Über Isabella Straub

Isabella Straub, geboren in Wien, lebt in Klagenfurt am Wörthersee. Studium der Germanistik und Philosophie, danach Werbetexterin. Der Roman »Südbalkon« (2013) war auf der Shortlist des Bremer Literaturförderpreises, des Franz-Tumler-Preises und gewann den Debütpreis der Erfurter Herbstlese. Zuletzt erschien von ihr»Das Fest des Windrads«.

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Wie weit würdest du gehen, um dich zu retten?

Philipp Kuhn schluckt Refluxtabletten und verkauft Sicherheitstüren. Er ist nicht unzufrieden, aber glücklich ist er auch nicht. Bis er überraschend die Chance bekommt auf das richtige Leben. Es heißt Myriam. Und Kuhn macht ernst, opfert alles. Die Frau, den Job, alle Sicherheiten. Doch es kommt anders. Myriam verschwindet im Gewühl der Stadt. Und je länger die Suche andauert, desto weiter scheint Kuhn sich zu entfernen, nicht nur von Myriam, auch von sich selbst. Wer hier schlief ist eine moderne Odyssee, bei der Kuhn alles aufs Spiel setzen muss: seine Liebe, seine Gesundheit, seine Existenz.

Kuhn sucht Myriam in der ganzen Stadt. Am Pirandelloplatz, ihrem Treffpunkt, verpasst er sie nur knapp, dann wird sie von einer Demo verschluckt. An ihrem Arbeitsplatz im Hotel ist sie nicht zu finden. In ihrer Wohnung wohnt gar eine andere Frau. Während er versucht herauszubekommen, was mit ihr passiert ist, lebt er auf der Straße, übernachtet im Fitnessstudio. Sein Magen wird von Krämpfen geplagt, sein Geld geht zur Neige, die ganze Stadt ist ein Alptraum. Doch er entdeckt auch etwas Neues: ein Gespür für das Leben. Wer hier schlief erzählt davon, was man gewinnt, wenn man alles verliert.

»Man überschlägt sich mit Adjektiven wie eloquent, leichtfüßig, originell, grotesk, anspruchsvoll, empfehlenswert oder bereichernd.« Sabine Oppolzer, ORF

»Voller Erfindungsgabe und einer emotionalen Kraft, die den Witz nicht aufhebt, sondern scharf beleuchtet.« Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung

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Wer hier schlief

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Kapitel 1

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Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

2 Fischen im Milchozean

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

3 Still alive

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Danksagung

Impressum

There’s so much to be learned about pain.

Norman Rupert Barrett, Chirurg

1
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1

Philipp Kuhn setzte einen Fuß vor den anderen. Es war so einfach zu gehen, wovor hatte er sich gefürchtet? Die Gropiusgasse entlang bis zur Kübler-Ross-Straße, dann durch das Machiavelli-Tor in den Naumannpark.

Die Luft war zu warm für Ende September. Ein Pärchen lag auf der Wiese, das Mädchen hatte seinen Kopf auf den Bauch des Jungen gelegt. Ihre Körper bildeten ein perfektes T.

Um einen Teich waren Bänke in U-Form arrangiert. Eine Frau zerbröselte Kuchen, um ihn an die Vögel zu verfüttern. Sie warf die Brösel in die Luft und gurrte wie eine Taube. Als Kuhn an ihr vorbeiging, hob sie den Blick, sah aber nicht ihn an, sondern das Bild, das er mit sich trug. Es war ein gerahmter Kunstdruck und zeigte einen Männerkopf mit blendend weißem Turban, makellos, als sei er aus Porzellan.

Am Teich gab es einen Kiosk. Kuhn kaufte Limonade. Trank im Stehen, das Bild stellte er auf einen Stuhl. Der Verkäufer stapelte Magazine auf dem Tresen. Das Radio lief. Und wenn ich sterb, ich sterb für dich. Und wenn ich wein, ich wein um dich. Der Verkäufer pfiff die Melodie mit.

Kuhn war der einzige Gast. Die Limonade war eiskalt, sein Magen krampfte. Er kramte in seinen Hosentaschen, bis er den Blister fand, drückte das letzte Digestopax heraus und schluckte es mit Limonade hinunter. Die vergangenen Tage war er nachlässig gewesen. Hatte unregelmäßig gegessen, die Tabletten nur genommen, wenn er daran gedacht hatte, und er hatte selten daran gedacht.

»Der schaut aber streng«, sagte der Verkäufer und deutete auf das Bild. »Sind Sie das?«

Kuhn schüttelte den Kopf. Der Mann auf dem Bild war viel älter als er. Zehn, fünfzehn Jahre, mindestens.

»Das ist Adam«, sagte er.

Der Maler hatte sich über Jahrzehnte selbst gemalt, und sein Adam war mit ihm gealtert. Auf diesem Bild war das Gesicht zerfurcht, die Haut gelblich-grau, die Wangen eingefallen, wulstige Lippen über dem vorspringenden Kinn. Er wirkte ausgezehrt, sein Blick aber war selbstbewusst, beinahe arrogant.

»Der mit Eva und dem Apfel?«, fragte der Verkäufer.

»Ein anderer«, sagte Kuhn.

»Dann kenn ich ihn nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte er. Wer konnte schon behaupten, einen anderen zu kennen, selbst wenn er ihn täglich sah. Die Taubenfrau gurrte, als Kuhn nach dem Bild griff und ging.

Vera hatte Adam nie leiden können. Sie verbannte ihn ins Kinderzimmer, in dem niemals ein Kind schlafen würde. Ein Zimmer, das sie kaum je betraten. Als er sie fragte, ob ihr das Bild nicht gefiel, sagte sie, dass sie sich vor Adams Blick fürchte. Sie war eine miserable Lügnerin.

Das Bild war der erste Gegenstand, den Kuhn in Veras Villa mitgebracht hatte, und nun war es das letzte, was er von dort mitnahm. Viel war es ohnehin nicht gewesen. Sein Ehrgeiz als Mann und Liebhaber bestand darin, keine Lasten anzuhäufen. Keine Kinder, kein gemeinsames Eigentum, keine Verpflichtungen.

Abgesehen davon war das Bild das Einzige, was er noch besaß, wenn man die beiden Kisten abzog, die er bereits in der Vorwoche aus der Villa geschmuggelt und bei Myriam untergebracht hatte: zwei Kartons mit Kleidern und Papieren, ganz zuunterst die Tabletten gegen den Reflux und die Sparbücher mit dem Überbrückungsgeld.

Allmählich ging die Villengegend in eine Mietshauslandschaft über. Das Grün vor den Häusern wurde struppiger, die Autos schäbiger, das Klingeln der Straßenbahnen klang aggressiver. Auf den Dächern drängten sich Satellitenschüsseln aneinander. In den Thujahecken nisteten Gespinstmotten.

Vor der Dominikanerinnenkirche saß ein Bettler auf einer Decke. Auf einem Karton stand: FÜR LOTTO. Die Leute lachten, wenn sie vorbeigingen, einige warfen Münzen in den Pappbecher. Eine junge Touristin ließ sich mit dem Bettler fotografieren. Er legte seinen Arm um sie und strahlte, als hätte er schon gewonnen.

Auch Kuhn fühlte sich wie ein Gewinner. Hätte man ihn in diesem Moment gefragt, ob er glücklich sei, hätte er geantwortet: Noch nie war ich so erleichtert. Es war nicht zum Eklat gekommen. Er hatte damit gerechnet, dass Vera weinen würde. Ein verhaltenes Schluchzen wenigstens, die zitternde Hand auf den Mund gepresst, zerronnene Schminke, sowas in der Art. Er hatte befürchtet, dass sie versuchen würde, ihn zu schlagen, er wäre auf alles vorbereitet gewesen, hätte ihr Handgelenk gepackt, ihren flatternden Puls unter seinen Fingern. Vera. Bitte.

Aber sie hatte nur die Lippen aufeinandergepresst, und an ihrem Hals war eine bläuliche Ader hervorgetreten, die ihm zuvor nicht aufgefallen war. Er hatte sie nicht angelogen, aber er hatte die Wahrheit vorsichtig dosiert. Und Myriam nicht erwähnt, kein Wort von Myriam. Nicht eine Silbe.

Als Kuhn die Apotheke ZUM HEILIGEN NEPOMUK betrat, klingelte ein Glöckchen. Es war eine auf alt getrimmte Apotheke mit Schränken aus dunklem Holz, die unzählige winzige Schubladen enthielten. Mit einer Großpackung Digestopax würde er eine Weile auskommen.

»Ihre Verschreibung, bitte«, sagte die Apothekerin.

»Einen Moment.« Er griff in die Hosentaschen und legte alles auf den Tresen, Taschentuch, Fahrschein, FLOW-Mitgliedskarte. Die Apothekerin wartete geduldig. Er holte die Geldbörse hervor und faltete einen Zettel nach dem anderen auf. Alles Kassenbons und Restaurantbelege.

»Ich könnte schwören – «

»Wir benötigen eine aktuelle Verschreibung. Wir machen keine Ausnahme.«

»Hören Sie, ich muss – also, es geht mir schlecht, wenn ich … Das müssen Sie mir einfach glauben.«

Er wusste nicht, wie er ihr begreiflich machen sollte, dass er ohne Tabletten den Tag nicht überstehen würde.

»Gehen Sie zum Arzt und kommen Sie dann mit der Verschreibung wieder«, schlug sie vor.

Als ob das so einfach wäre. Er wusste nicht einmal, ob er noch versichert war.

Die Apothekerin griff in die Vitrine und legte eine Auswahl an Tees vor ihm auf den Tisch. Die Tees hießen Magenwohl, InnerPeace und Bauchgefühl. Sie strich über die Verpackung. »Wertvolle Kräuter, schonend getrocknet, sorgfältig verarbeitet, Apothekenqualität«, sagte sie. Es klang wie auswendig gelernt. »Diesen hier«, sagte sie und hielt Bauchgefühl hoch, »trinke ich selbst, und sehen Sie mich an!«

Er sah sie an, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Als er die Tür öffnete, um auf die Straße zu treten, blieb das Glöckchen stumm.

Am Perec-Platz fand ein Hausflohmarkt statt. Auf dem Gehsteig standen eine zerschlissene Couch, eine Stehlampe, ein Bettgestell, dessen Ecke gefährlich weit in die Fahrbahn hineinragte, und ein grüner Fauteuil. Auf dem Boden lagen Kisten mit staubigen Büchern. Wenn sie keine Wände mehr um sich hatten, sahen Möbel fremd aus, dachte Kuhn.

Er setzte sich in den Fauteuil, lehnte Adam gegen das Bettgestell, holte das Handy heraus. Um die Tabletten würde er sich später kümmern. Er rief Myriam an.

Besetzt.

Wahrscheinlich versuchte sie ebenfalls, ihn zu erreichen, es wäre nicht die erste Gleichzeitigkeit.

Er schrieb eine Nachricht: Geschafft. Alles gut gegangen. Freu mich unendich auf dich.

Dass das »l« fehlte, fiel ihm erst auf, als es zu spät war. Als sie nach einer Minute nicht antwortete, fürchtete er, der Fehler hätte sie irritiert, doch er schickte keine zweite Nachricht, aus Angst, sie noch mehr zu verwirren.

Eine Frau trat an ihn heran. Er unterdrückte den Impuls aufzuspringen.

»Eine Okkasion«, sagte sie und blickte auf ihn herab. Sie trug ein Sommerkleid, das um ihren Körper flatterte. Sie war sehr dünn, über dem knochigen Schlüsselbein spannte die Haut.

»Für zehn Euro gehört er Ihnen.«

Kuhn strich mit der Hand über die Armlehne.

»Cord«, sagte sie. »Wieder sehr aktuell.«

»Sie ziehen um«, sagte er, mehr Feststellung als Frage.

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Tante sei gestorben, sie müsse die Wohnung ausräumen. Der Sanierungstrupp sei schon im Anmarsch, noch bevor die Tante im Sarg lag. Die Hausverwaltung sei berüchtigt für ihre Taktlosigkeit.

Die Augen der Frau waren verschattet, und Kuhn erhob sich rasch, der Sessel fühlte sich mit einem Mal bedrohlich an. Alles hier schien mit dem Tod infiziert.

»Ich überlege es mir«, sagte er.

»Aber nicht zu lange, er ist sehr begehrt«, sagte die Frau, so als versteckten sich zwischen den ausgesetzten Möbeln noch weitere Interessenten.

Unendlich, dachte Kuhn, bedeutete ohne Ende, und wenn etwas kein Ende hatte, dann hatte es auch keinen Anfang, dann war es immer schon gewesen, und während er durch die Nussbaumstraße ging, fragte er sich, ob er sich nicht schon sein ganzes Leben nach Myriam gesehnt hatte. Ob das, was er ohne nachzudenken ins Handy getippt hatte, das Einzige war, das in seinem Leben je etwas bedeuten würde. Ob er möglicherweise auf diesen Moment hingelebt hatte, taub und blind. Ob sie verstanden hatte, was er meinte, und es keiner Worte mehr bedurfte. Ob sie deshalb nicht antwortete.

In der Ferne sah er den Unterstand der Straßenbahnhaltestelle. Am Pirandellosteg würde er Myriam treffen. Fünf Stationen, dann wäre er bei ihr. Gedankenverloren würde sie aus der U-Bahn-Station ans Tageslicht treten, die rechte Hand am Trageriemen ihrer Tasche, wie es ihre Art war. Er wäre im Vorteil, er würde sie zuerst sehen. Ihr entgegenlaufen. Sie stumm umarmen. Und ihr dann das Bild übergeben. Wenn es stimmte, dass er Adam ähnlich sah, schenkte er nicht weniger als sich selbst.

An der Straßenbahnhaltestelle kämpften zwei Tauben um die Hälfte eines Croissants. Erst jetzt, als er die Auseinandersetzung der Tauben beobachtete, bemerkte er, dass seine Hände leer waren. Das Bild. Er hatte es in der Freiluftwohnung vergessen.

Kuhn war kein guter Läufer, aber jetzt rannte er. Die Straße führte bergauf. Endlich erreichte er den Perec-Platz. Stiche in der Brust, er war außer Atem. Kuhn sah sich um. Hier musste es doch gewesen sein! Die blaugraue Fassade, die grünen Fensterläden. Das Schild TANZSCHULE RIFFL. Nicht ein Möbelstück mehr auf der Straße.

Die Haustür stand offen. Er betrat den Flur, der kühl war und nach feuchten Mauern roch.

»Hallo?«

Die Wohnungstür im Erdgeschoss war angelehnt. Er stieß sie auf.

»Hallo«, rief er noch einmal.

Die dünne Frau trat aus einem Zimmer und trocknete ihre Hände am Kleid ab, als sie ihn sah. Irgendwo lief Wasser in ein Becken. Die Wände waren mit Rosenmuster tapeziert.

»Ach, Sie sind es«, sagte sie. »Möchten Sie den Fauteuil mitnehmen?«

»Ich habe Adam vergessen«, sagte er und erwartete, dass sie ratlos den Kopf schütteln würde. Aber sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. Sie betraten einen Raum, der als Möbellager diente.

»Er war in guter Gesellschaft«, sagte die Frau.

Adam lehnte an der Wand. Daneben eine gerahmte SchwarzWeiß-Fotografie, die eine junge Frau mit wachsfarbener Haut in Hut und Kostüm zeigte, die zwischen den Fingern eine Zigarettenspitze hielt.

»Tante Agnes«, sagte die Frau. »Sie hat sich um Ihren Adam gekümmert. Sein Turban hätte ihr gefallen.« Sie lachte, dabei hellte sich ihr Gesicht auf. »Sie hatte etwas übrig für exotische Männer.«

»Ihre Tante hätte Adam auch gefallen, eine elegante Frau«, sagte Kuhn und kam sich ein wenig lächerlich vor, als versuchte er, die Nichte zu loben, indem er der toten Tante Komplimente machte.

Und dann erzählte die Frau, dass ihre Tante nach Madagaskar ausgewandert war und dort als Übersetzerin gearbeitet hatte, ein echtes Sprachentalent. Viel später erst habe sie erfahren, dass die Tante Affären mit einigen Ministern gehabt hatte, einer nahm sich sogar ihretwegen das Leben.

Als Kind, sagte die Frau, habe sie immer Angst gehabt um ihre Tante. Madagaskar war doch sicher ein gefährlicher Ort. »Als sie endlich wieder zu uns zog, war ich erleichtert. Und dann starb sie erst recht.«

Einen Moment lang standen sie beide still vor den Bildern. Ein merkwürdiger Moment, Kuhn wusste nicht, ob er die Bilder betrachtete oder sie ihn.

Als Kuhn wenig später mit Adam unter dem Arm wieder die Straßenbahnhaltestelle erreichte, waren Krümel und Tauben verschwunden und der Asphalt so makellos sauber, als hätte nie jemand ein Croissant fallen lassen.

2

Vor dem Unterstand der Straßenbahnhaltestelle wartete ein Kind, das an der Hand seiner Mutter befestigt war. Es sagte: »Der Massa mit der Kassa« und immer wieder »der Massa mit der Kassa, der Massa mit der Kassa«, dabei stach es mit den Fingern der freien Hand Löcher in die Luft. Die Mutter schaute zur Seite, so, wie Hundebesitzer wegsehen, wenn ihr Hund einen Haufen in den Kurpark setzt.

»Afrika, Afrika«, sagte das Kind und sah Kuhn direkt in die Augen. Er lächelte und registrierte mit Erstaunen seine milde Stimmung. Das Kind hatte einen enormen Kopf und einen kleinen, viel zu schmalen Mund, einen Greisenmund.

Die Mutter stieg mit dem Buben in die Linie 36. Als das Kind bereits auf den Stufen der Straßenbahn stand, zeigte es auf Adam und sagte etwas zu seiner Mutter, die ebenfalls hersah. Er hatte das Gefühl, als litte Adam unter den fremden Blicken. Er drehte das Bild um.

Kuhn beobachtete einen jungen Mann, der einen kalbsgroßen Hund an der Leine führte, der nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen schien. Der Hund interessierte sich für ein wollenes Ding, das im Rinnstein lag. Er drängte vorwärts, schnupperte an dem haarigen Büschel, dann grub er seine Zähne hinein und schleuderte es empor. Das Haarbüschel hatte Augen und einen Mund. Der junge Mann riss an der Leine. Kuhn wollte nicht hinsehen, aber er konnte den Blick nicht abwenden.

Entgegen der Ankündigung auf der Anzeigetafel kam die 38 nicht. Kuhn hatte es satt zu warten. Er ging vor zur Kreuzung und hielt ein Taxi an. Er stieg in einen cremefarbenen Mercedes. Die Lederbank war weich und federte unter seinem Gewicht. Er stellte Adam auf die Rückbank. Es roch nach Nadelwald. Im Getränkehalter stand ein Kaffeebecher. Im Fach, das hinter dem Beifahrersitz angebracht war, steckte die Zeitschrift Taxi aktuell. Ein Schild wies darauf hin, dass man sich auch auf dem Rücksitz angurten müsse. Alles war auf beunruhigende Weise an seinem Platz.

»Pirandellosteg«, sagte Kuhn.

Der Fahrer trug einen Vollbart. Auf seiner Schirmkappe stand FORMULA UNO. »Möchten Sie das Bild in den Kofferraum legen?«, fragte er.

Kuhn schüttelte den Kopf. Auf dem Armaturenbrett klebte ein Ausweis. Ahmet Sulameh. Das Passfoto zeigte einen weißhaarigen Mann, der dem Fahrer nicht im Geringsten ähnelte.

»Ist das Ihr Wagen?«

»Familientaxi«, sagte der Fahrer.

»Schön«, sagte Kuhn. In seiner Familie gab es nichts, was allen gehörte.

Der Fahrer drehte sich um, zielte mit dem Handy auf ihn. »Sie glauben mir nicht, was?« Er sprach leise, flüsterte beinahe. »Reden Sie mit meinem Onkel, er erklärt Ihnen alles.«

»Natürlich glaube ich Ihnen«, sagte Kuhn. Er bereute bereits, etwas gesagt zu haben.

»Soll ich ihn anrufen? Ich rufe ihn an, wenn Sie wollen.«

Dieser Typ hatte sie doch nicht alle.

»Schon gut. Fahren Sie jetzt. Bitte.« Er hatte Angst, Myriam zu verpassen.

Der Fahrer schlug auf das Lenkrad, bevor er den Motor anließ und sich in den Verkehr einfädelte.

Kuhn lehnte sich zurück. Ein Moment des Friedens. Die Stadt zog an ihm vorüber, sie scherte sich nicht um ihn. Hinter einer dieser Fassaden würde er schon bald mit Myriam leben, er wusste nur noch nicht, hinter welcher. Eine Vorahnung des Glücks. Er schloss die Augen. Nie hätte er vermutet, dass es so einfach werden würde. Eine Lebensphase war beendet, die nächste war angebrochen, und es hatte dafür nicht mehr gebraucht als eine Handvoll Worte.

Am Abend vor dem Gespräch mit Vera wollte Myriam nicht, dass er ging. Er sollte sie halten, so fest, dass sie keine Luft bekam. Sie war so schmal in seinen Armen, aber sie sagte nur: Fester, fester, ich spüre nichts. Eine Liebe ist nichts, wenn sie keine Spuren hinterlässt, flüsterte sie ihm ins Ohr, und als er sich von ihr löste, sah er die Angst in ihren Augen.

Sie hatten sich im PARADIES getroffen, einem abstoßenden Einkaufszentrum am Rande der Stadt. Demnächst würde es geschlossen und durch eine moderne Shopping Mall ersetzt. Bis dahin diente ihnen das Café im Erdgeschoss als Treffpunkt, hier waren sie vor neugierigen Blicken sicher. Stets verspürte Kuhn ein Unbehagen, wenn er Myriam in der Öffentlichkeit traf, denn Vera verfügte über einen unüberschaubaren Freundeskreis, den sie mein Netzwerk nannte und der sie über alles unterrichtete, was in der Stadt vor sich ging. Doch keiner von Veras Bekannten würde auch nur einen Fuß ins PARADIES setzen.

Als er sich an diesem Abend von Myriam verabschiedete, sah sie ihn mit großen Augen an: »Hast du denn nichts für mich?«

Sie bestand darauf, dass er ihr zu jedem Abschied etwas hinterließ, das ihm gehörte, und wenn es nur der Schnipsel einer Rechnung war oder ein Knopf. Myriam war zwölf Jahre jünger als er, sie wollte ihr Leben möblieren mit namenlosen Abenteuern, Nervenkitzel und einer Lebensliebe, die größer war als alles andere. Jedes noch so wertlose Ding aus seiner Hand war eine Anleihe auf die Zukunft.

An diesem Abend hatte er nichts, das er ihr hätte geben können. Er griff in die Hosentasche und fand nur seine Tabletten, also reichte er ihr eines der letzten Digestopax, und sie lachte, hielt die Tablette in der Faust verborgen und sagte: »Jetzt habe ich dich in der Hand.«

Der Taxifahrer drehte das Radio lauter. Es lief eine Wissenschaftssendung. Der Hummer, hörte Kuhn den Moderator sagen, könne den Schlüssel zum ewigen Leben liefern, denn der Hummer altere nicht. Er würde nicht schwächer mit den Jahren, sondern ganz im Gegenteil schwerer und stärker. »Durch Telomerase kann die DNS des Hummers stets wiederhergestellt werden«, sagte der Moderator.

»Verfluchte Scheiße«, murmelte der Taxifahrer. »Ewiges Leben. Für immer in diesem Taxi sitzen. Wer will das schon. Was? Was haben Sie gesagt?« Er suchte Kuhns Blick im Rückspiegel.

»Ich?« Kuhn erschrak. Er hatte nichts gesagt. Er hatte sich an ein Rendezvous mit Myriam in einem Fischrestaurant erinnert. Überstieg die Bestellung eine gewisse Summe, durfte man einen Hummer aussuchen, den der Wirt daraufhin freiließ. Myriam stand minutenlang vor dem Aquarium, ohne sich entscheiden zu können. Hatte sie endlich ein Tier ausgesucht, erschien ihr ein anderes noch erbarmungswürdiger. Schließlich entschied sie sich für einen und bestellte einen zweiten unter der Voraussetzung, dass er ebenfalls freigelassen werde.

Das Taxi passierte einen Park. Jugendliche spielten in Käfigen Basketball. Es war ein Bezirk, den er so gut wie nie betrat, doch die beruhigend gesichtslosen Gemeindebaufassaden erinnerten ihn an die Abendspaziergänge, die er mit Myriam unternahm, geschützt durch das abnehmende Licht. Es waren verstohlene Treffen, die er sich aus seinem Tagesablauf herausschnitt. Kuhn bat Myriam, kein Parfum aufzutragen, am besten auch keinen Lippenstift. Er hatte eine Liste der häufigsten Fehlerquellen angefertigt, durch die Affären entlarvt wurden, von der in der Anzugtasche vergessenen Restaurantrechnung bis zu eventuellen Kratzspuren am Rücken. Er war überrascht gewesen, wie gleichmütig Myriam all diese Einschränkungen akzeptiert hatte. Nie setzte sie ihn unter Druck oder forderte ihn auf, Vera zu verlassen, wie er es von Bekannten gehört hatte, die neben der Ehefrau eine Geliebte hatten.

Lange dachte auch er, er könnte sie beide behalten, Vera und Myriam. Es war ihm doch auch möglich, einen guten Rotwein und einen exzellenten Weißwein zugleich im Schrank zu haben. Das eine schloss das andere nicht aus. Im Gegenteil, sie ergänzten einander. Wenn er erhitzt war von Myriams mystischer Verklärung des Alltags – sie war etwa davon überzeugt, dass Pflanzen eine Seele hätten und behauptete, sie könnten auf ihre Art singen – dann kühlte ihn Veras Pragmatismus wieder herunter. Wenn Vera, Geschäftsführerin von SECURELLA, einem Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Sicherheitstüren spezialisiert hatte, ihm die neue Marketingstrategie erläuterte, nährte ihn die Aussicht auf ein Gespräch mit Myriam, das frei war von technischen Daten. Mit Vera rechnete er, mit Myriam träumte er, und er benötigte das eine, um das andere zu genießen.

Zu den Dingen, die Myriam tat und die Vera niemals tun würde, gehörte die Sache mit den Steinen. Bei ihren Abendspaziergängen nahm Myriam Flusskiesel mit, auf die sie mit rotem Nagellack ihre Initialen M&P gemalt hatte und legte diese in Mauervorsprünge, zwischen die Sprossen von Zäunen oder Brückengeländer, manche warf sie auf Garagendächer oder in verwilderte Grundstücke. Kuhn sah ihr dabei mit einer ihn überraschenden Rührung zu: Sie verankerte ihre Beziehung im Gedächtnis der Stadt, so, als könnte diese plötzlich vergessen, dass Myriam und Philipp zusammengehörten.

Myriam wohnte in der Watzlawickstraße, in einem Stadterweiterungsgebiet, das eingeklemmt war zwischen dem heiseren Bremsen der Stadtbahn und dem beständigen Rauschen der Südosttangente. Ein Appartement am lärmenden Ozean. Sie standen oft auf dem Balkon und sahen hinüber zu den Stadtbahnbögen, auf denen veraltete S-Bahn-Garnituren entlangrumpelten. Wenn Kuhn früher mit dem Auto von Veras Villa in der Gropiusgasse in die Watzlawickstraße gefahren war, so kam es ihm vor, als bereiste er einen fremden Kontinent.

Es war ein Ort, an dem Myriam sich wohlfühlte, sie ertrug die Stille nicht. Manchmal tanzte sie selbstvergessen zu diesem Hupen und Quietschen, zu dieser Symphonie des zähflüssigen Verkehrs, die Arme erhoben, mit pendelndem Kopf und geöffneten Lippen. Die Geräusche der Stadt beschützen mich, sagte sie, und er fragte nicht weiter, weil er spürte, dass er an ein Geheimnis rührte.

Manchmal fuhren sie über die Stadtautobahn hinaus aufs Land und in die Dörfer. Bruckneudorf, Sieghartsböll, Liebhartsberg. Myriam hatte ein Faible für das Landleben, weil es hier niemals still war, immer zeterte ein Rasenmäher, ein Hund schlug an, ein Traktor mühte sich um die Kurve. Wenn sie Hand in Hand durch die Einfamilienhaussiedlungen an Sonnenhängen und in Flussnähe flanierten, dann malten sie sich aus, wo sie wohnen würden und untersuchten die Häuser und Gärten, um ihre Wahl zu bestätigen oder zu revidieren.

Als sie einmal an einer protzigen Villa vorübergingen, sagte Myriam, dass man in Mitteleuropa als Lottogewinner automatisch Besuch vom Psychologen bekam. »Wusstest du das?«

Er blieb stehen.

»Europäer sind davon überzeugt, dass sie für unverdientes Glück bezahlen müssen. Mit Tod oder Krankheit. Mit irgendeiner Form von Unglück. Um das Schicksal nicht herauszufordern, werden viele Gewinne einfach verschenkt.«

»Und du?«, fragte er.

Sie holte einen M&P-Kiesel hervor und warf ihn ins Flussbett.

»Ich fordere das Schicksal nicht heraus«, sagte sie.

»Weil du verlieren könntest?«

»Weil ich gewinnen könnte.«

Sie sah ihn an. Er wollte sie an den Schultern packen und fragen, ob sie Angst hatte vor dem Glück, aber er sagte nichts. Sie kehrten zum Auto zurück, und auf dem Weg nahm sie seine Hand.

Kuhn spürte den Blick des Taxifahrers im Rückspiegel.

»Am Donaukanal kommen wir nicht weiter. Die Demonstration«, sagte der Fahrer. Er deutete auf die Kreuzung vor ihnen. »Alles voll mit Idioten. Die ganze Stadt. Nur Idioten.«

Sie standen. Der Motor knisterte. Der Fahrer tippte etwas in sein Handy, dann sprach er mit jemandem. Er drehte sich um und hielt Kuhn das Handy vor die Nase.

»Nehmen Sie! Ist für Sie.«

»Für mich?«

»Na los, nehmen Sie schon.« Der Fahrer fuchtelte mit dem Handy vor Kuhns Gesicht, bis er es widerstrebend entgegennahm.

»Hier ist Ahmet Sulameh. Der Onkel von Harun«, sagte eine dünne Stimme. Ahmet Sulameh. Der Mann, dem das Taxi gehörte.

»Was ist?« Kuhn konnte seinen Unmut nicht verbergen.

»Mein Neffe. Er ist ein guter Junge, wissen Sie. Aber er braucht einen Job. Eine richtige Arbeit. Zuerst die Arbeit, dann die Frau, sage ich immer. Nicht umgekehrt. Niemals umgekehrt! Er macht alles außer Bau. Ayse sagt, dass Sie der Richtige sind. Sie können ihm helfen.«

»Wie bitte?«

»Ayse. Die Hellseherin. Sie hat in die Karten gesehen. Sie liest die Karten wie ein Buch. Ayse hat immer recht.«

Kuhn sah sich um, erwartete, dass der Fahrer in eine Seitengasse abbog, zwei Maskierte die Tür aufreißen, ihn aus dem Wagen zerren würden. Eine Falle, das war eine Falle.

»Ich habe nichts«, sagte er rasch.

»Was heißt das?«, fragte der Alte. »Ayse hat gesagt – «

»Ich habe eine Baufirma«, sagte Kuhn. »Bei mir gibt’s nur Jobs am Bau, sonst nichts, nur Bau, Bau, Bau. Gerüste.«

»Nur Bau«, wiederholte der Alte, als wollte er es nicht glauben. »Ayse hat gesagt, man muss das ganze Bild sehen. Nicht nur den Teil. Das Ganze. Du musst das ganze Bild betrachten.«

Jetzt duzte er ihn auch noch. Der Alte war verrückt, kein Zweifel. Die ganze Familie tickte nicht richtig. Kuhn reichte dem Fahrer das Handy und legte einen Zehn-Euro-Schein auf die Mittelkonsole.

»Der Rest ist für Sie«, sagte er, griff nach Adam und öffnete die Tür. Der Taxifahrer drehte sich nicht einmal um.

Kuhn rannte. Er lief über die Kafkagasse und bog auf den Mahlerplatz ein. Der Zug der Demonstranten wälzte sich an ihm vorbei wie ein tausendbeiniges Tier, das aus unzähligen Mündern fauchte. Die Teilnehmer hielten Plakate und bemalte Tücher in die Höhe, es herrschte ein unerträgliches Getöse, und in diesem Durcheinander an Leibern sah er sie.

Da vorne ging sie.

Myriam. Seine Myriam.

Sie ließ sich in der Menge treiben, das schwarze Haar, glatt und schwer wie ein Vorhang, der schaukelnde Gang, der ihre Hüften betonte, die Attitüde jener Frauen, die wussten, dass sie schön waren. Er rannte über die Straße. Sein Herz raste.

Myriam, Myriam, Myriam.

Mit einem Mal ergab alles einen Sinn: Sie hatte seine Nachrichten nicht beantwortet, weil sie das Handy nicht gehört hatte. Von der Demonstration hatte sie ihm nichts erzählt, doch er wusste, dass sie sich für Tierrechte einsetzte, für die wehrlose Kreatur. Sie war ein besserer Mensch als er.

»JEDES TIER IST WIE WIR, JEDES TIER IST WIE WIR! TIER WIE WIR, WIR SIND TIER!«, skandierten die Demonstranten und schwenkten Wimpel mit dem Verbandslogo, irgendwas mit Tierfabriken. Kuhn drängte sich vorbei an einem Paar, überholte eine Gruppe junger Männer, die auf Trommeln einschlugen, die ihnen vor der Brust hingen. Ein Geruch nach scharfer Minze, Räucherstäbchen und Marihuana hing in der Luft. Ohrenbetäubende Pfiffe.

Endlich, endlich hatte er sie erreicht, streckte die Hand nach ihr aus. Für einen Augenblick bekam er ihren Oberarm zu fassen, ihr Handgelenk. Streifte kühle Haut, doch schon wurde sie weggerissen, jemand stieß ihn in die Seite, ein Trommler brüllte »Aus dem Weg!«

Er rief ihren Namen, aber niemand hörte ihn. Er drängte, stolperte, boxte sich voran, bis er irgendwann ans Ufer gespült wurde und wie betäubt auf dem Gehsteig stand, gestrandet, das Bild gegen die Knie gepresst.

Bumm-bumm-bumm. TIER WIE WIR, WIR SIND TIER! Bumm-bumm-bumm, WIR SIND TIER, TIER WIE WIR!

Als die Rufe der Demonstranten nur noch als leises Echo zu hören waren, die Gaffer verschwunden, die Fensterläden und Balkontüren geschlossen worden waren, hob Kuhn einen Stein von der Straße auf. Er hatte etwas Rotes aufblitzen sehen und für einen lächerlichen Augenblick gehofft, es wäre einer von Myriams bemalten Steinen.

3

Wie lange geht das schon?«

»Mit dir hat das nichts zu tun, Vera. Weniger als nichts.«

»Du mieses – «

»Vera. Bitte.«

»Lüg mich nicht an. Und lass mich gefälligst – lass mich sofort los!«

»Beruhige dich.«

»Du bist ein Meister darin, das Beste herauszuholen. Für dich.«

»Vera. Ich habe – «

»Du hast mir ins Gesicht gelogen.«

»Aber nein, ich – «

»Das Auto bleibt hier, ist das klar? Ich will dich nie wieder sehen. Gnade dir Gott, wenn du in der Firma auftauchst.«

Da war Kuhn der Atem gestockt.

»Was ist los, Phil?« Myriam sah von ihrem Zettel auf. Sie legte ihre Hand auf sein Knie. »War ich nicht überzeugend? Sei ehrlich, du kannst ehrlich sein. Sollen wir noch einmal?«

»Aber nein«, sagte Kuhn. »Du warst perfekt, Myra. Perfekt.«

Es war der 25. September, sie saßen auf der Couch in Myriams Wohnung und probten das Trennungsgespräch. Myriam wollte alles wissen: Wie Vera saß, wenn sie wütend war. Ob sie die Beine übereinanderschlug, ob sie mit dem Fuß wippte, ob sie die Augenbrauen hochzog. Ob sie schrie, ob sie flüsterte.

Zunächst las Myriam ihre Sätze von einem Zettel ab, während er zu kontern versuchte. Bald schon improvisierten sie. Kuhn sagte Dinge wie: »Lass uns doch Freunde bleiben«, »Ich kann natürlich weiter für dich arbeiten« oder »Nimm es nicht persönlich«. Daraufhin sagte Myriam: »Wie soll ich das nicht persönlich nehmen? Was ist persönlicher als das, was du mir soeben gesagt hast?« Er verschärfte den Ton: »Ich liebe dich nicht mehr. Ich bin unglücklich mit dir. Schau dich nur an.« Ein Satz verletzender als der andere, und keinen dieser Sätze hatte Kuhn in seinem Leben je auszusprechen gewagt.

Den Ernstfall zu proben war Myriams Vorschlag gewesen, aber nun stand sie plötzlich auf und drosch ein Kissen an die Wand. Sie zitterte, schluchzte. Sie ging ganz und gar in der Figur auf, die sie spielte, verschmolz geradezu mit ihr. Erst jetzt konnte Kuhn die Schauspielerin in ihr erkennen, die sie immer werden wollte.

»Wow«, sagte er. »Du bist phantastisch.«

Myriam hörte nicht auf zu weinen.

»Es ist gut«, sagte er, »wir stoppen hier.«

Es half nichts. Myriam hatte die Rolle längst abgelegt. Sie selbst war es, die weinte. Er nahm sie in den Arm, sie war schlapp und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn. »Das war alles so – so echt«, flüsterte sie.

Danach. Als der Sommer müde wurde, tauchte das Wort immer häufiger in ihren Gesprächen auf. Danach. Das Ende der Möglichkeitsform. Danach hätten sie alles selbst in der Hand, Myriam und Philipp. Die Dreiecksbeziehung hatte ihn ermüdet, er hatte die Entscheidung herbeigesehnt. Danach, sagte Myriam immer wieder, danach werden wir darüber lachen. Sie hatte ihn gebeten, sämtliche Nachrichten und Fotos, die er vorher empfangen oder geschickt hatte, sämtliche Mails und Chatprotokolle zu löschen, damit sie ganz von vorn beginnen konnten. Unbefleckt.

Vor diesem letzten Gespräch mit Vera war Myriam ebenso nervös gewesen wie er. »Ich zittere«, sagte sie. »Alles in mir zittert.«

Er hatte ihre Hände betrachtet, sie waren ganz ruhig gewesen, die eine lag in der anderen wie in einer Schale.

Danach – das ist jetzt, dachte Kuhn, während er, eingehüllt in das Rauschen der Stadt, das Trottoir entlangging. Sie hatten diesen Tag so lange herbeigesehnt, konnte sie tatsächlich darauf vergessen haben? Dass sie gerade heute, am Tag des Gesprächs, demonstrieren musste, irritierte ihn.

Er versuchte, sich zu erinnern. Noch in der Früh hatte sie geschrieben, sie würde früher fertig sein im Hotel. Sie würden sich am Pirandellosteg treffen und Arm in Arm zu CHEZ ROBERT schlendern, an ihrem Lieblingstisch in der Nische im Fond Platz nehmen – Kuhn hatte sich zwei Mal vergewissert, auch den richtigen Tisch reserviert zu haben. Sie würden still dasitzen, und während sie auf das Essen warteten, würde Myriam langsam das Baguette zerpflücken. Das weiche Innere, das sie liebte, von der Kruste lösen, die sie ihm überlassen würde. Und es wäre egal, ob sie jemand dabei beobachtete. Im Hintergrund würde Jacques Brel Ne me quitte pas singen, mit diesem unverwechselbaren Tremolo in der Stimme, und Kuhn würden, das wusste er, die Tränen in die Augen steigen. Er griff in die Tasche seiner Hose und fühlte das Taschentuch zwischen den Fingern. Er war gerüstet für das Glück. Das war er noch nie gewesen.

Der Verkehr stockte. Die Ampeln waren ausgefallen, auf den Kreuzungen standen Polizisten in Warnwesten. Einige Autofahrer stiegen aus, um herauszufinden, was passiert war, doch die Demonstranten, die das Viertel in Geiselhaft genommen hatten, waren längst weitergezogen. Es wurde gehupt und geflucht. Ein Krankenwagen versuchte, sich einen Weg durch den Stau zu bahnen und fuhr mit den Reifen auf den Gehsteig, wobei er nur knapp einen Kinderwagen verfehlte. Er hörte einen Mann sagen: »Es wird immer schlimmer mit den linken Randalierern«.

Auf dem Boden lag ein zerrissener Wimpel.

JEDES TIER IST W

Kuhn ging an einem Bürokomplex vorüber. Er sah eine eigenartige Gestalt, die etwas Unhandliches mit sich trug, die Konturen waren verzerrt, und erst nach einem Moment erkannte er sich selbst in der spiegelnden Fassade.

Er bog in die Blausterngasse ein. Neben dem BLUMENFREUND hockte ein Junge im Hauseingang und setzte sich einen Schuss. Er hielt Kuhn den gestreckten Arm entgegen wie eine Opfergabe. Kuhn starrte auf die Sneakers des Jungen. Sie waren makellos, blendend weiß.

Eine Frau trat aus dem BLUMENFREUND, einen Strauß Tulpen im Arm. Die Köpfe der Tulpen nickten, so, als seien sie mit allem einverstanden. Kuhn wartete an der Ampel. Der Kopf des Jungen kippte gegen die Mauer und dann zur Seite. Die Frau trug Stilettos und er hörte noch das wütende Stakkato ihrer Schritte, als sie bereits aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er überquerte die Straße und wich einem Kinderwagen aus. Das Baby, das darin lag, die Arme neben dem Kopf, prall wie ein Kürbis, saugte rhythmisch an seinem Schnuller. Er hatte nichts bei sich, das ihn beruhigen konnte. Er griff nach seinem Handy und erweckte es zum Leben. Kein Anruf in Abwesenheit. Er hing an der Hoffnung wie an einem Hund, der ihm unentwegt ans Bein pisste.

Er ging an einem Kinderspielplatz vorüber, an einem Laden für pädagogisch wertvolles Spielzeug mit Hampelmännern in der Auslage, an einem Altersheim. Aus einem der Fenster drang Musik. Junge, komm bald wie-der, bald wie-der nach Haus. Dazu Klatschen, ganz und gar aus dem Takt. »Gut so, Frau Hirsch, sehr gut machen Sie das, ganz ausgezeichnet, weiter so!« Eine durchdringende Frauenstimme rief: »Und jetzt alle zusammen: Junge, komm bald «

Am Kormoranplatz setzte sich Kuhn in den Gastgarten eines Restaurants. Von hier aus überblickte er die Allee in ihrer gesamten Länge, außerdem konnte er den Eingang der U-Bahnstation beobachten. Wenn die Demonstration sich aufgelöst hätte, würde Myriam zu dieser Station zurücklaufen, um zum Pirandellosteg zu fahren, eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Er schickte ihr eine weitere Nachricht: Hab dich gesehen. Warte im Rudi’s auf dich. Komm schnell.

Es war beinahe zwei, und er hatte noch nichts gegessen. Der Tag war zerschossen. Er klappte die Speisekarte auf und blätterte durch die laminierten Seiten. Es gab ein Menü der Woche und wechselnde Tagesteller, täglich Fleisch, nur die Beilagen variierten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite nahm eine Combo Aufstellung. Ein Musiker schälte die Schutzhaut von einem Kontrabass, ein anderer stimmte eine Violine. Sie hatten ein Schild aufgestellt: DIE ZUKUNFT TRIUMPHIERT, ABER WIR HABEN KEINE. Obwohl sie noch nicht zu spielen begonnen hatten, warf ein humpelnder Mann bereits eine Münze in den Hut.

Eine Frau presste ihr Handy ans Ohr und zog mit der anderen Hand ein heulendes Kind nach, das sich loszureißen versuchte. Die Frau schimpfte: »Willst du auf die Straße laufen? Willst du, dass dich ein Auto überfährt? Willst du tot sein?«

Wir sind Tier, Tier wie wir, dachte Kuhn und bestellte Kalbsleber.

Der Gastgarten füllte sich. Die Musiker putzten ihre Instrumente. Ein Flugzeug ritzte ein zittriges Muster in den Himmel.

Vielleicht funktionierte sein Handy nicht. Daran hatte er noch nicht gedacht. Der Kellner brachte ein Bier. Er nahm einen Schluck, dann wählte er probehalber Andreas Nummer.

Sie ging sofort ran.

»Ist was passiert?« Er hörte sie laut atmen.

Im Hintergrund waren Stimmen zu hören. Gläsergeklirre. Ein Mann rief Blueberry. Gelächter.

»Ist wer gestorben? Los, sag schon.«

»Oh«, sagte Kuhn. »Niemand, alle am Leben.«

»Schön«, sagte sie. Sie schnaufte. »Rufst du mich deshalb an? Hier ist es – warte mal. Vier vorbei. In der Nacht.«

Er hörte, wie es flapp machte. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet. Er sah sie vor sich, seine kleine Schwester. Wie sie gemeinsam auf dem kleinen Balkon der Mutterwohnung standen, weil drinnen Rauchverbot herrschte. Wie sie ihre drahtigen Locken aus dem Gesicht strich. Wie sich ihre Lippen nach dem Zug an der Zigarette zusammenzogen. Wie sie den Rauch kurz in der Lunge behielt. Wie sie ihn schließlich ausstieß und dabei in den Himmel sah. Wie sich die Haut über ihre Wangenknochen spannte. Wie sie ihr Ohrläppchen knetete.

»Ich ziehe um«, sagte er.

Als sie nichts sagte, sprach er weiter.

»Vera – also. Wir haben uns getrennt.«

»Das habe ich schon verstanden.« Andrea klang nicht überrascht. »Weiß Mama schon davon? Hör mal, du musst es ihr sagen. Du weißt, wie sie reagiert, wenn sie die Letzte ist, die es erfährt.«

Andrea lebte seit einem Jahr in Las Vegas. Einfach so. Ein unsteter Geist, immer in Bewegung. Das letzte Mal, als sie miteinander gesprochen hatten, hatte sie Kinder von Spielsüchtigen gehütet. Ein Service, den die großen Hotels in Las Vegas anboten. Ein lukrativer Job. Wenn eines dieser Paare gewann, gab es gutes Trinkgeld.

»Keine Casinobabys mehr?«, fragte er.

»Du meine Güte, nein. Die Spieler sind weg. Hat mit dem Mond zu tun oder so, keine Ahnung.«

Jetzt arbeite sie in einer Country Bar, sagte sie. Mit Willie Nelson vom Band und mechanischem Bullen.

Sie musste das Lokal verlassen haben, denn die Hintergrundgeräusche waren verstummt. Ihre Stimme war so nah. Als säße sie neben ihm. Er vermisste sie.

»Ich vermisse dich«, sagte er.

»Ach, Phil«, sagte sie. »Love you.«

Er sah sie nur zu Weihnachten. Oder wenn jemand starb. Sie war klein, mit dunklen Locken, obwohl sonst niemand in der Familie Locken hatte. Alle anderen mussten mit leblosem, an den Schädel gedrücktem Haar zurechtkommen.

Er sah hinüber zu den Straßenmusikern, die zu einer Pantomime übergegangen waren. Sie taten so, als spielten sie auf ihren Instrumenten, aber es war kein Ton zu hören.

»Hast du Mama besucht?«, fragte Andrea. »Bei unserem letzten Telefonat war sie komisch. Sie hat drei Mal dieselbe Geschichte erzählt, hörst du?«

Er hörte. Andrea erzählte ihm, eine von Mutters Nachbarinnen habe angeblich eines Morgens ein Huhn unter ihrer Bettdecke gefunden. Es schlief wie ein Kind. Die Nachbarin zog ihm die Kleider ihres verschollenen Sohnes an. Abends schauten sie gemeinsam Nachrichten. Das Zusammenleben mit dem Huhn sei außergewöhnlich harmonisch gewesen, berichtete die Mutter. Eines Tages kam die Nachbarin nach Hause und fand in der ganzen Wohnung Federn. Alles war verseucht, genauso habe sie es ausgedrückt. Das Huhn schmorte im Backrohr. Ein Mann zwang die Nachbarin mit vorgehaltener Pistole, es zu essen.

»Was für ein Mann?«

»Das wusste sie nicht. Er trug eine Sturmhaube.«

»Andrea, ich muss – «

»Warte, nicht auflegen! Hör genau zu, jetzt kommt unsere Mutter ins Spiel«, sagte sie. »Sie sollte die Federn aufsammeln und damit ein Kopfkissen befüllen.«

»Sie hat schlecht geträumt«, sagte er.

»Du musst dich um sie kümmern«, sagte Andrea, »sie ist auch deine Mutter, wenn ich dich daran erinnern darf.«

»Im Moment – «

»Bei dir ist immer irgendwas«, fauchte sie. »Ich bin in Amerika, aber ich telefoniere jeden zweiten Tag mit ihr.«

Zweifaches dumpfes Klicken. Das Signal, dass eine Nachricht eingetroffen war. Er drückte Andrea weg, er würde sich später auf ein Funkloch rausreden.

Eine Nachricht. Von Myriam.

Ich bin zu Hause.

Kuhn stand in dem Moment auf, als der Kellner die Leber servierte.

4

Nie zuvor war Kuhn mit der U-Bahn zu Myriam gefahren und er bemerkte schnell, dass das nicht möglich war. Auf halbem Weg musste er in eine Straßenbahn umsteigen. Wo auch immer er sich bewegte, sahen die Leute zunächst Adam an, dann ihn, dann wieder Adam. Als verglichen sie. Als suchten sie die Fehler, durch die sie sich unterschieden. Dass das Bild solch ein Aufsehen erregen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er durfte Adam nicht preisgeben, dachte er und achtete stets darauf, den Kopf vor den neugierigen Blicken zu verbergen. Mehr konnte er nicht tun.

Als Myriam einmal auf seinem Schoß gesessen hatte, fuhr sie mit dem Zeigefinger seine Falten zwischen Nase und Mund entlang. Sie roch nach Sonnencreme. Milchiges Nachmittagslicht. Vorhänge, die sich bauschten. Lackierte Zehennägel in roten Flip-Flops.

Er sehe Leonard Cohen ähnlich, sagte sie und kicherte.

»Phil Cohen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich liebe diese Falten.«

Sie seien wie die Jahresringe eines Baumes.

»Bitte nicht«, hatte Kuhn gesagt. Die Jahresringe kämen schließlich erst zum Vorschein, wenn der Baum gefällt würde.

In der Straßenbahn betrachtete Kuhn die dunklen Flecken auf seinen Handrücken, die sich unablässig zu vermehren schienen. Irgendwann wäre seine Körperoberfläche ein einziger Rorschachtest, dachte er, ein Muster, das in all seinen Variationen nur eines zeigte: Dass er alt wurde.

Man kann nicht nicht kommunizieren.