrittes in sein Büro zurückmarschierte. Wozu hatte man Personal, wenn keiner von ihnen seinen Aufgaben nachkam? Kein Wunder, dass sie derzeit zu Tausenden entlassen wurden.

Mit Wucht schlug er die Teakholztür hinter sich zu und ließ sich wieder in seinen Designersessel fallen. Dieser - sowie der antike Schreibtisch - gehörten zur neuen Einrichtung, die er direkt nach Übernahme des Amtes angeschafft hatte, für mehrere Hunderttausend, seiner Stellung entsprechend. Schließlich repräsentierte er jemanden. Also sich. Und das ging nicht in den Möbeln eines Vorgängers, die immerhin schon etwas mehr als ein Jahr alt waren. Man hatte diese kurzerhand als Hausmüll entsorgt.

Nervös drehte er den Umschlag in den Händen. Was wohl darin war? Er fühlte nichts. Nur ein Stück Papier. Das Kuvert war noch nicht einmal zugeklebt. Wenn er es seiner Sekretärin gab, um es auf verdächtige Spuren untersuchen zu lassen, lachte sie ihn wahrscheinlich aus - einen offenen Umschlag! Jeder konnte hineinsehen. Vielleicht wäre es ja auch gar nicht bekömmlich für seinen untadeligen Ruf, wenn jemand anderes den Inhalt las. Warum sonst sollte das Kuvert ihm persönlich auf so spektakuläre Art übergeben worden sein? Besonders in der heutigen Zeit, wo die unkontrollierte Bande freier Internet-Journalisten sich auf alles stürzte, war es sicher besser, vertrauliche Meldungen bei sich zu behalten. Diese Aasgeier hatten schon so einige seiner Freunde wegen derer Privilegien angeprangert – nichts, was nicht jeder machen würde, der in seinen Kreisen verkehrte. Aber eben doch dumm, wenn es herauskam.