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Heinz G. Konsalik

Das Herz der 6. Armee

Roman

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10

Wieder war alles aufs Beste vorbereitet, als Dr. Körner in Gumrak eintraf, genau wie damals in Pitomnik, als er vor einem geschmückten Holztisch stand und ein Jawort sagte und Oberst von der Haagen ihn mit Marianne traute. Mit Marianne, die zu dieser Stunde schon mit einem Lungenriss im Keller des Hauses Lortzingstraße 26 lag. Eine Trauung mit einer Toten.

Diesmal waren es drei Holztische, die nebeneinanderstanden und eine lange Tafel bildeten. An der Hinterwand hing, mit Heftzwecken festgemacht, die Reichskriegsflagge. Man hatte sich bemüht, Atmosphäre zu schaffen … mit deutscher Gründlichkeit und deutschem Sinn für den äußeren Ausdruck der vorhandenen oder angenommenen inneren Werte war der Barackenraum zum Gerichtssaal hergerichtet worden. Sogar ein Führerbild hing hinter dem Stuhl des Anklägers … unter den strengen Augen des größten Feldherrn aller Zeiten sollte die Verurteilung einer solch kleinen Wurst, wie es der Assistenzarzt Dr. Körner war, vor sich gehen. Außerdem wollte man dem Barackenzimmer die plumpe Nüchternheit nehmen; schließlich war es ein Offizier, der – das stand fest – zum Tode durch Erschießen verurteilt würde. Für einen Landser hätte man auf die Details verzichtet, bis auf das Führerbild. Es beruhigte auch den hartgesottensten Kriegsgerichtsrat, wenn er beim Urteilsspruch dem ins hehre Auge blickte, in dessen Namen er das aussprach, was man als Recht ansah.

Dr. Körner behielt seine Offizierseskorte bei, als er die Baracke betrat. Ein Leutnant begrüßte ihn und stellte sich ihm als Anwaltsassessor im Zivilberuf vor. Er war bereit, die Verteidigung des Kameraden zu übernehmen. Dr. Körner gab ihm die Hand und schüttelte den Kopf.

»Danke, ich verteidige mich selbst.«

»Wie Sie wünschen, Herr Kamerad.« Der junge Leutnant atmete auf. Es war undankbar, als Pflichtverteidiger einen Fall zu übernehmen, der von vornherein faul war. Dr. Körner wurde in einen Nebenraum geführt und durfte sich auf einen Stuhl setzen. Die beiden Offiziere blieben bei ihm. »Sie haben noch zwei Stunden Zeit«, sagte der eine zu ihm. »Man hat Ihnen diese Frist eingeräumt, um sich mit Ihrem Verteidiger beraten zu können. Wollen Sie etwas lesen? Mit den letzten Flugzeugen ist die Neujahrsnummer des ›Reich‹ eingeflogen worden. Man schreibt, dass das ganze deutsche Volk unendlich stolz auf die 6. Armee ist …«

Dr. Körner verzichtete auf eine Antwort. Er setzte sich ans Fenster und starrte hinaus in die eisklirrende Nacht.

Zu dieser Zeit war Stabsarzt Dr. Portner auf einer großen Rundreise. Mit der Verbissenheit eines Vaters, der seinen Sohn zu retten versucht, fuhr er zuerst zu Oberst von der Haagen, dann zu dem amtierenden Kriegsgerichtsrat, dann zum Oberstarzt und schließlich zu General Gebhardt selbst. Überall sagte er seinen Spruch her, der darin gipfelte, dass er schrie: »Sind denn hier alle verrückt?! Dreihunderttausend Männer gehen vor die Hunde, verhungern, verfaulen und krepieren wie räudige Ratten … und hier macht man eine Komödie mit Verhandlung, Verurteilung und noch mehr solchem Piss! Was soll das? Wissen Sie, dass der Ausfall eines Arztes an der Front den Tod von Hunderten von Landsern bedeuten kann? Für diesen Tod werde ich dann Sie verantwortlich machen!«

Das war gewagt, Dr. Portner wusste es. Bei seinem Oberstarzt fand er Gehör, aber keine Hilfe. »Da kann ich gar nichts machen, lieber Kollege … das ist nun eine reine Militärstrafsache und nichts Medizinisches mehr.« Auch General Gebhardt hörte sich Dr. Portner geduldig an. »Wissen Sie, Herr Stabsarzt«, sagte er nach der Rede Portners, »dass auch Sie nahe an der Mauer stehen? Mit solchen Reden? Aber beruhigen Sie sich … ich werde der Verhandlung als Beobachter beiwohnen …«

Pünktlich nach zwei Stunden begann die Verhandlung. Das Gericht saß hinter den deckenbelegten Tischen vor der Reichskriegsflagge, der Ankläger, ein Major, blätterte nervös in den wenigen Papieren. Oberst von der Haagen als Erster Beisitzer putzte seine Brillengläser, der Kriegsgerichtsrat saß steif und verschlossen hinter seiner Akte. Er ärgerte sich über den Besuch Dr. Portners und das, was er hatte anhören müssen. Außerdem hatte er Ausflugssorgen. Er gehörte nicht zu den Spezialisten, die man aus dem Kessel entfernte, um sie anderen Armeen zuzuführen. Für ihn war demnach sicher, dass er den Zusammenbruch miterleben oder die Befreiung mitfeiern würde … Das Erste schien ihm sicherer, und das machte ihn nervös. Man kann nicht erwarten, dass ein Kriegsgerichtsrat, der über mangelndes Heldentum zu Gericht sitzen muss, auch selbst ein Held ist. Hier trennen sich Beruf und Neigung ganz gewaltig.

Dr. Körner wurde in das Zimmer geführt. Auf den wenigen Zuschauerplätzen hockten Dr. Portner, der Oberstarzt und General Gebhardt. Außerdem der junge Assessor, dessen Verteidigung Körner abgelehnt hatte.

Nach dem Betreten des Zimmers ging alles sehr schnell für Körner. Vor allem Oberst von der Haagen beschleunigte das Verfahren mit der Feststellung: »Der Angeklagte ist nicht nur verstockt, er ist auch frech!«

Dieser Charakterisierung war vor wenigen Minuten eine kleine Unterhaltung vorausgegangen.

Oberst von der Haagen war zu Dr. Körner in das ›Wartezimmer‹ gekommen und hatte eine Pistole auf den Tisch gelegt. Der Assistenzarzt hatte sie stumm zur Seite geschoben. Oberst von der Haagen wurde rot im Gesicht.

»Ein Offizier sollte den Mut und den Schneid haben, sich selbst zu richten!«, schrie er. Dr. Körner sah auf. Sein Blick war so sprechend, dass von der Haagen ein Kribbeln unter der Kopfhaut spürte.

»Wenn dem so ist«, sagte Dr. Körner langsam, »wenn Mut und Schneid die Grundlagen des Offiziersseins bilden, dann ist die Führung der 6. Armee eine Ansammlung von Schwächlingen! Wo ist der Mut, dem Verbrecher mit der Fliege unter der Nase die Wahrheit zu sagen? Wo ist der Schneid, sich über sinnlose Befehle hinwegzusetzen und durchzubrechen? Noch könnten wir es. Ich komme von vorn, ich kenne die Moral der Truppe und ihren wirklichen Kräftezustand … es wäre möglich, nach Westen durchzustoßen …«

»Wie können Sie kleiner Kacker das beurteilen?«, brüllte Oberst von der Haagen. »Diese typische deutsche Biertischstrategie! Dieses Heereführen aus der Mäuseperspektive! Hier geht es um globale Dinge, nicht um ein Fleckchen Dreck, das gerade Stalingrad heißt! Unser Führer hat allein den Blick, diese Dinge weltweit zu sehen … Sie hocken in Ihrem Keller und blicken auf zerrissene Gedärme. Ob das der richtige strategische Blickwinkel ist, möchte ich bezweifeln! Aber Ihre Haltung ist bemerkenswert! Die passt zu Ihnen! Defätismus, Zersetzung der Wehrkraft, Verstümmeln anderer, damit Sie Ihren feigen Arsch retten können … das haben wir gern!« Oberst von der Haagen tippte auf den Tisch, auf dem noch immer die Pistole lag. »Mein letztes Angebot an einen deutschen Offizier! Noch sind Sie es, leider Gottes!«

»Danke.«

»Was danke? Sie wollen vom Freitod keinen Gebrauch machen?«

»Nein! Ich möchte rechtskräftig verurteilt werden. Vielleicht überleben einige Kameraden dieses grandiose Verbrechen an der 6. Armee … sie werden später einmal Rechenschaft fordern, auch für mich!«

»Unerhört!« Oberst von der Haagen steckte seine Pistole wieder ein. »Haben Sie das gehört, meine Herren?« Er sah die beiden stummen Bewachungsoffiziere an. »Ist solche Hundsfötterei überhaupt noch zu übertreffen? Wie kann Deutschland siegen, wenn solche Elemente unter uns sind!«

Nun standen sie sich wieder gegenüber … der Angeklagte und der Beisitzer des Kriegsgerichts. Zwei Welten, zwei Generationen, zwei verschiedene Geister. Der Kriegsgerichtsrat versuchte, etwas zu sagen, die Verhandlung überhaupt erst nach der Form beginnen zu lassen … Feststellung der Person, Aussagen zur Person, Anklage, Aussage, Zeugenvernehmung … er kam nicht dazu. Oberst von der Haagen, einmal im Schwunge heiliger Vaterlandsbegeisterung und Empörung, wischte mit einer Handbewegung alle Einwände einfach weg.

»Was halten wir uns auf, meine Herren?«, dröhnte er. »Draußen sterben in dieser Stunde unsere tapferen Kameraden, und hier vor uns steht ein Hundsfott, der diese Opfer bespuckt und verrät, indem er ihr Heldentum in den Dreck zieht! Meine Herren … mir ist völlig gleich, ob ich jetzt plädiere, dem Ankläger alles vorwegnehme, meine Kompetenzen als Beisitzer überschreite, meine Neutralität aufgebe … mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich denke, dass so etwas wie dieser junge Schnösel dort den Rock des Führers trägt, den feldgrauen Rock, in dem unsere Väter – und ich selbst – Verdun anrannten, mit einem Hurra und dem Deutschlandlied auf den Lippen Langemarck stürmten, und Polen, Frankreich und Norwegen besiegten und der Welt zeigten, was ein deutscher Soldat vermag! Bitte, unterbrechen Sie mich nicht, Herr Kriegsgerichtsrat … ich bin empört, und ich weiß, dass Millionen meiner deutschen Brüder diese Empörung teilen! Man überlege sich das bloß: Da geht ein Arzt hin und macht zwei seiner Freunde krank, um sie aus Stalingrad wegzubringen! Ein Arzt! Macht krank! Allein das ist schon genug …«

Dr. Körner hatte sich bei den letzten Worten erhoben. General Gebhardt beugte sich vor, auch Dr. Portner hielt den Atem an.

»Ich wusste nicht«, sagte Dr. Körner klar in die plötzliche Stille hinein, »dass es die Pflicht eines Arztes ist, Zerfetzte so weit zurechtzuflicken, dass sie wieder fähig werden, sich erneut zerfetzen zu lassen. Es ist meine Pflicht als Arzt, zu heilen … aber in diesem Falle heile ich, nicht damit dieser Mensch weiterleben kann, sondern damit man ihn wieder in die Hölle steckt! Ist das nicht eine Mitschuld am Mord?!«

Oberst von der Haagen sah hochrot zu General Gebhardt hinüber. »Das ist nicht zu überbieten«, stotterte er. »Meine Herren … das ist… das ist … dafür gibt es gar keine Worte … Unseren Heldenkampf als Mord zu bezeichnen … warum sitzen wir überhaupt noch herum?« Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war erschöpft und völlig aufgelöst vor Empörung. Der Verhandlung folgte er von diesem Augenblick an nur noch als Statist.

Das Verhör des Feldwebels der Feldgendarmerie Emil Rottmann war ebenfalls kurz. Mit flinken, lauernden Mausaugen stand er vor den Richtern, berichtete knapp über seine Beobachtungen, sagte sogar aus, dass er selbst den Gedanken gehabt habe, sich krank machen zu lassen, aber nicht, um abzuhauen, sondern um den Herrn Feldwebel und den Herrn Assistenzarzt damit einwandfrei überführen zu können … wenn sie getan hätten, was er wollte.

»Das ist lobenswert!«, sagte Oberst von der Haagen und nickte. »Das ist nicht nur kriminalistisch, sondern auch deutsch gedacht! Das Übel bei den Hörnern fassen, unter selbstlosem Einsatz. Brav, der Mann!«

Dr. Körner sah Emil Rottmann nicht an, als dieser nach seiner Aussage wieder gehen durfte. Nur Dr. Portner sagte, als Rottmann an ihm vorbeiging: »Im Kessel von Stalingrad sind also doch noch nicht alle Schweine geschlachtet worden …«

Rottmann wurde blass und rannte aus dem Zimmer.

Die große Rede Dr. Körners fiel aus. Die Hintergründe, die Familiengeschichte der Wallritz’, sein eigenes Schicksal … niemand interessierte sich dafür. Die flammende Anklage des Angeklagten kam gar nicht zum Lodern … der Kriegsgerichtsrat sah auf die Uhr, es wurde Zeit zum Urteil. Wenn ein Fall so klar lag, der Angeklagte sogar geständig war, war es sinnlos, psychologische Studien zu betreiben. Außerdem kamen gegen Morgen die sowjetischen Störflieger, da war man im Bunker besser aufgehoben als in einer Baracke mit 10 Zentimeter dicken Holzwänden.

Auch eine Beratung im üblichen Sinne war nicht nötig. Man sah sich an und nickte sich zu. Alles klar. Mit regungslosem Gesicht hört Dr. Körner das Urteil.

»… ehrlos … nicht würdig der Uniform … Zum Tode durch Erschießen verurteilt… Das Urteil wird am selben Tag um sechs Uhr früh vollstreckt…«

Dr. Portner sah auf seine Armbanduhr.

»Das ist in eineinhalb Stunden«, sagte er heiser und sah General Gebhardt an.

Der General erhob sich und verließ stumm das Gerichtszimmer.

Die beiden Begleitoffiziere stellten sich neben Dr. Körner. Er war jetzt ein Delinquent. Mit hocherhobenem Kopf ging Oberst von der Haagen an ihnen vorbei, die anderen Herren folgten. Stabsarzt Dr. Portner trat auf seinen Assistenzarzt zu.

»Leb wohl, mein Junge«, sagte er mit zitternder Stimme. Er gab ihm die Hand und hielt sie fest. Er spürte, wie auch Dr. Körner innerlich bebte. »Besser so, als verhungern oder in den Trümmern der Stadt verfaulen … Wir nehmen vielleicht alles zu wichtig in einer Welt, die kein Gewissen mehr kennt …«

Dr. Körner nickte. Plötzlich umarmte er Dr. Portner und drückte ihn an sich.

»Wenn Sie wüssten …«, sagte er mit schwankender Stimme, »wie gern ich lebte … wie gern …«

Mit Olga Pannarewskaja war nichts mehr los. Der Tod Jewgenij Alexandrowitsch Kubowskis hatte sie aus der Bahn geworfen. Sie saß im Operationsbunker herum, stierte vor sich hin, operierte wie eine Maschine und reagierte nicht auf die Fragen des Chirurgen Sukow. Einmal nur sagte sie müde:

»Andreij Wassilijewitsch, bitte, reden Sie nicht immer auf mich ein. Genauso gut könnten Sie gegen die Kellerwand reden. Ich bin innerlich tot, bitte, begreifen Sie das …«

Selbst mit vaterländischer Begeisterung war ihr nicht beizukommen. Die Berichte aus dem Armeehauptquartier waren hoffnungsvoll. Noch im Januar würde die Rote Armee zum letzten großen Angriff übergehen. Die Truppen standen gewissermaßen Gewehr bei Fuß, warteten auf ein besseres Wetter und auf das Herankommen neuer Artillerie und neuer Panzerbrigaden. Im Januar, so hieß es überall, vom Traktorenwerk »Dsershinski« bis Beketowka, vom Steilufer der Wolga bis zur Kesselnaht bei Kalatsch, würde das große Aufräumen beginnen, das Eindrücken des Kessels, die Vernichtung der deutschen 6. Armee, das Zudrücken der Zange, in der 300 000 Menschen zermalmt wurden. Aus den unerschöpflichen Weiten Sibiriens zogen neue Divisionen nach Stalingrad, setzten über die Wolga, marschierten rund um den Kessel und legten einen stählernen Reifen um die hungernden, frierenden, hoffnungslosen, sterbenden, in Erdlöchern und Kellern verschimmelnden Deutschen.

»Zu Ostern, Genossin Olga, werden Sie durch eine freie Stadt gehen«, sagte Chefchirurg Sukow, als er von einer Besprechung bei General Shukow zurückkam. »Das sollte Sie erfreuen.«

»Warum?« Sie sah den Chefchirurgen aus den Augen eines sterbenden Rehes an. »Ich werde nie mehr glücklich sein, solange es noch einen Deutschen gibt …«

»Ein großes Programm, Genossin! Immerhin sind es über sechzig Millionen!«

»Die Erde ist tief genug, um auch sie zu begraben.«

»Ihr Hass ist sinnlos. Wachen Sie auf, Olga!« Sukow rauchte eine seiner süßen tatarischen Zigaretten und trank dazu grünen Tee. Für ihn war die Trauer der Pannarewskaja um Major Kubowski eine Farce. In einer solchen Zeit wie der jetzigen galt ein einzelner Mann recht wenig. Man musste weiterdenken, und das hieß: In Kürze werden sich die Lazarettkeller bis zur Decke füllen, man wird Tag und Nacht operieren müssen, auch eine siegreiche Offensive stößt zerfetzte Leiber aus wie ein Rasenmäher, an dessen Auswurf das geschnittene Gras herausspritzt.

Olga Pannarewskaja handelte und wachte auf. Eines Tages war sie unterwegs, weg aus dem »Tennisschläger«, hinein in die Trümmer der Stadt. Einige Leichtverwundete berichteten, man habe sie zuletzt mitten im Stoßtruppkampfgebiet, am Obelisk für die Verteidiger von Zarizyn, gesehen. Sie kroch durch die Keller und schleppte Wasser zu den Frauen und Kindern, die noch immer unter den Trümmern lebten, oft zwischen den Fronten, Tag und Nacht betrommelt von den Granaten.

»Lasst sie«, sagte Chefchirurg Sukow, als man fragte, ob man eine Meldung darüber machen sollte. »Heute ist man an jeder Stelle wichtig, ob hier oder am Obelisk … die Genossin Pannarewskaja hat bloß den Arbeitsplatz gewechselt.«

So war es in den ersten Januartagen. Die schwarzhaarige Ärztin lag zwischen den Trümmern und schoss. Unvorstellbar war der Hass, der sie beherrschte, grenzenlos die Grausamkeit, die sich in ihr auftat. Aus einem Täubchen war ein Adler geworden, ein Geier, der nicht auf das Aas wartete, sondern sich auf die Lebenden stürzte. Einer hungernden Wölfin gleich zog sie durch Stalingrad, schön und gnadenlos, in Dreck gebadet, aber mit großen, glänzenden, fast fiebrigen Augen. Wo sie gesehen wurde von deutschen Landsern, gab es nur einen kurzen verwunderten Blick. Dann kam der Tod über sie, gespien aus dem Lauf einer Maschinenpistole.

Ein einziges Mal wurde sie schwach. Sie schlich durch die Ruinen eines Lagerhauses und stand plötzlich einem jungen deutschen Soldaten gegenüber. Sie waren beide überrascht, sahen sich an und wussten, dass einer von ihnen sterben musste. Der junge Deutsche saß an einem kleinen Feuer und briet ein Stück Fleisch. Es roch sehr gut, nur die Form des Bratens war ungewöhnlich. Ein schmaler, länglicher Körper, durch den eine Eisenstange gestoßen war. Olga Pannarewskaja zog die Schultern hoch. Er will eine Ratte essen, dachte sie. Er hat Hunger und isst eine Ratte. Wie jung er ist, und wie vergreist er aussieht. Blonde Haare hat er, blond wie die Weizenfelder in der Ukraine. Und seine Augen liegen tief, der Totenschädel eines Kindes ist es …

Sie hob die Maschinenpistole. Der junge Deutsche sah in das runde schwarze Loch des Laufes, sah in das Auge des Todes. Nie war er sich bewusst geworden, was es heißt, zu sterben. Solange er im Bunker saß, zwischen den Trümmern hockte, selbst schoss und beschossen wurde, stürmte und kroch, sich eingrub und vorwärtsrobbte, solange er Teil eines Infernos war, hatte er nie darüber nachgedacht, dass er sterben könnte. Aber jetzt wusste er es, jetzt sah er seinen Tod, er sah den Zeigefinger, der sich am Abzug nach hinten bog … da fiel er auf die Knie, hob bettelnd, flehend die Hände und weinte … weinte …

»Njet…«, heulte er wie ein kleiner Hund, den man getreten hat und der nun seine Pfötchen schüttelt und die Welt nicht mehr versteht, dass man ihn, den Kleinen, trat. »Njet … pashalujsta … njet …« Die Tränen kollerten ihm über die eingefallenen, von hellem Bartflaum überwucherten Wangen. Über dem Feuer brutzelte seine aufgespießte Ratte, das Stückchen Fleisch, auf das er sich wie auf eine Bescherung gefreut hatte. Fleisch, endlich wieder Fleisch nach Tagen voller Wassersuppen und 50 Gramm glitschigem Brot, nach Tagen mit Fladen aus Fußpuder und Sägemehl. Fleisch, und wenn es auch nur eine Ratte war … der Magen hatte sich abgewöhnt, Ekel zu empfinden. Er spürte bloß Hunger, bohrenden, stechenden Hunger, der die Eingeweide glühen ließ.

»Njet …«, schrie er noch immer. »Njet … mi lostij …« (Gnade). –

Olga Pannarewskaja schoss nicht. Warum, das wusste sie selbst nicht. Sie zeigte auf die schmorende Ratte, und es fror sie wieder über den ganzen Körper.

»Chotschesch kuschatj?«, fragte sie. (Willst du essen?)

Der Junge nickte. Er sah auf die braungebratene Ratte und schluckte. Hinterher wird sie mich erschießen, dachte er. So grausam sind sie. O mein Gott, mein Gott … Er fiel wieder auf die Knie und hielt sich die Augen zu. So wartete er einige Minuten, aber niemand schoss. Als er die Hände wegnahm, war er allein. Da sprang er auf, ließ seine Ratte über dem Feuer und hetzte durch die Trümmer zurück zu seinem Bunker. Kurz vor dem Kellereingang, an einer flachen Straßenstelle, fiel ein einzelner Schuss. Er traf ihn in den Rücken, schleuderte ihn seitlich auf einen Haufen Steine, er zuckte noch einmal und lag dann still.

Olga Pannarewskaja sah nach oben zu einem Haus. Dort saß in einer Fensterhöhle ein Scharfschütze. Unter der dicken Lammfellmütze grinsten zwei geschlitzte Augen zu ihr hinab. Er winkte sogar, der kleine Reiter aus der Kirgisensteppe. Sieh, Genossin, so gut kann man bei uns schießen. Ich bin Piotr Kulubaj, und ich schieße einen Spatzen vom rasenden Pferd.

Olga Pannarewskaja winkte nicht zurück. Sie wandte sich ab und ging langsam nach Osten durch die leeren Trümmer. Sie kam an einem zerschossenen Panzer vorbei, die Leichen der sowjetischen Panzersoldaten hingen halbverbrannt aus den Luken. Über den Ketten lag ein junger Rotarmist, blond wie der deutsche Junge, halb noch ein Kind. Sein Mund war aufgerissen zu einem furchtbaren, unmenschlichen Sterbensschrei. Aber der Tod war schneller gewesen und hatte den Schrei erstarren lassen.

Die Pannarewskaja blieb vor dem Toten stehen und sah ihn an. Die blonden Haare wehten im Schneewind über den aufgerissenen Mund, die blauen Augen starrten sie an, als wollten sie fragen: Warum, Genossin, warum? Warum verbrannte ich lebendigen Leibes?

»Warum?«, schrie die Pannarewskaja laut. »Warum?« Es war eine dumme Frage, denn noch nie hat ein Politiker sie beantwortet … Wie konnten es da die Toten, der Schnee, das Eis, der kasachstanische Wind, die Trümmer, der trostlose graue Himmel, ja selbst Gott …?

Dr. Körner wartete auf seine Exekution.

Er saß wieder in dem kleinen Nebenzimmer und rauchte. Dr. Portner versuchte unterdessen verzweifelt, eine Verbindung mit Generalarzt Professor Dr. Abendroth zu bekommen. Aber die Leitung war dauernd besetzt oder gestört. Schließlich war sie ganz tot, es meldete sich der Oberquartiermeister der 6. Armee und nachher der Ia der Armee. Dr. Portner fluchte und hängte ein.

Zwanzig Minuten vor der Urteilsvollstreckung – man hatte aus Trossleuten bereits ein Peloton zusammengestellt und den Erschießungsplatz bestimmt, eine Mauer hinter dem Bahnhof von Gumrak – trat der Ankläger des Kriegsgerichts in das kleine Zimmer.

»Der Herr General hat das Urteil bestätigt, aber die Vollstreckung ausgesetzt.« Er sah auf einen Bogen Papier und dann auf den erstaunten Körner. »Sie haben sich als Strafgefangener zu betrachten und bleiben unter Bewachung, bis es die Normalisierung der Lage möglich macht, das Urteil zu vollstrecken. Sie werden heute Nacht noch nach Stalingrad zurückkehren und weiterhin Dienst als Truppenarzt tun.«

Der Major grüßte kurz und verließ ohne weiteren Kommentar das Zimmer. Er hinterließ drei ratlose Offiziere.

General Gebhardt hatte eine halbe Stunde vorher eine kurze und sachliche Aussprache mit dem Kriegsgerichtsrat und den Beisitzern, an der Spitze Oberst von der Haagen. Er empfing die Herren in seinem Befehlsstand, einem großen, mit Balken abgestützten Erdbunker am Tatarenwall. Auf einem Brettertisch lag eine Karte des Stalingrad-Kessels. Rote und blaue Striche zeigten den Frontverlauf an.

»Die Verhandlung gegen diesen Dr. Körner war ja ein Meisterstück«, sagte General Gebhardt und stützte sich auf die Karte. »Vor allem Sie, Herr Oberst, haben sich mächtig ins Zeug gelegt …«

»Ich danke Herrn General«, sagte von der Haagen stolz. »Ich war außer Atem über so viel Hundsfötterei …«

»Wenn Sie sonst nichts atemlos werden lässt …«

»Wie meinen Herr General?« Oberst von der Haagen ahnte plötzlich Unangenehmes. Er nahm im Voraus eine stramme Haltung ein.

»Der kleine Assistenzarzt hat gesagt, was jetzt … zigtausend unserer Landser denken. Oder wissen Sie das nicht, meine Herren? Er hat gesagt, was auch ich weiß … Wie ist das nun, Herr Oberst, bin ich ein Defätist?!«

»Herr General …« Von der Haagen erbleichte.

»Wir sind am Ende, meine Herren! Ich nehme an, dass Sie Kartenlesen gelernt haben. Bitte, werfen Sie einen Blick auf die Lage. Sie ist nicht beschissen, sie ist, offen gesagt, unser Arsch mit Grundeis! Wir kommen nicht mehr heraus, das dürfte wohl klar sein! Man hat uns verraten, man hat die ganze 6. Armee einfach verraten, mit Sprüchen hingehalten, belogen, und wir haben diese Lügen geglaubt, vor allem die Armeeführung mit Paulus an der Spitze. Nun dämmert es allen, dass der glorreiche Führer kaltblütig dreihunderttausend Mann opfert, um ein Prestige zu retten, um rückwärtig neue Stellungen auszubauen, um einen sogenannten Heldenkampf zu haben, nach dem die Propaganda schreit. Wir sind bereits tot, meine Herren, ausgebucht bei der Heeresleitung! Herr Oberst – ist das Wehrkraftzersetzung, so etwas zu sagen?«

»Wenn Herr General das sagen, dann …«

»Reden Sie keine Scheiße, von der Haagen! Ich weiß nicht, woher Sie das Korsett nehmen, noch so aufrecht zu stehen …«

»Meine Liebe zum Vaterland …«

»Sie werden diese Liebe bei vierzig Grad Kälte in einem Granattrichter begraben! Wissen Sie, dass der Russe ungeheure Kräfte an allen Fronten massiert? Rund um den Kessel stehen frische Divisionen, neue Artillerieregimenter, Panzerbrigaden, Stalinorgeln, Werferbataillone, Schützenregimenter. Die Flugzeuge, die noch einfliegen, melden von großen Truppenbewegungen an allen Abschnitten. Es ist eine Frage von Tagen, und auch Sie liegen in einem Loch und schießen.«

»Aber die 4. Panzerarmee, die uns heraushauen soll.« Oberst von der Haagen schwitzte plötzlich. »Und das 48. Panzerkorps … die Armeeabteilung Hollidt … Man hat uns doch beim Armee-Oberkommando gesagt, dass –«

»Die 4. Panzerarmee ist auf dem Rückzug nach Süden, auf den Sal zu, die Armeeabteilung Hollidt ist auf der Flucht zum Donez, das 48. Panzerkorps ist bis Tazinskaja zurückgedrängt worden, mit anderen Worten: Bis zum nächsten deutschen Soldaten außerhalb des Kessels sind es über zweihundert Kilometer Luftlinie! Und dazwischen liegen elf sowjetische Armeen! Nun, von der Haagen, Sie Stratege … wie würden Sie dieses Problem lösen?«

Oberst von der Haagen schwieg konsterniert. Er starrte auf die Karte, er wusste nicht, warum man jetzt das alles sagte.

»Herr General …«, stotterte er. »Wenn ich Herrn General fragen dürfte …«

»Ich möchte etwas fragen: Was ist wichtiger in unserer Lage – ein lebender oder ein toter Arzt?«

Der Kriegsgerichtsrat war der Erste, der begriff. Ein Juristengehirn ist geschult für Zwischentöne.

»Natürlich ein lebender, Herr General. Ich möchte zu bedenken geben, dass ich nach dem Gesetz verpflichtet war …«

»Wir alle haben jetzt eine Verpflichtung!«, brüllte Gebhardt plötzlich. »Ich setze den Vollzug des Urteils aus! Mir ist ein Dr. Körner, der im Keller von Stalingrad operiert, lieber als ein kraft des Gesetzes exekutierter! Zugegeben, er hat nicht korrekt gehandelt. Aber ist es korrekt, wenn unser großer Führer dreihunderttausend Männer einfach abschreibt? Von der Haagen, wie denken Sie darüber?!«

»Ich bitte Herrn General –«

»Ich bitte, ich möchte …« General Gebhardt sah auf seine buntbemalte Karte. »Herr Oberst!«

»Herr General.«

»Angesichts der kritischen Lage unserer Truppen und des heroischen Heldenkampfes bis zur letzten Patrone, den unsere tapferen Landser gegen eine Übermacht führen, sehe ich mich nicht mehr in der Lage, meinen Stab weiter in alter Stärke beizubehalten. An der Front wird jedes Gewehr gebraucht. Wo der Tod am Tisch sitzt, hört die Generalstabsarbeit auf. Ich übertrage Ihnen hiermit das seit gestern verwaiste Panzergrenadier-Regiment. Sie wissen, wo sich der Kommandanturstand befindet. Herr Oberst, ich wünsche Ihnen viel Glück in Stalingrad …«

Oberst von der Haagen nahm die Hacken zusammen und grüßte. Seine Hand bebte dabei, seine Augen waren starr.

»Ich darf Herrn General meinen Dank aussprechen.«

»Bitte, bitte. Ihre Siegeszuversicht wird sich auf das Regiment übertragen. Nach den neuesten Bestandsmeldungen beträgt die Regimentsstärke noch sechshundertzweiundvierzig Mann. Sieg Heil!«

Oberst von der Haagen verließ den Bunker. Er ging mit durchgedrückten Knien, steif wie eine aufgezogene Puppe. Erst draußen, in der eisigen Nacht, umheult vom Sturm, gepeitscht vom verharschten Schnee, atmete er tief auf. Und mit diesem Atemzug sog er die Angst in sich hinein.

Das ist das Ende, dachte er. Gott gebe mir die Kraft, jetzt anständig unterzugehen …

Den Tag über lag Gumrak unter den Bomben russischer Störflieger. Außerdem kamen neue Verwundetenkolonnen in das Dorf, armselige Skelette, fiebernd und stöhnend, dem Wahnsinn nahe, nach dem Ausladen im Schnee herumkriechend, denn nirgendwo war mehr Platz für sie. Die Zelte waren überfüllt, die Baracken, die Eisenbahnwaggons. Man zerrte die Sterbenden bereits hinaus in das Eis, man wartete nicht mehr, bis sie gestorben waren … Platz brauchte man, Platz für die, die noch Hoffnung hatten, bis man auch sie wegzerrte, an den Beinen, an den Händen, in den Schnee warf, auch wenn sie schrien und beteten, fluchten und wimmerten, bettelten und weinten.

Knösel war wieder auf Tour.

Während Dr. Portner bei Körner saß, ein glücklicher Vater, der seinen Sohn vom Galgen geschnitten hat, bevor die Schlinge sich zuzog, streifte Knösel durch Gumrak. Sein Ziel, etwas Essbares zu finden, war unerreichbar. Die Vorräte wurden von Feldgendarmen bewacht, die auf alles schossen, was sich angriffslustig nähern würde. Dafür fand Knösel etwas, was seinen Sinn für die Zukunft bewies. In einer Baracke der Luftwaffe am Rande des Rollfeldes fand er ein Paket zusammengelegtes Leinen. Es sah wie eine riesige Tischdecke aus, braungrundig mit einem weißen Muster, das Knösel nicht erkennen konnte, denn ihm blieb keine Zeit, die Riesendecke zu entfalten. Stoff kann man immer gebrauchen, dachte er bloß. Und vor allem kann man ihn in Streifen reißen und Binden daraus machen. Er überlegte nicht lange und nahm die Riesendecke mit. Sie war schwer, und Knösel war außer Atem, als er sie endlich auf dem Rücksitz des Kübelwagens verstaut hatte.

Wenige Minuten später standen drei Luftwaffenoffiziere ratlos vor dem leeren Fleck, auf dem noch vor Kurzem der Stoffballen gelegen hatte.

»Wer klaut denn hier Markierungstücher?!«, schrie einer von ihnen. »Himmel, Arsch und Wolkenbruch … man muss wie ’ne Glucke auf den Eiern sitzen, sonst klauen die uns noch den Furz aus ’m Hintern …«

In der folgenden Nacht zog die kleine Kolonne von Gumrak zurück nach Stalingrad-Stadt. Dr. Portner, Dr. Körner, Knösel, der Unterarzt und Emil Rottmann. Auch ihn hatte es hart getroffen. Er war abkommandiert worden, Dr. Körner zu bewachen. Die Rechnung, für seine Aussage in Gumrak bleiben zu dürfen, war nicht aufgegangen. Er kam zurück in die Hölle. Stumm hockte er neben Dr. Körner in dem Kübelwagen. Er hatte Angst. Nicht vor den Sowjets, nicht vor den Panzern und Granatwerfern, den MG-Schützen und den Stalinorgeln … er hatte Angst vor Knösel. Als er sich bei Dr. Portner zurückgemeldet hatte, sah ihn dieser wortlos an und drehte sich um. Knösel aber war hinter ihn getreten und hatte gesagt: »Mein Junge … es soll komische Wesen geben, die auf ’m Zahnfleisch spazierengehen. Kennste einen davon …?«

Emil Rottmann hatte geschwiegen. Er wusste, was das bedeutete. Und ein Gedanke setzte sich bei ihm fest, der ihm als einziger Rettung verhieß: Ich werde überlaufen! Ich werde bei der ersten Gelegenheit zu den Iwans überlaufen. Es ist vielleicht die letzte, die allerletzte Chance, zu überleben.

Im zweiten Wagen folgte Oberst von der Haagen mit einem Fahrer und zwei jungen Leutnants. Auch er war still, mummelte sich in seinen dicken Schafspelz und beklagte innerlich sein tragisches und ungerechtes Schicksal. Am Stadtrand, vor einem Knäuel ausgebrannter Straßenbahnwagen, trennten sich die Kübels … Dr. Portner ratterte bis zur Feldbäckerei, von wo aus der Weg in die Trümmerwüste nur zu Fuß weiterging … Oberst von der Haagen fuhr noch zwei Kilometer nördlich, bis auch er beim Tross seines neuen Regimentes hielt und mit der Meldung seines zurückgekommenen Ia, eines Majors, erfuhr, dass der Russe gerade im Abschnitt des Regimentes sehr aktiv geworden war. Man hörte es … der Trümmerabschnitt vor ihnen bebte unter den Einschlägen russischer 10,5-cm-Granaten. Hauswände stürzten um, Beton- und Kalkstaub zog mit dem Wind bis zu ihnen. Oberst von der Haagen straffte sich.

»Na, dann wollen wir mal!«, sagte er burschikos. »Solange wir noch kacken können, können wir auch schießen …«

Der Major lachte nicht, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Von der Haagen schielte missbilligend zur Seite. Keinen Mumm haben die Kerle, dachte er, um sich selbst aufzurichten. Aber nimmt es wunder, wenn selbst der eigene General nicht an den Endsieg glaubt?!

In dieser Minute starben in den Kellern Stalingrads und am Einschließungsring einige Hunderte deutscher Soldaten. Um mit Oberst von der Haagen zu sprechen: Sie kackten nicht mehr …

Iwan Iwanowitsch Kaljonin war ein kluges Köpfchen, keiner hat das je bezweifelt. Seit dem Tode seines geliebten Majors, von dem er durch sein Weibchen Veraschka erfuhr, das als Kranken- und Medikamententrägerin zwischen dem Wolgaufer und dem »Tennisschläger« wie ein Wieselchen hin und her lief und die Verwundeten aus dem Feuer schleppte und neues Verbandszeug hinein in die Hölle, war Kaljonin so etwas wie sein eigener Herr inmitten einer Mondlandschaft. Man hatte ihm einen ganzen Zug Infanterie gegeben mit dem Befehl: Nun seht zu, dass ihr viel zerstört, Genossen! Lebt wohl! Wenn ihr etwas braucht, funkt es. Ob wir allerdings etwas schicken, ist fraglich. Die Deutschen haben noch genug für einen Zug Rotarmisten.

Schlicht ausgedrückt, hieß das: Du bist eine Faust, die immer und immer wieder in die weichen Teile der Deutschen stoßen muss. Kaljonin begriff und zog in der Nacht mit seinem Zug los. Er hatte keine Zeit mehr, Vera zu benachrichtigen.

Erstaunlicherweise ging alles gut. Sie sickerten durch die deutschen Linien, hielten sich an die Bahnlinie, die aus Stalingrad hinaus über Woroponowo nach Bassargino und Karpowskaja führt, und sammelten sich südöstlich der Talawoj-Schlucht in einem hügeligen Steppengelände. Hier stießen zwei Straßen zusammen … die eine kam von Pitomnik nach Stalingrad, die andere von Rossoschka … dort, an der Gabel der beiden Straßen, lagen zwei deutsche Panzer. Sie waren äußerlich noch unversehrt, nur innen klappte es nicht. Ihre Motoren waren irgendwie dem russischen Winter nicht gewachsen gewesen, oder sie hatten schlechtes Öl bekommen, die Kolben hatten sich festgefressen, und ehe man auf die Werkstattkompanien wartete, hatte man sie lieber im Schnee liegen lassen.

In diese Panzer hinein setzte sich Kaljonin mit seinem Zug. Seelenruhig beobachtete er den regen Verkehr auf den beiden Straßen … die nach Pitomnik war der Leidensweg der Verwundeten. Tausende stolperten ihn entlang, fielen in den Schnee, starben, wurden von den Entgegenkommenden weggestoßen, niedergetrampelt, pflasterten mit ihren Leibern die Straße, ein Knüppeldamm aus gefrorenen deutschen Körpern, über den die anderen hinwegkrochen wie Riesenmaden nach Pitomnik, zum Flugplatz, zur Hoffnung, doch noch einen Platz in einer Ju zu bekommen, hinauszufliegen aus der Hölle, die nicht heiß war, sondern bei 40 Grad unter Null zu Eis erstarrt.

Nach Stalingrad hinein rollte von Karpowskaja der magere Nachschub. Autokolonnen mit Munition, Sprit und Verpflegung. Truppen, die rund herum im Kessel verlegt wurden und an den Fronten Karussell fuhren, vor allem Pioniere und die Sondereinheiten, die man aus dem arbeitslos gewordenen Eisenbahnern, Festungsbataillonen, Bautrupps, Werkstätten, Posteinheiten, Trossen aufgeriebener Regimenter und im Kessel geheilter Kranker gebildet hatte. Sie bekamen neue Namen, taktische Bezeichnungen, meist nach dem Namen ihres Kommandeurs, wie »Gruppe Wille« oder »Kampfgruppe Degenhardt«, und wurden hineingeworfen in den aufgerissenen Rachen des Molochs Stalingrad.

Drei Tage verbrachte Iwan Iwanowitsch Kaljonin mit seinem Zug in den beiden deutschen Panzern. In diesen drei Tagen stockte der Nachschub, und die Munitions- und Essenträger am Stadtrand warteten vergeblich. Umso mehr türmte sich das Material vor den beiden Panzern. Lastwagen brannten aus, im plötzlichen Feuer von allen Seiten wurden zwei neue Einheiten vernichtet, ehe sie überhaupt Stalingrad erreicht hatten … die Überraschung war so vollkommen, dass die Vernichtung schneller war als das Bewusstsein, vernichtet zu werden.

Nach drei Tagen zog Kaljonin wieder zurück nach Osten in die Stadt. Als er sich bei seinem neuen Kommandeur meldete, bekam er ein Lob und einen Tag Urlaub, um Vera zu besuchen. Er traf sie nicht an. Nur die Pannarewskaja war wieder da, stand am Operationstisch und amputierte. Chefchirurg Sukow schlief auf einer Pritsche an der Wand, umgeben von stöhnenden Verwundeten. Er schlief wie ein Bär. Seit neunundvierzig Stunden war er auf den Beinen gewesen und hatte operiert, dann war plötzlich Olga Pannarewskaja wieder da, nahm ihm die Instrumente aus der Hand und operierte stumm weiter. Sukow war umgesunken wie ein gefällter Baum. Schon im Hinfallen auf die Pritsche schlief er.

»Vera ist in Gefangenschaft gekommen«, sagte die Ärztin und hob die Schultern. »Man hat gesehen, wie zwei Deutsche sie aus den Trümmern zogen. Sie muss verwundet gewesen sein …«

Kaljonin stand wie erstarrt. Wenn man mit einem Hammer auf das Hirn haut, ist es nicht so schlimm wie dieser Schmerz, der Kaljonin durchraste.

»Danke, Genossin Kapitän, danke«, stotterte er völlig hilflos. Dann stolperte er hinaus an die frische Luft, setzte sich auf einen Mauerrest und sah lange hinüber zu den deutschen Stellungen.

Was bin ich?, dachte er. Bin ich ein Mensch, oder bin ich ein Held, oder bin ich ein Kommunist, oder bin ich ein Retter des Vaterlandes? So dumm kann man fragen, wenn einem das Herz schmerzt und die Brust zu klein wird, weil das Herz sich weitet, um schreien zu können. Iwan Iwanowitsch bekannte sich dazu, ein Mensch zu sein. Weiter nichts, nur ein Mensch. Aber ein Mensch, dessen Leben seiner Frau Vera galt und der sich nicht damit abfand, dass sie jetzt dort drüben irgendwo in einem Keller hockte und misshandelt wurde.

In dieser Nacht verschwand der Mladschij-Sergeant Kaljonin in der Ruinenwüste von Stalingrad. Niemand hat ihn wiedergesehen … wenigstens keiner der Rotarmisten. In der Verlustliste des nächsten Tages wurde er als vermisst aufgeführt. Das war nichts Neues … so viele galten als vermisst, deren Körper unter den niederstürzenden Mauern plattgequetscht wurden. Nur für Olga Pannarewskaja war er nicht gestorben … aber sie schwieg.

Das Lazarett unter dem Kino, die feuchten Kellergewölbe, in denen das Tropfwasser in den Rissen gefror, war mit über achthundert Verwundeten vollgestopft, als Dr. Portner zurückkam. Eine Woge von Gestank aus Eiter, faulen Gliedmaßen, Kot, Schweiß, Blut, Jodoform und Verwesung schlugen ihm entgegen. Es gab keine Gänge mehr, keine Treppe, keine Liegeordnung. Sie lagen übereinander wie Holzklötze, sie pflasterten die Treppe mit schreienden Leibern, mit brandigen Wunden, mit abfaulenden Gliedern, mit Wahnsinn und Beten. Fleckfieber ließ sie toben oder apathisch werden, Geschwüre brachen auf wie Krater, aus den aufgerissenen Bäuchen quollen die Därme. Männer mit halben Gesichtern krochen herum und schrien wie Tiere, die zerrissenen Körper quollen auf wie Wasserleichen.

Zwischen diesem Sterben, zwischen den Fluchenden und Betenden, Weinenden und Tobenden, zwischen Wahnsinn und Ergebenheit saß, stand oder ging Pfarrer Webern und tröstete. Er betete nicht mehr … er konnte es einfach nicht. Ihm fehlten die Worte, dieses Grauen zu überdecken. Selbst Gottes Sprache versagte … er hatte nie daran gedacht, dass Menschen einmal solcherart die für sie geschaffene Welt verlassen könnten. Nun musste selbst Gott schweigen. Was Pfarrer Webern tat, war ein letzter, fast stummer Dienst. Er drückte die zuckenden, fieberheißen Hände, er schob die Lider über die gebrochenen Augen, er hielt sein kleines Brustkreuz hoch und segnete, er sprach nicht mehr von der ewigen Seligkeit, er hörte zu, wie die Sterbenden nach ihrer Frau, nach ihrer Mutter wimmerten, wie sie nach Briefpapier schrien, um zu schreiben mit Händen, die sie nicht mehr hatten, wie sie sich an ihn klammerten und fragten: »Herr Pfarrer, nicht wahr, ich werde weiterleben …«, und ihre Beine faulten bereits, und die Haut löste sich von den Körpern, und er nickte und sagte: »Ja, mein Sohn, du wirst weiterleben …« Und dann starben sie, die einen noch im letzten Atemzug grell schreiend, die anderen stumm, mit großen, nicht verstehenden Augen.

Dr. Portner kämpfte sich bis zum Operationskeller durch. Er musste über die Körper gehen, die unter ihm aufbrüllten, die mit Fäusten an seine Beine schlugen, die seine Stiefel umklammerten, die nach ihm bissen wie tollwütige Ratten.

Im Operationskeller war etwas mehr Ordnung. Hier standen drei Unterärzte an den Tischen und verbanden. Operieren hatte keinen Zweck mehr. Wohin mit den abgetrennten Gliedern, wohin mit den Frischoperierten? Warum noch amputieren? Es starb sich mit abgerissener Hand genauso gut wie mit einem Stumpf. Auch die Unterschiede waren verwischt … ob Offizier oder Landser, sie alle lagen neben- und übereinander, schreiend und wimmernd, sich aneinanderkrallend, als ertränken sie im eigenen Blut.

Dr. Portner setzte sich erschöpft auf einen Hocker an die Wand. Knösel und Rottmann blieben im Nebenkeller. Der Feldwebel der Feldgendarmerie, gelbblass, sah sich um. Das hundertfache Sterben ringsum ließ ihn ahnen, wie er selbst enden würde.

»Wenn … wenn ich das gewusst hätte, Kumpel …«, stotterte er. Knösel saß auf seinem organisierten Stoffballen und stierte auf die Sterbenden.

»Was?«, fragte er.

»Wie das alles kommt …«

»Det haste doch jewusst.«

»Ich habe gedacht … mein Gott … was soll jetzt werden …«

»Sieh se dir an … So liegste auch bald da …«

Rottmann zitterte wie im Schüttelfrost. Seine Zähne klapperten laut. Er wandte sich ab, er suchte wegzukommen, aber überall lagen die Körper, röchelten Leiber, zuckten Glieder, schrien Münder. Da beugte er sich vor und erbrach sich. Er konnte es nicht mehr anhalten, er spürte, wie sich sein Magen nach oben drehte, und er kotzte, nach vorn gebeugt, über die Körper, die unter ihm lagen. Sie rührten sich nicht, sie atmeten noch, aber ihre Augen waren schon gestorben.

Ein paar leichter Verwundete starrten Emil Rottmann an wie ein Weltwunder. Der kann noch kotzen, dachten sie. Wer kotzen kann, hat was zu fressen gehabt. Wo gibt es hier noch was zu fressen? Am Bahndamm haben sie die Schienen herausgerissen, die alten Holzbohlen geraspelt und daraus eine Suppe gekocht, mit Schneewasser und einer Kraftbeilage aus Krähen.

Es war der 7. Januar 1943.

Dr. Portner trug in sein Tagebuch ein: Rückkehr in die Kinokeller. Nehme meine Arbeit wieder auf. Verpflegung seit drei Tagen keine. Kaum Verbandmaterial, keine Anästhesiemittel. Dann stellte er sich wieder an seinen alten Küchentisch und operierte. Am anderen Tisch stand bereits Dr. Körner. Er schnitt gerade ein stark aufgequollenes Bein ab.

»Übermorgen sind wir am Ende«, sagte Dr. Portner laut. »Ich habe die Bestände durchgezählt … dann haben wir nur noch unsere bloßen Hände …«

Pfarrer Webern sah kurz in den Operationskeller. Trotz der Trostlosigkeit strahlte sein in Stalingrad vergreistes Gesicht.

»Pastor Sanders ist wieder da«, rief er durch das Stöhnen und Wimmern zu den Ärzten. »Sie haben ihn eben gebracht. Drei Pioniere. Er lebt noch, ja, es geht ihm verhältnismäßig ganz gut. Seine Schulterwunde ist vereitert, aber nicht brandig.«

Dr. Portner zog die Mundwinkel herunter. »Mit zwei Gottesmännern im Keller muss es ja gutgehen«, sagte er sarkastisch. »Vielleicht hilft uns das doppelte Gebet zu dem Wunder, Binden zu bekommen …«

Pfarrer Webern ging in den großen Keller zurück. Er nahm Dr. Portner nichts übel. In Stalingrad war es selbst für einen Priester schwer, mit Gott ins Reine zu kommen.

Gegen Abend polterte ein Trupp verdreckter und vereister Landser die mit Toten und Erfrorenen belegte Treppe hinab. Ein Oberleutnant fragte sich durch und platzte in den Operationskeller. Dr. Portner und Dr. Körner hatten gerade eine Pause eingelegt und tranken Tee.

»Wer ist hier der Chef?«, fragte der Oberleutnant und sah auf die Ärzte. Es war drückend heiß in dem Keller, Portner und Körner saßen in Hemdsärmeln an der Wand.

»Ich!« Dr. Portner winkte mit der Teetasse. »So schneidig, mein Sohn? Ist der Führer etwa über Stalingrad abgesprungen? Im Altertum war das üblich … da starb der Feldherr an der Spitze seiner Truppen.«

Der Oberleutnant sah verwirrt auf den Arzt. Da er keinen Dienstgrad wusste, vermied er die direkte Anrede.

»Wir bringen Gefangene! Mein Stoßtrupp hat vorhin eine russische Verwundetengruppe gestellt. Es sind ein Arzt, eine Ärztin, ein verwundeter sowjetischer Oberst –«

»Körner, sehen Sie mal nach, was da los ist. Gefangene! Was soll ich hier mit Gefangenen, lieber Mann!« Dr. Portner trank einen Schluck Tee. »Verhungern können sie auch vor der Tür … Kinder, wer macht denn heute noch Gefangene! Lasst sie laufen …«

Dr. Körner ging hinaus. Er stieg wieder über die blutenden, eiternden, faulenden Körper und kämpfte sich bis zur Treppe durch. Dort stand Knösel, und man sah ihm an, dass er fasziniert war.

Am Eingang zum Keller, auf der untersten Treppenstufe, stand eine Frau in der olivgrünen Uniform der sowjetischen Offiziere. Der Lammfellmantel war zerrissen, über den hochgestellten Kragen fielen lange schwarze Haare. Das schmale, leicht tatarische Gesicht mit den mandelförmigen Augen war hochmütig trotz des Mörtelstaubes, der auf ihm klebte wie eine Clownmaske. Die langen, schlanken Beine steckten in hohen Stiefeln. Die Frau blutete aus einem Riss an der linken Schläfe. Knösel, der sein schmutziges Taschentuch hervorgeholt hatte und es gegen den Riss drücken wollte, bekam einen heftigen Schlag auf den Arm.

»Det is ’ne Wucht!«, sagte er begeistert. »Junge, det müsste man vernaschen …«

Dr. Körner blieb vor der Frau stehen. Stumm sahen sie sich an, der hemdsärmelige deutsche Arzt und der gefangene sowjetische weibliche Offizier. Sie sahen sich an, als hätten aufeinander gewartet, als wäre in diesem Augenblick die Welt vollkommen.

Olga Pannarewskaja senkte als erste den Blick. Das Blut jagt in ihre Schläfen. Was ist das?, dachte sie erschrocken. Himmel was ist das denn?

Sie hob wieder den Kopf … er sah sie noch immer an, und ihr zweiter Blick wurde wehrloser und ergebener.

»Ich bin Ärztin …«, sagte sie in hartem Deutsch.

Dr. Körner reichte ihr die Hand. »Bitte, kommen Sie mit Kollegin …«

Als ihre Hände sich berührten, war es für sie wie ein Schlag. Sie zwang sich, an Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski zu denken, aber sein Bild war nicht mehr da. Wie furchtbar, wie schrecklich, dachte sie. Wie ist es möglich, dass ein einziger Blick einen Menschen aufreißt?

Hand in Hand stiegen sie über die stöhnenden Leiber.

11

Im Operationskeller unterbrach Dr. Portner eine breite Rückennaht und sah die beiden Eintretenden verdutzt an. Der Verwundete vor ihm auf dem blutigen Küchentisch brüllte mit unmenschlichen Lauten, aber er wusste es nicht, er brüllte auch nicht aus Schmerz, er schrie im Delirium, im Fieberwahn, der seinen Körper ausglühte.

»Was ist denn das?«, fragte Dr. Portner und starrte die Pannarewskaja an. Die Ärztin erwiderte den Blick mit Stolz und hoch erhobenem Kopf.

»Ich bin Olga Pannarewskaja. Seit acht Tagen Kapitänärztin der siegreichen Roten Armee.« Ihre zarte Stimme übertönte das rhythmische Brüllen des Verwundeten. Stabsarzt Dr. Portner legte seinen Nadelhalter hin.

»Sie erwarten doch nicht, dass ich Ihnen die Hand küsse, gnädige Frau?« Er machte mit beiden Händen eine umfassende Bewegung. »Sie sehen, im Augenblick werde ich abgehalten, galant zu sein. Die kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens, meine Gnädigste. Aufgerissene Bäuche, halbe Köpfe, erfrorene Gliedmaßen, Fleckfieber, Wahnsinn, Wundbrand … Sie müssen mich entschuldigen …«

Die Pannarewskaja drückte das Kinn an ihr Uniformhemd, das sie unter dem olivgrünen Rock trug. Sie verstand den blutigen Sarkasmus Dr. Portners … sie kam aus einer Hölle und war in eine neue hineingeraten. Hinter ihr entstand Bewegung … zwei Soldaten führten Chefchirurg Dr. Sukow in den Keller, in einer Zeltplane hinter ihm schaukelte ein blutiger Körper. Zwei sowjetische Krankenträger schleppten ihn über die auf dem Kellerboden liegenden deutschen Leiber. Der schneidige deutsche Oberleutnant war schon wieder hinausgelaufen in die Trümmerwüste der Stadt … die eisige Luft in den Ruinen war ihm lieber als die stinkende Wolke aus Eiter, Blut und Kot.

»Noch einer?«, fragte Dr. Portner.

»Chefchirurg Dr. Sukow …«, stellte die Pannarewskaja vor.

Ein böser Blick des sowjetischen Arztes traf sie. Er lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. Von seinem Mantel troff das geschmolzene Eis auf den Boden. Dr. Portner trat auf ihn zu. Ganz nah standen sie sich gegenüber und sahen sich an.

»Sie sprechen auch Deutsch?«, fragte Dr. Portner.

Dr. Sukow schwieg.

»Sie verstehen mich also nicht?«

Dr. Sukow schwieg. Er verzog sogar das Gesicht, als ekele er sich, von einem Deutschen angeredet zu werden. Dr. Portner hob die Schultern und wandte sich ab. Er sah auf den blutigen Körper in der russischen Zeltplane. Die beiden sowjetischen Krankenträger standen daneben, als hielten sie Ehrenwache.

»Wer ist denn das?«

»Oberst Juri Trifomewitsch Sabotkin«, antwortete Olga Pannarewskaja. »Als wir ihn aus der Stellung holen wollten, wurden wir von Ihrem Stoßtrupp überfallen. Trotz Sanitätsfahne.«