Wyatt Earp 144 – Allein im Llano

Wyatt Earp –144–

Allein im Llano

William Mark

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-771-5

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Strahlende Morgensonne lag über der Stadt Los Angeles.

Da, wo heute der berühmte Boulevard von den Berverly Hills nach Hollywood führt, stand damals am Ende der Canyon Street das Haus der Familie Hyde.

Der alte James Hyde hatte jahrelang in einer Pulverwerkstatt gearbeitet, und sein Sohn Buster war seit nunmehr fünf Jahren, trotz seiner Jugend, leitender Ingenieur in einer daraus hervorgegangenen Fabrik. Sie lag vorm Griffith-Park am Stechpalmenlake, also fast genau dort, wo sich heute die Ateliers der Filmmetropole befinden; damals war am Hollywoodlake äußerster Stadtrand, und nur dort durften Fabrikgebäude errichtet werden.

Die California-Company von Samuel St. Johns war ein gut renommiertes Unternehmen, wenn es auch nicht allzu groß war.

Als der einunddreißigjährige Buster Hyde an diesem strahlenden Maimorgen das graue Haus in der Canyon Street verließ und seine Frau ihm aus einem der Fenster nachwinkte, ahnte er ganz sicher nicht, welch einen Weg er da antrat.

Es war keine besonders einsame Straße, die zu dem kleinen See am Stechpalmenwäldchen führte, aber um diese Morgenstunde wurde sie nur von den wenigen Arbeitern passiert, die zu Samuel St. Johns Fabrik hinauf wollten.

Nicht ganz siebzehn Minuten hatte der junge Buster Hyde zu Fuß zurückzulegen. Wie jeden Morgen, so ging er auch jetzt an der linken Straßenseite. Er hatte eben das kleine Holzhaus passiert, in dem, wie er wusste, zwei alte Leute lebten, die sich von einer Blumenzucht ernährten. Gerade war er am äußersten Rande des Hauses vorüber, als plötzlich etwas heranschwirrte, sich um seinen Oberkörper spannte und ihn niederriss.

Es war eine regelrechte Lassoleine, mit der man ihn da eingefangen hatte.

Hyde war so erschrocken, dass er nicht schnell genug reagierte, um seinen Sturz mit den Händen aufzufangen. So schlug er mit der rechten Schädelseite hart auf den Boden auf.

Zwei Männer sprangen auf ihn zu, zerrten ihn zu sich heran, steckten dem Bewusstlosen einen Knebel zwischen die Zähne und banden ein Tuch darüber. Dann wurden ihm die Hände und die Füße gebunden.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf einem rumpelnden Wagen, der in ziemlich schneller Fahrt über eine holprige Straße rollte.

In dieser Stunde hatte der Leidensweg des jungen Buster Hyde begonnen. Es ist sehr viel über diese Geschichte geschrieben worden, und bis zum heutigen Tag lebt die erregende und abenteuerliche Story im amerikanischen Volk. Ich habe versucht, die Spuren der damaligen Begebenheiten so genau wie möglich zu verfolgen, um die Ereignisse hier so wiedergeben zu können, wie sie sich zugetragen haben.

Zunächst wunderte sich an diesem 19. Mai nur der Chief der Firma, der weißhaarige alte Samuel St. Johns, dass sein leitender Ingenieur nicht zur Arbeit erschien. Aber der alte Herr sagte nichts zu der Meldung des Vorarbeiters Fred Hagarty.

Bedeutend größer war die Verwunderung in der Familie Hyde, als der junge Ehemann, Sohn und Vater an diesem Abend nicht nach Hause kam.

Gegen zehn Uhr verließ Mrs. Esther Hyde, die sechsundzwanzigjährige Frau des Ingenieurs, das Haus und ging in die Stadt zu ihrer Freundin Rozy Long, um nachzufragen, ob ihr Mann vielleicht dorthin gegangen war. Aber die Longs, die sich zuweilen mit den Hydes zu einem geselligen Abend trafen, mussten verneinen.

Aufgeregt lief die junge Frau von einem Bekannten zum anderen.

Es war schon nach Mitternacht, als sie schließlich das Revier der 12. Polizeistation in Lexington Avenue aufsuchte. Es ließ sich genau ermitteln, dass es Sergeant Galvestone war, der die Vermisstenmeldung zu Protokoll nahm.

Am nächsten Tag war Esther Hyde in der Fabrik, um mit Mr. Samuel St. Johns zu sprechen.

Der alte Herr war verstört, als er von der Sache hörte; er konnte sich ebensowenig wie die Hydes und ihre Bekannten erklären, was da geschehen war.

Das war ja das Mystische an dieser Sache, dass sich niemand das Verschwinden Buster Hydes erklären konnte. Er war weder ein reicher Mann, bei dem sich eine Entführung gelohnt hätte, noch gab es irgendeinen Anhaltspunkt, der auf ein Verbrechen hätte schließen lassen. Da er mit seiner jungen Frau seit sieben Jahren in glücklicher Ehe lebte, konnte sich auch niemand vorstellen, dass er etwa mit einer anderen Frau verschwunden sein könnte.

Seine Freunde wurden von der Nachricht ebenso überrascht wie die Familie selbst und der Leiter der Fabrik, in der Buster Hyde gearbeitet hatte. Einer dieser Freunde war der siebenundvierzigjährige Kaufmann Ronald Drake. Er setzte Dampf hinter die Suche nach dem Ingenieur, indem er nämlich die Presse auf das Verschwinden Busters aufmerksam machte.

Die ›Los Angeles News‹ und auch die beiden anderen großen Zeitungen der Küstenstadt brachten zunächst eine kurze Notiz. Als sich nach drei Tagen noch keine Spur von dem Vermissten hatte auffinden lassen, brachte die ›Los Angeles News‹ einen großen Artikel. Viele Hinweise aus der Bevölkerung liefen ein, aber alle Spuren verliefen im Sande.

Buster Hyde blieb verschwunden.

Zehn Tage nach dem Verschwinden Busters starb seine Mutter an einem Herzschlag, niemand hatte der alten Frau bisher den großen Kummer anmerken können; sie hatte ihn in sich hineingeschluckt und war daran erstickt. Sie war das erste Opfer dieser Tragödie.

Am 29. Mai nahm die Polizei in einer Vorortstraße Cromwells den Hafenarbeiter Andrew Munthy fest, der sich nach Angaben seiner eigenen Familie seit dem Tag des Verschwindens von Hyde nicht mehr daheim hatte blicken lassen und in der Stadt herumstreunte. Aber Munthy konnte beweisen, dass er am fraglichen Tag nicht am Stechpalmenwald Hollywood gewesen sein konnte.

Am nächsten Tag nahm die Polizei wieder einen Mann fest, von dem eine Frau behauptete, sie habe bei ihm die in der Zeitung so genau beschriebene Aktentasche Hydes gesehen. Aber der Mann war ein Steuereinnehmer aus dem Stadtteil Santa Monica, und konnte ein stichfestes Alibi beibringen, das seine Unschuld eindeutig bewies.

Das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei schwand mehr und mehr. Am 2. Mai nahm Mrs. Hyde auf Anraten von Drake das berühmte Detektivbüro Pinkerton in Anspruch. Zwei Detektive dieses Instituts, das in allen größeren Städten der Welt Zweigstellen unterhielt, machten sich sofort auf die Suche. Aber nach dreizehn Tagen meldeten die beiden Beamten der unglücklichen Frau, dass sie die Suche aufgeben müssten, da sich nicht die mindeste Spur des Verfolgten gezeigt hätte.

Schon zwei Tage vorher, am 13. Juni, hatte eines der Blätter den bekannten Scout Ben Morton, der sich zu dieser Zeit in Oregon aufgehalten hatte, um Hilfe ersucht, Morton kam erst am 17. Juni dazu, sich des Falles anzunehmen.

Und nun kam der zweite Schlag, der die Bevölkerung der Stadt und des ganzen Staates wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf: Ben Morton wurde in den Morgenstunden des 21. Juni auf der Station des kleinen Bahnhofes San Bernardino tot aufgefunden. Ein Messerstich hatte seinem Leben ein brutales Ende gesetzt.

Niemand hat etwas über die Recherchen, die Morton angestellt hatte, in Erfahrung bringen können. War er einer Spur gefolgt? Was hatte ihn nach San Bernardino gebracht? War es am Ende gar nicht der Fall Hyde gewesen? Oder war er dorthin verschleppt worden.

Das Rätsel blieb auf ewig ungelöst.

Unbeirrbar aber war der Glaube der Esther Hyde. Immer und immer wieder sagte sie zu Bekannten: Buster lebt!

Am 15. Juli erhielt die leidgeprüfte junge Frau mit der Post einen Brief, der aus einem ihr unbekannten Ort namens Lamesa kam. Es waren nur wenige Zeilen.

Mrs. Hyde!

Ich glaube, ich habe Ihren Mann vor einigen Tagen hier in Lamesa (Texas) gesehen, bedaure aber, keine näheren Angaben machen zu können.

Mike Morcroft

Die verzweifelte Frau hielt den Brief in zitternden Händen, las ihn immer wieder und presste ihn gegen ihr Herz. Dann lief sie zu Ronald Drake, der verwundert war, Esther Hyde zu so früher Stunde zu sehen, sich aber sofort aufmachte und das Schreiben zur Polizei brachte.

Aber die Nachforschungen der Polizei ergaben nichts und verliefen wie alle ihre bisherigen Aktionen im Sande. In Lamesa gab es keinen Mann dieses Namens, und auch in der Umgebung war er niemandem bekannt.

Wochen waren vergangen. Niemand in Los Angeles glaubte noch an die Rückkehr des verschollenen Buster Hyde.

Doch ein Mensch glaubte nach wie vor daran, dass Buster noch lebe: seine Frau Esther!

Sie stand an einem Dienstag vormittag am Küchenfenster und blickte hinaus in den kleinen Hof, in dem ihr kleiner Sohn Pieter mit zwei Nachbarskindern spielte.

Plötzlich hörte sie, wie Pieter einem der Nachbarsjungen mit piepsiger Stimme zurief:

»Ich bin Wyatt Earp! Und du bist Ike Clanton!«

»O ja!«, rief der andere Junge.

Während der kleine Pieter dem Nachbarsjungen mit rasenden Sprüngen über Kisten und Kästen durch den Hof nachsprang, stand die Frau bewegungslos da und lauschte in sich hinein.

Ein Name war an ihr Ohr gedrungen und hatte sich darin festgesetzt: Wyatt Earp!

Wie war das eigentlich mit Wyatt Earp? Gab es ihn wirklich? Oder war er die Erfindung irgendeines Geschichtenerzählers? Lebte der be­rühmte Sheriff, von dem man so vieles gehört hatte und dessen Namen die Kinder nun schon in ihren Spielen benutzten, oder war er längst in irgendeiner Westernstadt bei einem Revolverkampf gefallen? Zu wenig erfuhr man hier in den Städten der Küste von den Dingen, die im Inneren des Landes im sogenannten Wilden Westen vor sich gingen.

Die Frau wandte sich um, lief durch die Küche, durchquerte den Korridor und öffnete die Tür der Stube, in der ihr Schwiegervater saß und trübsinnig durchs Fenster starrte.

»Vater!«

Der Alte blickte auf.

»Ich möchte dich etwas fragen, Vater.«

»Ja, bitte.«

»Vielleicht ist es ganz dumm von mir, aber…«

»Sag schon, was du sagen willst, Esther. Es ist nie dumm, was du meinst.«

»Ich stand da vorhin in der Küche am Fenster, als Pieter mit den Boys von Bowmans spielte. Sie hatten wieder ihre üblichen Spiele. Du weißt schon, Cowboys und Sheriff und Banditen. Plötzlich rief Peter: Ich bin Wyatt Earp!«

Der Alte blickte ihr fragend ins Gesicht.

»Ich weiß nicht, Vater, es ist ja alles schon so unsinnig geworden. Und niemand hört mir mehr zu, wenn ich wegen Buster etwas sage. Aber uns ist doch jede Möglichkeit recht, wenn sie nur eine Möglichkeit ist.«

»Natürlich, Kind. Worauf willst du hinaus?« forschte der alte Mann nachsichtig.

»Gibt es diesen berühmten Sheriff eigentlich, von dem man schon so viel gehört hat?«

»Wyatt Earp?« fragte James Hyde verblüfft. Er griff sich an die Stirn, strich darüber, als wolle er irgendeinen Gedanken verscheuchen, und nickte dann langsam.

»Ja, natürlich gibt es ihn. Er lebt drüben im Westen irgendwo.«

»Er lebt also noch?«

»Ja. – Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Du glaubst doch nicht etwa, dass er dir helfen könnte?«

Da ballte die kleine Esther Hyde die Hände zusammen und presste die Zähne aufeinander.

»Ich weiß es nicht, Vater. Ich weiß nur, dass ich alles tun und bis ans Ende der Welt gehen würde, wenn es Buster etwas nützen würde.«

»Aber Kind, lass uns doch vernünftig sein. Dein Mann ist längst tot, verlass dich auf mich. Ich weiß es. Er war mein alles. Der liebe Gott allein weiß, wo es ihn hingetrieben hat. Er kommt nicht mehr zurück. Irgend etwas hat ihn von uns weggebracht, aus unserer Welt getrieben.«

»Vater, wo lebt dieser Wyatt Earp?«

Der Alte blickte wie aus tiefen Gedanken auf.

»Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube in Dodge City oder in Tombstone. Irgendwo da drüben im Westen. Aber…« Er erhob sich, kam auf sie zu, ergriff ihre Hände und presste sie gegen seine Brust. »Ich verstehe dich nicht, Esther. Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ein Westernsheriff hier irgend etwas ausrichten könnte? Der Mann ist ein grobschlächtiger Bursche, der sich mit Banditen herumschlägt, der gegen Pferdediebe ankämpft und gegen Mörder aller Sorten. Wie kannst du dir von ihm eine Hilfe versprechen? Ebensogut könntest du irgendeinen Baumwollpflückerboss oder einen Holzfäller-Chief drüben in Tennesse oder Ohio um Hilfe bitten.«

»Nein, Vater, es ist nicht so. Ich habe die Geschichten von Wyatt Earp gehört. Ich habe sie nicht nur gehört, sondern ich habe sie auch gelesen. Und zwar in unseren Zeitungen. Buster selbst hat mir abends zuweilen von Wyatt Earp vorgelesen. Von seinen Kämpfen gegen die Clanton-Gang, gegen Billy Hoogater, gegen den Mörder Donegan, gegen den Rancher Astor. Und zuletzt von den Gefechten gegen die Kapuzenmänner. Ich weiß jetzt, dass ich all dies nicht umsonst erfahren habe. Ich werde den Sheriff Earp um Hilfe bitten.«

Der Alte schüttelte den Kopf. Er mochte seine Schwiegertochter nicht noch mehr entmutigen.

»Gut, wenn du meinst, können wir versuchen, ihm einen Brief zu schreiben.«

»Lass nur, Vater, ich werde zu Ronald gehen und ihn darum bitten.«

Ronald Drake blickte verstört auf, als Esther Hyde an diesem Abend bei ihm hereinschneite. Er war gerade damit beschäftigt, einen Plan für eine Ölbohrung in der Wüste Nevada anzufertigen.

Das Lächeln, dass er in letzter Zeit immer für Esther fand, fiel sofort aus seinem Gesicht, als sie ihm ihre Bitte vorgetragen hatte.

»An wen?«, brach es verblüfft aus ihm hervor. »An Wyatt Earp?«

Auch er fragte sich unwillkürlich, ob es diesen berühmten Sheriff Earp überhaupt gab. Aber dann erinnerte er sich daran, dass sein Name oft in den Zeitungen stand, und zwar in Verbindung mit schweren Revolverkämpfen, die drüben im Inneren des Landes stattgefunden hatten. Dieser Westmann hatte eine ganze Menge Verbrecher zur Strecke gebracht, das stimmte. Aber wie konnte Esther glauben, dass ausgerechnet dieser Mann ihr helfen könnte!

»Ich bitte dich, Esther, überlege dir das noch einmal. Der Mann lebt drüben in irgendeiner Cowtown unter Banditen und verkrachten Existenzen. Er ist ein Revolvermann mit einem Stern und…«

»All dies hat mir Vater schon gesagt, ich weiß es. Und ich wäre ganz sicher nicht auf diesen Sheriff verfallen, wenn ich nicht den Brief aus Lamesa bekommen hätte.«

»Aber das war doch eine fingierte Sache.«