Über Verena Boos

Verena Boos, 1977 in Rottweil geboren, lebt in Frankfurt. Studium der Anglistik und Soziologie, Promotion in Zeitgeschichte. Mehrjährige Aufenthalte in Italien, Großbritannien und Spanien. Arbeit als Journalistin, Referentin und Autorin. Teilnahme am Klagenfurter Literaturkurs und der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung. Sie wurde für die Bayerische Akademie des Schreibens ausgewählt und las beim Open Mike.

Informationen zum Buch

»Ein Blütenschweif gleitet durch den Türspalt nach draußen. Folge mir.«

Hanna, eine Frau des Wortes, hatte einen Schlaganfall und kann nicht mehr sprechen. Erschöpft zieht sie sich in das Haus ihrer Großeltern zurück, in dem sie als uneheliches Kind aufgewachsen ist. Doch nicht nur Hanna kommt in ihr altes Dorf, ihr altes Dorf kommt auch zu ihr. Patrizio, der Freund aus Jugendtagen, und ihre Nachbarin Sabrina suchen ihre Nähe. Was als selbstgewählte Einsamkeit gedacht war, wird zu einer Erkundungsreise, die eng mit der Geschichte dieses Hauses auf dem Kirchberg verwoben ist. So eignet sich Hanna ihr Leben noch einmal an und vermag schließlich auch zu erkennen, wer ihr Vater ist. – Was erblickt eine Frau ohne Aussichten noch in ihrem Leben? Was ist Heimat, was ist Zeit? Wie kann, bei allem, was geschehen ist, Frieden herrschen? Verena Boos erzählt groß von einer kleinen Welt, von der unsrigen.

»Verena Boos verbindet großes Erzähltalent mit historischer Präzision.« Jan Brandt

»Eine souveräne Schriftstellerin, die sich unterschiedlichster Sprach- und Denkmuster bedient und stoffliche Vielfalt in einem großen erzählerischen Bogen zu spannen weiß.« Stefanie Laaser, SWR2

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Verena Boos

Kirchberg

Roman

Inhaltsübersicht

Über Verena Boos

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Bewohner Kirchbergs

Kirchberg

Novemberkind (1974)

Wasser

Apfel

Tisch und Bett

Klavier

Käfer

Weisser Sonntag (1984)

Hausrecht

Himmel und Hölle

New York – London

Fliegenfischer

Winterbetten

Dummer August (1994)

Löwe

Alphabet des Nichts

London – Berlin – Nirgendwo

Tafelrunde

Stromer

Winteraustreiben (2004)

Nistkasten

Novemberkind

Florenz

Schwabenkinder

Altjahrabend

Johannisnacht (2014)

Rakete

Federkleid

Brighton

Märzenbecher

Heiler

Stille Tage (2024)

San Marco

Echo

Impressum

Meiner Schwester.

Wir sterben und bergen in uns den Reichtum von Geliebten und Stämmen, den Geschmack von Speisen, die wir gegessen haben, Körper, in die wir eingetaucht und die wir hochgeschwommen sind, als wären es Flüsse von Weisheit, Charaktere, in die wir geklettert sind, als wären es Bäume, Ängste, in denen wir uns versteckt hielten, als wären es Höhlen.

Michael Ondaatje, Der englische Patient

Bewohner Kirchbergs

Bewohner Kirchbergs

Kirchberg

Der Bus schließt die Tür und biegt an der Kreuzung rechts ab. Sie kennt den Weg, den er nehmen wird, vorbei an den Wirtschaftsbetrieben, den letzten Häusern. Die Dorfstraße wird zu einer Allee, links geht es hinunter zum Bach, rechts erheben sich die Hügel mit ihren bewaldeten Kuppen. Früher war der Straßenbelag voller Schlaglöcher. Eine kurvige Straße, die dem Verlauf des Baches durch das Tal folgt, sie kennt die Wege alle, eine grüne Straße, denkt sie, durch grüne Wiesen, grüne Büsche und Bäume. Grün denkt sie, wenn sie sich an dieses Dorf erinnert.

Der Bus ist fort, sie als Einzige steht noch an der Haltestelle. In die Pizzeria ist nie mehr ein Lokal eingezogen. Sie schultert ihren Rucksack und überquert die Hauptstraße, geht vorbei am alten Laden, wo sie als Kind Colaschlangen kaufte zu fünf Pfennig das Stück. Er steht leer. Im Schaufenster, durch das man einst die Schultern der Besitzerin sehen konnte, hängen Zettel in Spalten dicht bedruckt, Buchstaben und Zahlen, die Kirche, die auf dem Berg über ihr aufragt, als Emblem im Kopf des Blattes. Ein Poster, großes Datum und grelle Schrift, darauf ein Duo in Kitschtracht. Leo war bald danach auf Tournee gegangen. Er hatte Sorge gehabt, dass es Reibereien geben würde mit dem Pianisten. Sie hatte keine Worte mehr gehabt, ihm diese Sorge zu zerstreuen.

Sie steigt den Fußweg hinan, über eine Wiese, auf der es in ihrer Kindheit Gänse gab. Er mündet in eine steile Straße, die sich an den Hang legt, als hätte sie sich mit ihren Schlaglöchern im Grund verzapft. Eine mächtige Treppe führt auf den Kirchberg, zu dieser Kirche aus rotem Sandstein, die zu groß über allem thront und ein so kleines Dorf überfordert. Langsam steigt sie diese Treppe hinauf, schräg über die Stufen, das kommt ihrem schwachen Bein entgegen. Sie lehnt sich an die Balustrade. Drei Täler öffnen sich für drei Bachläufe, und hier, mit dem spitzen Helm des Kirchturms als Drehgelenk ihres Kompasses, ist sie genau in der Mitte. Sie streckt die Arme nach beiden Seiten aus und füllt ihre Lungen mit der Luft ihrer Kindheit.

Sie taucht in den Schatten des schmalen Durchgangs zwischen Sakristei und Pfarrhaus. Wenn kein Gottesdienst war, kam nie jemand vorbei. Damals, hier, im Halblicht, der erste Kuss. Es wäre nur logisch gewesen. Der Weg weitet sich zu einem kleinen Platz, der Kirchberg streckt seinen Rücken lang. Nach einigen Schritten verschwindet die vorspringende Ecke des Nachbarhofs aus dem Blick, und sie sieht das alte Haus ihrer Großeltern. Und so steht ihr zwei jetzt da, du und dieses Haus.

Einen Moment lang verharrt sie vor dem Haus, mitten auf der Straße, die eher wie eine kleine Piazza anmutet. Es ist ihr Haus. Es hat einen muskulösen Giebel und Dachgauben, eine breite Reihe Fenster und ein großes Scheunentor, hinter dem sie das Knattern des Traktors zu hören glaubt. Vor dem Bart ihres Schlüssels das altmodische Schloss ohne Zylinder. Es hatte heftigen Streit gegeben zwischen den Großeltern, ob diese Holztür gegen eine moderne aus Aluminium ausgetauscht werden solle. Die Großmutter wollte mit der Zeit gehen, und auch die Gemeindeverwaltung, die zweimal pro Woche Sprechstunde im Erdgeschoss des alten Schulhauses abhielt, hätte das gerne gesehen. Eine moderne Tür mit Drahtglas und Schnapperle. Ihr Großvater, ein zurückhaltender Mann, konnte ein sturer Bock sein. Und wenn ihm noch jemand Geld bot für diese alte Tür, dann erst recht nicht. Es zog weiterhin durchs Schlüsselloch, wenigstens lackierte er bei jener Gelegenheit das Holz und dichtete die Ritzen ab. Doch was machte das schon, das eine oder das andere, so oft standen hier die Türen offen, vorne raus und hinten raus, im Erdgeschoss nichts außer Gemeindebüro, Wirtschaftsraum, Tür zur Scheuer und Durchgang zum Garten. Dicke Mauern, doch viele Einfallstore für den Wind. Auch mit einer Tür aus Aluminium wäre es in diesem Haus immer kalt gewesen. Das sah ihr Opa schon richtig. Die Wärme hier entstand anders.

Die Tür schabt über den Steinboden. Opas Dichtungsgummis sind hart geworden. Die Tür zum alten Gemeindebüro ist ausgehängt, verschwunden. Ein Vorhang ist aus der Aufhängung gerutscht. Das Licht im Raum wie stäubendes Mehl. Eine eingetrocknete Maus. Ein einzelner Rollschrank, ein Metallgestell für Prospekte, ein Notenständer. Ein Rechen lehnt am Treppengeländer. Objekte, die zurückbleiben. Sie holt den Rucksack herein und schließt die Eingangstür.

Ein freistehendes Haus, um das der Wind streicht, Wände, die keinen Kontakt haben. Ein körperliches Wissen um die Architektur. Sie lehnt sich gegen das Holz und horcht, wie man dem Atem des schlafenden Liebhabers lauscht, so vertraut und so fremd.

Nach der Beerdigung hat sie nur ein paar Dinge aussortiert. Persönliches und Verderbliches. Die Oma war nicht wie der Opa langsam und krank, Schritt für Schritt, aus dem Leben gegangen. Die Oma hatte wenig Arbeit gemacht, war einfach über dem Beet mit den Rapunzeln zusammengebrochen. Ihr eigener Reflex war wegzugehen, wie immer weg und wie immer arbeiten. Eine Zeit, selten genug, da sie wusste, was sie wollte. Sie hatte die Zusage für die USA, befand sich zwischen Orten, Ländern, Aufgaben. Leo hatte geschrieben, er wolle es versuchen, wirklich versuchen, und ein gemeinsamer Urlaub sollte ein neuer Anfang sein. Ihr Herz schlug woanders. Sie wollte jemanden beauftragen, das Haus zu leeren, sie wollte selbst wiederkommen, irgendwann, bald. Es kam weder zum einen noch zum anderen. Es passte nie mehr. Sie überließ das Haus, überließ alles sich selbst. Obwohl kurz darauf nichts mehr in ihrer Macht stand, bleibt da ein Stich. Als hätte sie ihre Großmutter nicht nur im Sterben alleingelassen. Das Geschäft des Sterbens in diesem Haus ist noch nicht abgeschlossen.

Links der Gang zum Garten, der letzte Gang ihrer Oma. Rechts führt die Treppe in den ersten Stock, wo das Schulzimmer war. Sie setzt einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen, die eine Seite braucht immer länger als die andere. Mit der guten Hand hält sie sich am Geländer. Sie hört Generationen von Schülern über diese Treppe ihr entgegentraben, in der dunkelärmlichen Kleidung ihrer Jahre, in den viel zu kurzen Hosen und vielfach gestopften Pullundern der Nachkriegszeit, barsch zurechtgewiesen von der heiseren Stimme ihres Großvaters. Womöglich war seine Stimme damals noch gar nicht heiser. Als ein neues Schulhaus gebaut wurde, weiter unten auf halber Höhe, licht und filigran, die Schule, in die ihre Mutter ging, bevor sie sich davonmachte, kaufte ihr Großvater das alte Schulhaus, in dem er alle Jahre seit seiner Ankunft in diesem Dorf gelebt und gelehrt hatte. Er unterrichtete im neuen, doch lieber wäre er im alten geblieben, eigentlich hat er das alte nie verlassen. Bis sie selbst in die Schule kam, gab es am Ort keine mehr. Gemeindereform und Flurbereinigung der Siebziger, und da man schon dabei war, erledigte man auch diese kleine Schule, als gäbe es Mengenrabatt, take two, get one free. Sie musste jeden Tag mit dem Bus fahren. An der Kreuzung rechts, über die grüne Straße ins nächste Dorf mit Grundschule.

Jetzt klingen hier keine Kinderstimmen, klingt keine Lehrerstimme mehr. Jetzt ist es ganz still. Sie stellt sich genau in die Mitte dieses Raumes. Sie glaubt, dass sie gerne bei ihrem Großvater in die Schule gegangen wäre. Sie glaubt, dass er ein Händchen für Sonderlinge hatte. Als Freak ist man auf solche Leute angewiesen. Und heute, heute erst recht. Heute würde sie als Dorfdepp halt so mitlaufen. Man würde sie, wenn sie Glück hätte, in den Schuljahren verwahren. Wozu das Lernen und Streben, wenn von einem Tag auf den anderen alles gelöscht werden, verlorengehen kann. Ihr Hirn wie eine dieser Zaubertafeln, eifrig und unablässig Lage um Lage beschrieben, dann eines Tages, ritsch, ratsch, wenig Macht mehr über die Zunge, und das Wort nur noch als Widerhall.

Der alte Schulraum nimmt fast das gesamte erste Stockwerk ein. Alle Jahrgänge, Jungen und Mädchen, im selben, dem einzigen Raum. Staub schwebt im Licht. Auf den Holzdielen sind die Abdrücke der Schulbänke noch zu erkennen. Dort, wo der Mittelgang war, sind sie dunkler und stärker abgenutzt. Nicht einmal der große Tisch steht mehr da, an dem der Ortschaftsrat tagte, als Kind hatte sie direkt über diesem Raum im Bett gelegen und die Diskussionen der Männer gehört, alles Männer, später polterten sie hinaus, der Tisch, an dem auch Kommunionsunterricht stattfand. Jene Treffen, nach denen Patrizio das Klavierspiel entdeckte. Sie dreht sich um, und in der Nische des Zimmers, unter weißem Tuch verborgen, steht das Klavier.

Süden, ihre Lieblingsseite, die steil zu Bach und Mühle hin abfällt. Süden, wo sie ihren Platz an der Mauer hatte. Sie öffnet ein Fenster nach dem anderen. Dann jene, die nach Norden gehen, öffnet sie alle. In der Mitte des leeren Schulzimmers setzt sie sich auf den Boden. Die Luft, die durch die geöffneten Fenster auf beiden Seiten hereinströmt, findet irgendwo in diesem Haus einen Ausgang, und im Zug schlägt eine Tür. Vögel zwitschern. Eine Motorsäge, Lastwagen auf der Straße, ein Chopper. Sie erinnert sich der alten Linde und möchte nachsehen, ob sie noch steht. Sie rührt sich nicht. Jetzt nicht. Zum ersten Mal seit langem ist sie wirklich zur Ruhe gekommen. Zum ersten Mal hat sie vollkommen losgelassen.

Wie schlau kann man sein, und wie dumm kann man werden. Als sie die Augen öffnete, hatte sie einen Flusen auf der Netzhaut. Über die weiße Fläche der Zimmerdecke schwamm er wie ein Bakterium unterm Mikroskop, wanderte mit jedem Augenaufschlag nach oben und ruckelte sich auf dem Tränenfilm in Richtung Nasenspitze, bis sie blinzelte, und wieder von vorn. Ihre Sicht auf die Zimmerdecke war an manchen Stellen klar, an anderen trüb wie eine Fensterscheibe, an die jemand die Stirn gepresst hat. Sie spielte das eine Weile so durch. Schielte durch die Wimpern auf ihre Nasenspitze, dahinter eine unklare Welt. Bis jemand an ihr Bett trat und sie dafür lobte, dass sie aufgewacht war. Dann bemerkte sie es selbst. Jemand leuchtete ihr in die Augen, sie riss ihren Blick nach oben und erfasste allerlei Geräte über ihrem Kopf, und die Welt bekam Töne. Die Welt hinter den Wimpern, jenseits der Nasenspitze war erfüllt von Rhythmus und Unregelmäßigkeit, sie hörte Piepstöne, sie hörte Gummi auf Linoleum, Türen öffneten und schlossen sich, das Klappern von medizinischem Geschirr. Menschenstimmen.

Ihr Hals war trocken, doch noch musste sie nichts sagen, sie versuchte mit einer Hand an den Mundwinkel zu gelangen, fühlte dort ein kleines Rinnsal, die Schwester bremste ihren Arm, da war ein Zugang auf ihrem Handrücken, die Haut spannte unter den Pflasterstreifen. Sie ertastete Stoff unter ihren Fingern. Sie bewegte die Hand, als erwartete sie die Berührung einer anderen. Aber da war keine. Sie durchwanderte die Gegenden ihres Körpers, spürte am Schädel ein Spannen, das musste die Narbe sein. Besuchte noch einmal den Flusen auf ihrem Auge. Die Zunge war zu schwer, um damit in den Mundwinkel zu gelangen. Schließlich ihr Herz. Nachdem sie Leo kennengelernt hatte, arbeitete es so kraftvoll, dass ihr die Brust schmerzte. Nie zuvor, niemals wieder hatte ihr Herz solch einen Raum in ihrem Körper eingenommen. Sie war damals ganz Herz. Herzraum. Die Schönheit der Worte. Sie tauchte wieder weg.

Die ersten Stunden waren noch in Ordnung, war sie noch in Ordnung. Das Problem war schon da, aber es kam erst später. Es wurde augenfällig, als sie nicht antworten konnte, und sie kapierten schließlich, setzten endlich ihren Apparat in Gang, als sie aufstehen sollte und zur Seite umkippte. Das Halbseitige wird sie nie mehr los. Und die Sprache hat sich davongestohlen, lässt sich erahnen nur noch an den äußeren Rändern, nur noch als vages Echo, verhallt, bevor man richtig dabei war. Packt sie fester zu, zerfällt alles zu Staub. Eine Sprachstörung könne auch von Panik herrühren, beruhigte man sie, doch sie brauchte nicht beruhigt zu werden, sie war nicht hysterisch, und die Sprache blieb weg. Als die Frau im Sozialdienst ein Jahr später sagte, wir müssen davon ausgehen, dass sich da nicht mehr viel tut und eine Rückkehr in Ihren Beruf unmöglich ist, wir beantragen ihre Verrentung, ansonsten halt Hartz IV, da dachte sie: Oder gleich tot. Tot wäre genauso gut.

Als die Vögel jäh verstummen und ein Abendgewitter aufzieht, bewegt sie sich. Reihum schließt sie die Fenster. In die unteren Äste der Linde hat jemand ein Windspiel gehängt, rund um den Stamm eine Bank gebaut. Sie verschließt ihre Haustür, trägt ihren Rucksack nach oben, entpackt ihren Schlafsack. Sie zieht sich aus und legt sich unter das letzte offene Fenster. Sie lauscht Donner und Wind und Regen und lässt sich in den Schlaf murmeln wie damals, ein Stockwerk höher, wenn aus der Küche noch die Stimmen ihrer Großeltern zu hören waren. Die Oma ließ die Tür einen Spaltbreit offen und das Licht im Flur brennen. Der Opa, der rauchen oder austreten ging, schloss die Tür, der honiggelbe Spalt erlosch mit einem Ruck. Meistens war sie dann schon zu weit in den Schlaf hineingewandert, um sich noch zu fürchten oder aufzubegehren. Ein Blitz erhellt den Himmel, das Fenster über ihr ein weißer Keil. Licht legt sich über die weite Fläche der Zimmerdecke, ein kurzer Donner, sie schließt die Augen und ist weg.

Novemberkind

(1974)

Katharina zieht die Uhr auf und legt ein Scheit nach, die Flammen legen sich an das trockene Holz, in der aufsteigenden Hitze beschlägt ihre Brille. Vom Spülstein nimmt sie eine Schüssel und tritt aus der warmen Küche in den ewigkalten Flur. Wenn sie hinabgeht, wirft sie stets einen Blick aus der südlichen Gaube. Sie sieht einen schmalen Streifen ihres Gemüsebeets, bevor der Hang steil zum Bach abfällt, dahinter die Weiden, der aufsteigende Wald, das sich weitende Tal. Die Stiege hinab begegnet sie Erich, noch im Mantel, ein Tropfen füllt sich an seiner Nasenspitze. Er legt Vesperdose und Tageszeitung auf den Schreibtisch im alten Lehrerzimmer, beides wird er mit hinaufnehmen in die Küche, erst aber schürt er an, dass es warm ist, wenn er wieder herunterkommt.

Katharina geht nach hinten hinaus in den Garten. Ein kaltes Jahr mit frühem Frost, sie hat eine Plane über den Salat gezogen, lüftet sie an einer Ecke, um das zu holen, was sie fürs Essen braucht. Winterhimmel drückt zum Tal herein, noch Wochen hin bis zu den kürzesten Tagen, doch ihr ist, als dunkelte es jetzt schon, zur Mittagszeit. Nachher stellt sie eine Kerze auf den Tisch, es wird dem Erich gefallen, versonnen wird er ins Licht schauen, sich die Hände reiben, und hinterher bläst er sie sachte aus, hält dazu die gewölbte Hand hinter die Flamme. Schweigsam ist er zurzeit, er macht es mit sich aus, ob er ans Amt wechseln soll. Das Schuljahr hat erst vor ein paar Monaten begonnen, aber wenn er versetzt werden will, muss er sich bald entscheiden.

Katharina hat in der Schüssel, was sie braucht, er ist keiner fürs Grünzeug, ihr Erich, das bisschen Ackersalat ist schnell gepflückt. Aber sie verharrt über ihrem Beet, sie stellt sich den Wolken entgegen und stemmt ihre Füße in den Grund, als müsse sie einem Druck standhalten. Irgendwas gefällt ihr nicht heute. Irgendwas ist. Sie zieht die Plane über den Holzrahmen und beschwert deren Rand mit einem Stein. Den ganzen Weg zurück über die Stiege in die Wohnung grübelt sie nach. In der Küche lehnt Erich gerade seine Dose aufs Abtropfgitter, Katharina stellt ihre Schüssel Rapunzeln ins Waschbecken und vergisst die Kerze. Freitag, Maultaschen in der Brühe, Erich schlürft, Katharina rutscht beim Zerteilen der Löffel weg, Heiland! Macht doch nichts, sagt Erich, ist doch Wachstuch. Trotzdem, bruddelt sie und wischt auf, was über den Tellerrand geschwappt ist. Schmeckt gut, sagt Erich, als wolle er trösten. Die sind bloß vom Metzger, sagt sie. Trotzdem, erwidert er. Wenn er so inwendig charmiert, ein bisschen hälingen, dann schmilzt ihr Ungehaltensein.

Sein verstohlener Witz hat ihr von Anfang an gefallen. Seine Mutter war mit anderen Heimatvertriebenen bei ihnen einquartiert worden, zusammen mit seiner jüngeren Schwester Marie bewohnte sie Katharinas Zimmer, Anna von Glockstein, geborene Hippler, wie sie grundsätzlich ergänzte, als handelte es sich um eine feststehende Phrase. Anna von Glockstein, geborene Hippler, war ausgesprochen mitteilsam und hatte so viel über ihren Sohn erzählt, dass Katharina glaubte, einem entfernten Cousin wiederzubegegnen, als Erich aus der Gefangenschaft kam. Sie wusste, wo er herstammte und wo er im Einsatz gewesen war, kannte selbst den Inhalt seiner Briefe aus England, und war doch überrascht, als er mit seinem Knappsack im Hausflur stand. Bei dieser Mutter hatte sie keinen so diskreten Menschen erwartet. Wovon sie, geborene Hippler, nie gesprochen hatte, war sein stillschweigender, fast zärtlicher Humor, der sich in dem Soldaten nicht leicht offenbarte, seine Neigung zu Sprachwitz und Hintersinn, häufig war Katharina die Einzige, die über einen Scherz von ihm lachte, und bald scherzte er nur noch für sie. Sie entdeckten sich auf Gängen durchs ruinierte Freiburg, entlang der Breisach und auf den Schlossberg, zum Münster, immer wieder zog es ihn ins Münster. Er begleitete sie zum Gottesdienst, wo er doch nicht katholisch war, und schien in der Kirche zu lesen wie in einem Buch. Er war bibelfest und meistens nicht einverstanden mit der Predigt. Auf weiteren Wanderungen erzählte sie ihm, erst schüchtern tastend, allmählich mutiger, was zu beobachten gewesen, wer verschwunden war, was man hatte sehen können und wissen konnte, worüber sie aber nie hatte reden dürfen. In der Abgeschiedenheit der Schwarzwaldtäler wurden sie sich sicher, dass ihnen der Stoff niemals ausgehen würde, sie mochte es, von ihm berührt zu werden, und tanzen konnte er auch noch.

Bis ein neues, eigenes Semester für ihn begann, übersetzte er für die Alliierten, aber Französisch hätte ihm da mehr genutzt, und in einem Kino wies er die Plätze an. Er studierte noch, wie sie als Sekretärin in einer großen Säge anfing und täglich mit dem Zug nach Himmelreich fuhr. Sie blühte unter seinem Blick. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass ein so Kluger ihre Nähe suchte, und während sie ihre Schwester Ursula für intelligenter hielt als sich selbst, konnte sie mit dem schlauen Erich auftrumpfen. Als seine Mutter und Schwester in eine neue Siedlung zogen, blieb er bei ihnen wohnen, und Katharina blieb bei ihm, als er hier eine Stelle bekam, fand neue Anstellung in einer Uhrenfabrik. Sie mussten heiraten, um diese Lehrerwohnung beziehen zu dürfen, für ein paar Jahre bloß, dachten sie, nun sind es fünfundzwanzig. Ein Kind kam, eines nur, dessen Geburt Katharina fast nicht überlebte, und ist wieder ausgezogen. So blieb der Traum von einem Stall voller Kinder eben das, ein Traum. Katharina hängt den Lumpen wieder an den Herd und denkt diesmal auch an die Kerze. Zurück am Tisch, drückt sie kurz Erichs Hand.

Nach dem Essen legt Erich sich ins Wohnzimmer. Sie hört seine Zeitung rascheln, diese Bestimmtheit, mit der er den Politikteil umschlägt. Dann schließt sie die Tür und die Kälte aus und macht sich ans Spülen. Mit seiner Rossnatur legt der Erich sich auch winters Tag für Tag im Wohnzimmer aufs Sofa, wo er es warm haben könnte in der Küche auf der Bank oder im Ohrensessel in seinem Arbeitszimmer, sie würde ihm doch auch einheizen dort drüben, aber er legt sich lieber eine zweite Strickjacke an und eine weitere Decke über die Beine und kommt dann mit ganz kalten Händen zum Kaffeetrinken. Er hat für seine Tätigkeiten klare Bereiche, vollzieht sie an den jeweils vorgesehenen Orten: Scheuer, Arbeitszimmer, Schlafzimmer, und die gute Stube für seinen Mittagsschlaf, der Fernseher steht dort, aber sie schauen kaum, und Gäste haben sie selten. Dagegen sie selbst, die alles in der Küche erledigt: Kochen, Einmachen, Nähen und Bügeln, Schriftverkehr, Kaffeetrinken und Binokeln mit den Nachbarinnen, Teetrinken und Zeitunglesen allein, früher auch das Baden und Wickeln, die Hausaufgaben. Und das ist es. Katharina wringt den Lappen aus und lässt ihn ins Wasser fallen. Sie hat gefunden, was heute nicht stimmt. Maria. Den ganzen Tag schon geistert die in ihren Gedanken herum, seit morgens Reif das ganze Tal silberweiß überzogen hatte. Katharina stellt das Wasser ab und geht in Marias Zimmer auf der Rückseite des Hauses. Bei der Hausarbeit und beim Einkaufen hat Maria sie abgelenkt, den Beschwerdebrief an den Landtagspräsidenten hat sie zweimal abtippen müssen, beim Frauenfrühstück sind ihr die Brezeln aus dem Körbchen gefallen, Katharina blickt in den Garten hinab, wo Nachbars Katze an den Rapunzeln entlangspaziert, Rapunzeln hat sie immer gemocht, die Maria, ihr liebster Salat. Rapunzel, Rapunzel.

Es ist nicht klar, für wen ihre Tochter ihr Haar heruntergelassen hat, sie sagt es nicht, ums Verrecken nicht. Es kann überall passiert, jeder gewesen sein. Zuletzt dachte Katharina, vielleicht hat die Maria da jemanden in München. Und sie ist nicht blöd, zur Fasnacht, die in diesem Jahr früh lag, ist Maria hier gewesen und war recht betrunken. Sie ist nicht blöd, und sie kann kalkulieren, in der untersten Schublade des Küchenbuffets hat Katharina eine Schatulle mit allerlei Heimlichkeiten, darunter ein Werbekalender, in dem sie voraus- und zurückgerechnet hat. Sie braucht ihn nicht herauszuholen. Sie weiß jetzt, was sie nicht länger wegschieben kann, sie weiß, welche Wochen mit dem Bleistift schraffiert sind. Ein wenig verweilt sie noch in der Abwesenheit ihrer Tochter, dann setzt sie Kaffee auf und bückt sich in die Tiefe des Unterschranks nach der Thermoskanne. Sie schließt die Ofenklappe, auch unten in Erichs Arbeitszimmer. Schließlich stellt sie sich in die Wohnzimmertür und sagt zum Schlafenden, auf dessen Brust sich die Zeitungsseiten heben und senken, Erich, wach auf, wir müssen nach München fahren.

*

Katharina ist eine Frau, die stets mit der Zeit geht. Manchmal aber melden sich bei ihr ganz alte Instinkte. Und wenn seine Frau so ein Gefühl hat, wenn seine Frau sagt, sie müssen jetzt nach München fahren, weil sonst geschieht ein Unheil, noch eins, dann geht Erich nach unten und fährt das Auto aus der Scheuer. Bis sie an der Birnau sind, wendet sich der Tag schon ab. Sie halten auf dem Parkplatz und trinken Kaffee im Winterdämmerlicht, das den See stumpf macht wie Blei. Weißt du noch, die Mainau, das waren die Sommer mit Maria, Maria in München, die, da ist sich Katharina sicher, drauf und dran ist, eine Dummheit zu begehen. Bis sie durchs Allgäu kommen, ist es schon finster, obwohl gerade erst fünf vorbei, und man kann die Berge nicht sehen, die er so gerne mag, er reckt und dreht den Kopf ein zweites Mal, wirklich nicht, Erich, schau auf die Straße, nur dunkle Zacken vor dunkler Nacht. Die ersten hohen Wohnblocks, nicht geschenkt wolle sie da wohnen, sagt Katharina, und im schalen Licht des Deckenlämpchens müssen sie einsehen, dass der Maßstab ihres Straßenatlas nicht ausreicht, um Marias Adresse zu finden. Katharina findet dagegen das Krankenhaus, in dem Maria gelernt hat. Ihre letzte Information ist, dass Maria auf der Inneren arbeitete, sie fragen sich durch, stehen schließlich vor einer Station, die schon in den Nachtmodus geschaltet hat. Erich ist froh, dass er sich für die Fahrt eine Krawatte umgebunden hat. Maria arbeite seit Monaten nicht mehr hier, nein, auch nicht die Station gewechselt, vielmehr ganz gegangen. Es wäre zu einfach gewesen, murmelt Katharina, und gar unmöglich, sie hier hochschwanger bei der Arbeit anzutreffen. Ganz gegangen, wohin, was tun? Wisse sie nicht, antwortet die Schwester. Ob sie noch an dieser Adresse wohne, ob sie mit einer Kollegin befreundet sei. Schwester Angela muss nachdenken, auf der Hand zu liegen scheint die Antwort nicht, doch, da gebe es wen, einen Namen bekommen sie und nach kurzem Zögern auch eine Telefonnummer, und weil dann schon alles egal ist, dürfen sie auch telefonieren. Katharina kramt in ihrer Handtasche, doch Erich kann ihr Marias Nummer aus dem Kopf diktieren. Das Läuten verhallt ungehört, weder Maria noch die Kollegin gehen ran. Katharina rafft ihre Tasche und den schweren Mantel.

Sie wissen aber, dass Maria, beginnt sie gleichzeitig mit Angela, die dasselbe Wissen abtastet, beide nicken, dass das also geklärt wäre. Das war nicht mehr zu übersehen, sagt Angela, Erich kann der Schmach nicht in derselben Weise trotzen wie Katharina, die fragt, hat sie jemals den Vater, Angela schüttelt den Kopf. Er mag das Bedauern in ihrem Blick nicht, aber bedauerlich ist das ja alles, er findet auch keinen besseren Ausdruck dafür.

Angela ruft für sie in der Frauenklinik an, und weil sie vom Fach ist, bekommt sie Auskunft und reicht ihm einen weiteren hellgelben Zettel mit einem neuen Ziel. Die Patientin hat am Morgen entbunden. Ein Mädchen.

*

Wir lassen das Auto stehen, sagt Katharina und strebt dem Taxistand zu, doch der Taxifahrer schüttelt nur den Kopf, das fährt er nicht, laufen sollen sie, kaum fünf Minuten. Katharina hakt sich bei Erich unter, der legt seine freie Hand auf ihre Finger. Stadtlichter, ein klirrend klarer Himmel, Katharina meint, einen Stern zu erkennen. Sie folgen den Wegbeschreibungen auf der Suche nach dem Kind. Wir sind Großeltern, Erich. Katharina ist müde und aufgekratzt zugleich. Sie horcht, was mit ihrem Unheilsgefühl zur Mittagszeit geschehen ist, seit sie in den Garten ging. Sorge und Freude vermengt. Sie wird uns jetzt brauchen, Erich, hörst du. Er nickt stumm. Sag du auch mal was.

Was soll ich denn sagen. Außerdem hab ich doch schon zu viel gesagt.

Zu viel und zu wenig zugleich, denkt Katharina, und das Falsche. Maria und Erich, das hat nie recht funktioniert. Ein falsches Los. Sie hat Jahre damit gehadert, dass er sich nicht stärker anstrengte, bis sie eines Tages den Schmerz in seinem Gesicht verstand, bis sie den Zusammenhang kapierte mit den Momenten, da ihm die Stimme versagte. Maria hätte Abitur machen können, aber sie brach ab nach der mittleren Reife, ging nach München, konnte es nicht erwarten, auszubrechen aus der Enge von Dorf und Familie. Sie und Erich haben sich den Ort auch nicht ausgesucht, aber sie haben ihn zum ihren gemacht, und so schlimm hat sie es nie gefunden. Nach München mitten hinein ins Leben, ins wilde Leben der Studenten, aber studieren konnte Maria ja nun nicht. Im Vier Jahreszeiten wollte sie anfangen, aber dort nahm man sie nicht, weil ihr Dialekt zu breit war. Also lernte sie Krankenschwester und Hochdeutsch. Vielleicht hätte sie es besser und leichter gehabt in der Enge, aber das war nicht, was sie wollte. Der Dialekt wurde schmaler, sie sprach von Mal zu Mal schriftdeutscher und akzentfreier und radikaler. Keine Studentin, tummelte sie sich wohl trotzdem in diesen Kreisen. Katharina fand, dass das alles überfällig war, endlich brach da etwas auf, am liebsten wäre sie selbst dabei gewesen. Man hatte wissen können. Maria hatte recht und zugleich unrecht, indem sie anprangerte, aber eigentlich nicht wissen wollte. Sie wandte sich nur provokant und voller Wut an ihren Vater, der auf einer anderen Tonlage vielleicht sogar aufgemacht hätte. Die Geschichte, die Maria sich erzählte, war nicht die seines Krieges, Katharina nahm ihn in Schutz und fragte sich, wo all diese Wut nur herkam, seine Geschichte war eine von Desillusionierung und Menschwerdung, und sein Glück buchstabierte sich PoW. Der Erich hielt Marias Rhetorik eine Zeitlang stand. Wenn er jedoch nicht bald mit Argumenten überzeugt, macht er zu, dann sagt er gar nichts mehr, dann versagt ihm sprichwörtlich die Stimme, und so wurde in der kleinen Familie vor allem geschwiegen, in dieser kleinen Familie, die gerne hätte größer sein dürfen. Als Maria ihnen aber die Vergrößerung ankündigte, war es nicht, wie es hätte sein sollen, und Erich explodierte.

Nun sind sie hier, und man hört die Splitter unter den Schuhsohlen knirschen. Das zweite Krankenhaus an diesem Tag, diesmal suchen sie ihre Tochter als Wöchnerin.

An der Pforte werden sie aufgehalten, Besuch nur bis sechse, Katharina redet das Herz des Portiers weich, so weit gefahren, nur einen Augenblick, nur zum Erkundigen, er lässt sie passieren, doch an der Station ist Schluss, nix erkundigen, morgen wieder, wo kämen wir da hin. Diese Zenzi hat mit der hilfreichen Angela nichts gemein. Als sie davonziehen, hören sie sie ins Telefon bellen, der Portier wird sich wünschen, nie Herz gezeigt zu haben. Er weist ihnen trotzdem noch den Weg zum nächstgelegenen Hotel, wo es nach Bohnerwachs riecht und dem Staub in den schweren Samtvorhängen, Erich beginnt zu niesen. Katharina öffnet die Fenster weit, und der Winter tritt eisig in ihre Herberge herein. Erich steht neben ihr, schniefend noch, sie schließt die Augen und fühlt die Wärme seiner Hand, spürt nach, wie ihre kräftigen Bauernfinger seine schmale Gelehrtenhand ganz ausfüllen, ihre Ringe sind gleich groß. Das Gewicht seines Oberkörpers neigt sich ihr zu, er stoppt mit dem freien Daumen die feuchte Spur auf ihrer Wange, Oma, raunt er, sie öffnet die Augen und sieht ihn ganz nah lächeln. Erleuchtete Fenster im nachtdunklen Haus gegenüber wie offene Türchen im Adventskalender, übermorgen der erste Dezember und der erste Advent, daheim hängt das gedörrte Obst aufgefädelt unter den Dachbalken, sie wollte Hutzelbrot backen und die ersten Gutsle, alles anders jetzt. Sie haben keine Wechselwäsche eingepackt, Erich im Feinripp, derzeit ist Türkis in Mode, aber man sollte nicht alle Moden mitmachen. Katharina schreibt sich im Geiste eine Notiz, künftig nur noch Weiß und aus diesen hier Putzlappen, dann schlüpft sie zu ihm unter die Decke. Die glatte Hotelbaumwolle ist eiskalt, und, sowieso, in dieser Nacht braucht es Nähe.

*

Erich wacht auf, er hört Katharina, aber sie liegt nicht im Bett neben ihm. Er stützt sich auf die Ellbogen, ortet ihre Silhouette und ihr Schnarchen im Sessel am Fenster. Katharinas Rezept gegen Unruhe und schlechten Schlaf: der Sessel im Wohnzimmer oder die harte Bank in der Küche. Dort findet er sie dann am Morgen, tief schlafend. Bis sie die Augen aufschlägt, sitzt er manchmal schon still mit der Tasse Kaffee am Tisch und füllt die letzten Felder in ihrem Kreuzworträtsel aus. Er langt nach seiner Armbanduhr, halb vier, er dreht sich noch einmal auf die Seite, bedeckt mit ihrem Kissen sein Ohr, er macht die Augen noch einmal zu und weiß doch, dass es das gewesen ist mit dem Schlaf. Er hadert nicht, er braucht nur noch Zeit, bis er sich aufraffen kann, die Decke abzustreifen. Nicht weit vom Hotel stößt er auf eine Friedhofsmauer und wendet sich nach rechts, er schlägt den Kragen hoch, die Nachtluft gefriert ihm in den Nasenlöchern. Er sieht eine Isarbrücke. Am Brückenkopf hat ein Kiosk offen, zwei versprengte Nachtschwärmer stecken Flaschen Bier in ihre Manteltaschen für den Heimweg. Erich klopft an die Scheibe, Kaffee? Der verlebte Mann nickt und schenkt aus einer großen Thermoskanne ein. Dieser Kaffee war ein Fehler. Erich geht mit dem bitter-öligen Geschmack im Mund am Flussufer entlang. Der Fußweg endet hinter einer Eisenbahnbrücke, öde Gegend, aber das Laufen an der eisigen Luft tut ihm gut. Setz einen Hut auf, würde Katharina sagen, wenn der Kopf warm ist, bleibt es der Rest auch, aber den hat er in der Eile des gestrigen Aufbruchs vergessen. Hat sie wieder einen Riecher gehabt, die Katharina. Es war natürlich sinnlos, Maria die Schlamperei vorzuhalten, wo doch schon alles zu spät war, aber er konnte nicht raus aus seiner Haut. Während er sie in der Küche anbrüllte und sie zurückbrüllte, saß die ganze Zeit ein kleiner Erich auf seiner Schulter und flüsterte ihm ins Ohr, lass doch den Schiet, das führt zu nichts, macht alles nur schlimmer, aber der konnte sich nicht durchsetzen. Was die Leute sagen würden, das auch, aber vor allem, dass sie sich so dumm die Zukunft verbaute, als junge Mutter allein. Aber wie eine gute Zukunft geht, darüber hatten sie sich bisher ja grundsätzlich nicht einigen können. Und jetzt ist das Kind da, und er wird in ein paar Stunden bei der Maria am Bett stehen und irgendetwas sagen müssen.

Er hat schon die zweite Grünphase an der Fußgängerampel durchgehen lassen. Auf einem Lastwagen, der vor ihm aus einer Ausfahrt biegt, liest er gerade noch die Worte Arance di Sicilia, dahinter ein kleinerer Transporter, Meister Eders Obst und Gemüse, etwas an der Fahrweise sagt ihm, dass der erste leer und der zweite voll beladen ist, und es folgen sogleich weitere. Er weiß überhaupt nicht, was er ihr sagen sollte, beim dritten Mal Grün überquert er endlich die Straße. Ein paar hundert Meter weiter öffnen sich Tore auf ein industrielles Gelände, und jetzt kapiert er, dass das der Großmarkt ist, hier bekommt er bestimmt einen anständigen Kaffee, hier lassen sich die Leute nicht mit halbkaltem Muckefuck abspeisen.

Parallel zueinander angeordnete Hallen mit breiten Achsen und quer verlaufenden Gängen zwischen den Ständen, er fragt sich durch, Grüßgottentschuldigung, buongiorno, Kaffee beim Imbiss nächste Halle, dankegrazie, nixzudanken. In dem kleinen Verschlag sind die Scheiben beschlagen, Erich braucht erst einmal das Sacktuch, für einen Fleischkäswecken, der hier Leberkässemmel heißt, ist es ihm zu früh, obwohl sein Magen knurrt, sie haben gestern gar nichts mehr gegessen. Er nimmt eine Butterbrezel und einen großen Kaffee, der dampfend und duftend in einem blitzsauberen Becher serviert wird. Erich richtet sich an einem der Stehtische ein und lässt sich’s wohl sein. Mit dem Butterschmelz auf der Zunge wird er zuversichtlicher, womöglich muss er gar nichts sagen, er überlässt das Reden Katharina, die kann das ohnehin besser. Sie weiß, was das Richtige im rechten Moment ist. Er nimmt noch einen Kaffee und noch eine Brezel, bevor er weiterzieht, Viertel nach fünf zeigt die Uhr an, das ist Katharinas Zeit, er sollte sich auf den Rückweg machen.

Vor einem Stand, dessen Kabuff über und über mit eingerahmten Orangenpapierchen dekoriert ist, hält er inne. Der Händler ist in seinem Alter und ebenso drahtig und schlank, er wuchtet Kisten und wird auf den Zaungast aufmerksam, grüß Gott, die Grußformel ist vertraut, hat hier in München einen teigigeren Klang als daheim und bei diesem Händler einen ausländischen Einschlag. Bosch, der Name über der Bretterbude klingt aber fast Schwäbisch.

Früh für einen Stadtbummel, sagt der Händler.

Erich hebt die Schultern. Ich bin gestern Opa geworden, es rutscht ihm einfach so heraus.

Gratuliere! Die Augenwinkel des Händlers legen sich in freundliche Falten, meiner ist jetzt neun, nachher hol ich ihn von der Schule ab, und wir fahren nach Riem aufs Flugfeld, das ist für den die größte Gaudi.

Der Mann spricht wie ein Bayer, aber da ist ein Akzent eingewoben.

Entschuldigen Sie, Bosch, der Name?

Der Mann wedelt mit dem Zeigefinger. Nicht wie der Kühlschrank. Aus Valencia. Bos-ch, das ch wie ein k.

Erich lässt seinen Blick streifen über die Fülle von Obst und Gemüse, sagen Sie, verkaufen Sie auch einzeln, wir haben unserer Tochter gar kein Geschenk mitgebracht.

Einzeln nicht, nur fünfkiloweise, Beeren auch das Kilo.

Er kann ja schlecht mit fünf Kilo Äpfeln ins Krankenhaus kommen.

Aber warten Sie, ich richt Ihnen was zusammen, warten Sie kurz, der Mann ruft nach seinem Stift, der solle Packpapier bringen, der Junge verschwindet im Seitengang. Erich bekommt ein Sortiment aus Äpfeln, Mandarinen, Orangen, gräuliche Kugeln, die aussehen wie kleine Handgranaten, entschuldigen Sie, was sind das für Früchte?

Lichis, müssen Sie schälen, und einen Kern haben die auch. Noch eine Orange, die Orangen aus Valencia sind hervorragend dieses Jahr.

Es ist doch noch gar nicht Weihnachten, sagt Erich. Der andere antwortet, aber bald, und außerdem brauchen Sie alle jetzt Vitamine, er reicht ihm die Kiste, Erich nimmt sie nicht gleich, kramt zehn Mark heraus. Der Händler will das Geld nicht annehmen, lassen Sie gut sein, aber Erich drängt es ihm auf, besteht darauf, doch wirklich, na gut, dann gibt es heute Nachmittag Sahnetorte und heiße Schokolade mit meinem Carlos, und wir stoßen auf Ihr Enkelkind an. Er langt ein drittes Mal in die Orangenkiste und fischt eine in Papier eingewickelte Frucht heraus, die er Erich in die Hand legt, feliz navidad.

Katharina sitzt im Mantel in der Lobby des Hotels. Frühstück gibt es hier erst ab halb acht, sagt sie. Es tut ihm leid, dass er ihr nicht wenigstens eine Brezel mitgebracht hat. Etwas Obst? Sie greift nach einem Apfel. Wo hast du das her so früh am Morgen?

Doch er hat einen anderen Satz angefangen, so lange willst du wahrscheinlich nicht warten, oder? Katharina ist schon auf dem Weg zur Tür hinaus.

Es ist kurz vor sieben, als sie ein zweites Mal an der Zenzi scheitern. Schichtwechsel um acht, und ab dann auch Besuchszeit. Erich sieht, dass Katharina zu pumpen beginnt, er nimmt sie am Arm, komm, wir drehen noch eine Runde, es gibt hier bestimmt eine Kantine. Er hat die persönliche Orange des Spaniers noch in der Manteltasche, legt sie Katharina neben die Tasse und erzählt die Geschichte seiner Gaben. Das Papier streicht er auf seinem Schenkel aus, faltet die Ränder um das Motiv, so dass das Briefchen in seine Brusttasche passt. Der vierte Kaffee heute, er muss aufpassen. Er muss sowieso aufpassen.

Als sie um zehn vor acht wieder an die Station kommen, ist gerade Übergabe, und sie stehlen sich ungesehen am Schwesternzimmer vorbei. Katharina geht Zimmer für Zimmer, Namensschild für Namensschild ab, während Erich langsamer wird. Wollen wir eigentlich gleich zu Maria oder erst zu dem Baby? Was ist denn das für eine Frage, Erich, zur Maria natürlich. Katharina bremst ihren Schritt nicht, dreht sich nicht einmal zu ihm um. Vielleicht hat sie das Kind ja bei sich, und sonst gehen wir gemeinsam zu den Neugeborenen rüber. Katharina ist vor einer Tür mit drei Namen stehen geblieben. Er hätte gnädiger mit ihr sein müssen. Weniger auf die Leut und die Welt geben. Er hätte das Reden Katharina überlassen sollen. Er hätte weniger Kaffee trinken sollen.

Obwohl Erich die Schildchen an der Tür gesehen hat, ist er überrascht, dass er vor Publikum steht bei dieser Begegnung. Maria liegt im dritten Bett am Fenster und wechselt gerade ein Wort mit ihrer Nachbarin, deren Nachttisch mit Blumen und Geschenken überhäuft ist. Bei Maria liegen da nur zwei Zeitschriften. Sie bricht ab und sieht wirklich erstaunt aus. Er schleicht wie ein Prügelknabe hinter Katharina her, die sich zu einer Umarmung über Maria beugt und schon Worte gefunden hat. Wie es geht und gegangen ist, Kind gesund, zehn Finger und zehn Zehen, er dringt gar nicht bis zu Maria vor und kann nur ihr Schienbein unter der Decke tätscheln. Sie hat Ringe unter den Augen, sieht aber nicht allzu mitgenommen aus. Erich trägt seine alberne Obstkiste unterm Arm, er schiebt sie aufs Fensterbrett und spricht dazwischen, wir haben dir Obst mitgebracht, danke, antwortet sie und sieht ihn endlich an, jedoch als hätte er etwas Unpassendes gesagt. Nur eine Kleinigkeit, damit noch etwas gesagt ist, um diesen Blick von Maria zu polstern, und da sind so kleine Früchte dabei, eine fischt er heraus, die muss man schälen, Maria wirft einen schnellen Blick darauf und sagt nur, ja klar, Lichi.

Katharina hat all ihre Fragen abgefeuert, ihm fällt sowieso nichts ein. Maria tut das Ihre nicht dazu. Eine Hilfsschwester räumt die Tabletts vom Frühstück ab. Kurz darauf bekommen die anderen Wöchnerinnen ihre Kinder zum Anlegen, dann müsste zumindest eine der beiden Schwestern nochmals hereinkommen mit Marias Kind. Doch die Tür schließt sich. Und du?

Maria sieht weg. Ihr hättet nicht kommen sollen. Ist was mit dem Kind nicht in Ordnung? Warum kriegen die anderen ihr Kind gebracht und du nicht? Maria sagt etwas, aber es kommt nichts Verständliches für ihn dabei heraus. Kannst du aufstehen, gehen wir das Kind anschauen? Maria verneint.

Katharina und ihre Ahnung. Ein Unheil, noch eins. Und da sind die beiden stillenden Frauen, so leise kann man gar nicht reden, in den englischen Wards konnte man zumindest einen Vorhang zwischen den Betten zuziehen.

Sie hat das Kind im Kreißsaal davontragen lassen. Maria weiß nicht, wie die Kleine aussieht, und hat keinen Namen für sie.

Was soll das heißen?

Erich ist ganz leicht im Kopf. Er will etwas sagen, ohne zu wissen, welcher Satz sich formte, wenn er den Mund öffnete. Da sieht Maria ihn frontal an, er war das doch, der gesagt hat, sie soll sich ihr Leben nicht verbauen. Dass nichts aus ihr wird mit einem ledigen Kind, er war das doch. Der Schmerz seiner Fingernägel in den Handballen. Er wird nicht noch einmal aus der Rolle fallen. Er weiß überhaupt nicht mehr, was seine Rolle ist. Er schluckt, eine Trockenübung, und das Luftholen kreuzt sich mit seinem Sodbrennen. Und was gedenkst du zu tun, Maria?

Ich gedenke, sagt sie und betont das Verb, äfft ihn nach, ich gedenke, am ersten Januar bei der Lufthansa anzufangen. Vertrag ist schon unterschrieben. Ich lass mir mein Leben nicht verbauen. Das muss dir doch taugen. Aber ist das auch wieder nicht recht.

Er will den bitteren Kaffeegeschmack ausspeien. Katharinas Stimme ganz platt, und was soll aus dem Kind werden?

Das geb ich frei.

Die Tür kommt auf Erich zugerast, er muss nur die Hand öffnen nach der Klinke, die ihm kalt in den Handballen stößt. Im Gang sucht er Orientierung, wo ist das Kind? Wo ist das Kind! Eine Schwester eilt aus dem Glasverschlag, ihre Worte ein Blubbern, was los, wer Sie, nun beruhigen sich doch, er will sich nicht, wo ist das Kind, das Kind! Und weil keiner ihm hilft, geht er schneller und ruft lauter. Katharina fängt ihn ein, Katharinas Hand an seinem Rücken, Katharinas Tränen, reg dich ab, Erich, man bugsiert sie ins Schwesternzimmer, Tür zu, nun beruhigen Sie sich, er will sich nicht beruhigen, soll ich Ihnen einen Kaffee, keinen Kaffee! Okay, aber nicht in diesem Ton! Pardon. Seine Knie knicken über der Stuhlkante ab, er fühlt den Puls in den Schenkeln schlagen.

Wir nehmen das Kind.

Aber Erich.

Wir nehmen das Kind.

Kommen Sie erst mal zur Ruhe.

Ich nehm das Kind.

Da müssen Sie heute sowieso nichts entscheiden, das kann man nicht überstürzen, eine Adoption geht erst acht Wochen nach der Geburt, Sie haben Zeit.

Das ist schon entschieden.

So, ist das so. Vielleicht besprechen Sie sich noch mit Ihrer Frau. Vielleicht hat die da ja ein Wort mitzureden. Da kann er jetzt schlecht widersprechen. Aber die Sache ist klar. Er ist sich sicher. Sie nehmen das Kind. Das stand fest, als Katharina ihm die Zeitung unter den Händen herauszog und er das Auto aus der Scheuer fuhr. Er blickt über den Tisch zu ihr, große Augen, verwirrt und übernächtigt, die Haut gerötet, weil sie sich mit dem Handgelenk die Tränen weggerieben hat, fast schon trocken.

Sie zwei gehen jetzt in den Hof und drehen eine Runde. Und dann kommen Sie wieder hoch und melden sich bei mir. Dann geh ich mit Ihnen zu der Kleinen.

Wie befohlen, spazieren sie im Innenhof der Frauenklinik, Katharina ist viel zu weit weg von ihm, er hakt sich unter und geht Schritte blind an ihrem Arm, öffnet die Augen und lässt sie über die Parkanlage gleiten, ohne irgendetwas aufzunehmen. Die Kälte besänftigt seinen Tumult. Katharina. Was machen wir denn jetzt?

Katharina bleibt stehen. Wir machen, was du gesagt hast, bleibt uns ja nichts anderes übrig. Das kommt nicht in Frage, dass man das Kind fremden Leuten gibt. Vielleicht überlegt sie es sich ja auch noch einmal anders.

Nach ein paar Schritten bleibt sie wieder stehen und sagt, meine Herrn, da kommt ganz schön was auf uns zu.

Wir sind doch noch jung.

Aber stell dir das mal vor. Ein Neugeborenes. Und die Leut.

Und so macht Erich etwas, das er sonst nie in der Öffentlichkeit tut. Er nimmt seine Katharina in den Arm, fest unter seine Arme nimmt er ihren kräftigen warmen Körper, umschließt sie, als könne er sie beschützen, als hätte er jemals irgendwen beschützen können, und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn.

Er bleibt in der Schule. Er bleibt in der Schule und wechselt nicht ans Amt, so ist er nachmittags daheim.