Langsam kehrt bei Maisie die Erinnerung zurück: Ein Blitz hatte die Oberleitung getroffen und der Funkenregen sie auf das Schlimmste verbrannt. Maisies Leben wird nie mehr so sein wie vorher. Doch sie hat großes Glück: Ihr Äußeres kann chirurgisch rekonstruiert werden. Aber kann man das wirklich Glück nennen? Wenn sie sich selbst nicht mehr im Spiegel erkennt, ihre Schulkameraden sie entsetzt anstarren, als wäre sie ein Bild von Picasso, und ihr Freund nur aus Mitleid bei ihr bleibt? Schritt für Schritt muss Maisie lernen, sich mit anderen Augen zu sehen und ihr neues Ich zu akzeptieren.

ALYSSA SHEINMEL

 

FACELESS

 

Aus dem Englischen von Jessika Komina und Sandra Knuffinke

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

ERSTER TEIL

 

SOMMER

EINS

Einatmen, zwei, drei, vier. Ausatmen, zwei, drei, vier.

Meine beste Freundin Serena versteht nicht, warum ich laufe. Sie hat mal gesagt, von allen Sportarten fände sie Laufen am schlimmsten. So grausam sich selbst gegenüber. Aber Serena macht auch Yoga.

Einatmen, zwei, drei, vier. Ausatmen, zwei, drei, vier.

Ich finde ja, es gibt nichts, was sich besser anfühlt als laufen, besonders an so einem Morgen wie heute. Es ist noch früh, und der Nebel hängt schwer über der Bucht. Ich habe die Stadt fast für mich allein – nur die Hunde und Herrchen und ein paar Lieferanten bahnen sich mit mir zusammen den Weg durch die feuchte Morgenluft. Wir haben schon fast Mai, aber um diese Tageszeit sind es vielleicht gerade mal zehn Grad. Perfektes Laufwetter. Jedes Mal, wenn ich den Atem ausstoße, bilden sich vor mir in der Luft Wölkchen, und ich renne mitten hindurch.

Einatmen, zwei, drei, vier. Ausatmen, zwei, drei, vier.

Das Ulkige am Laufen ist, dass einem dabei alles wehtut. Nicht bloß die offensichtlichen Körperteile: Waden und Oberschenkel, Knöchel und Gesäßmuskeln. Nein, auch mein Magen tut weh; jeder einzelne Muskel hilft mit, den nächsten Schritt zu machen, gerade wenn es bergauf geht wie jetzt. Meine Schultern tun weh, besonders die Gelenke, aus denen ich mit den Armen Schwung hole. Ich bemühe mich, nicht ständig an den Schmerz zu denken. Vor dem College-Eignungstest habe ich das Laufen dafür genutzt, den Lernstoff im Kopf zu wiederholen. Davor habe ich Musik gehört, so laut es ging, als könnte die den Schmerz übertönen. Und jetzt gehe ich – Moment für Moment, Wort für Wort – noch mal die Ereignisse von gestern Abend durch. Chirag hat mich nämlich endlich zum Abschlussball eingeladen.

Ehrlich gesagt ist das möglicherweise auch der Grund, warum ich frühmorgens schon hier draußen bin, anstatt wie der Rest der Welt im Bett zu liegen. Warum sollte ich schlafen, wenn es doch so viel mehr Spaß macht, wach zu sein und über gestern Abend nachzudenken?

Einatmen, zwei, drei, vier. Ausatmen, zwei, drei, vier.

Klar hatte ich damit gerechnet, dass er mich fragt. Wir sind jetzt seit Januar zusammen, da lag das natürlich auf der Hand. Aber ich wusste eben nicht, wie er es machen würde, und ganz sicher hatte ich nicht erwartet, dass er an einem Dienstagabend um neun mit einem Dutzend roter Rosen und einem Schild vor meiner Tür stehen würde: Maisie Winters, ich liebe dich. Gehst du mit mir zum Abschlussball?

Ich liebe dich – das hatten wir bis dahin noch nie zueinander gesagt.

Ich bat ihn nicht rein. Stattdessen ging ich raus auf die Veranda, machte sorgfältig die Tür hinter mir zu und bereitete mich darauf vor, die drei magischen Worte zu erwidern. Aber meine streitenden Eltern, die selbst durch die geschlossene Tür zu hören waren, hielten mich davon ab.

Wir hörten meinen Vater schreien, laut und deutlich. Es ging um das dreckige Geschirr, das er offenbar seit Tagen in der Spüle stehen gelassen hatte. »Warum hast du es nicht einfach in die Spülmaschine gestellt, wenn es dich so furchtbar gestört hat?«

»Weil ich es satthabe, dir ewig hinterherzuräumen! Außerdem wollte ich abwarten, wann dir wohl auffällt, was für ein Chaos du mir mal wieder hinterlässt.«

»Das heißt, das Geschirr war ein Test, oder was?«

»Ja, und du hast ihn nicht bestanden –«

Ich glaube, inzwischen ist ihnen total egal, worüber sie streiten. Sie haben einfach vergessen, dass man auch auf andere Weise miteinander kommunizieren kann. Aber egal, jedenfalls verpasste das Gebrüll unserer Romantik hier draußen einen ziemlichen Dämpfer, und Chirags Ich liebe dich blieb unerwidert.

Kurz entschlossen schob ich ihn die Verandastufen runter zu seinem Auto in unserer Einfahrt. Das habe ich schon mindestens ein Dutzend Mal gemacht – ihn vom Haus weggezerrt, wenn meine Eltern mal wieder auf dem Kriegspfad waren. Chirag war natürlich klar, warum er so vehement zurückgedrängt wurde, dass wir beide fast die Treppe runterpurzelten, aber er war so einfühlsam, nichts dazu zu sagen. Er grinste nur, weil ich bei jeder Stufe Ja sagte. »Ja, ja, ja, ich gehe mit dir zum Ball.«

Als er weg war, fragte ich mich trotzdem, ob ich richtig gehandelt hatte. Vielleicht hätte ich doch noch schnell Ich liebe dich auch sagen sollen, bevor er losfuhr. Aber wenn man’s genau nimmt, hat er ja gar nicht gesagt, dass er mich liebt, also sollte ich es vielleicht überhaupt nicht erwidern. Vielleicht ist es ja gar nicht offiziell, bis es laut ausgesprochen wird. Vielleicht gibt es da eine ganz strenge Regel, die ich nicht kenne, weil ich so was bislang noch nie erlebt habe. Mitten in der Nacht habe ich sogar noch überlegt, es selbst auf ein Schild zu schreiben, damit wir quitt sind.

Ich blinzle, wische mir den Schweiß aus den Augen und stelle mir seine vor: dunkel und warm, wie sie sich verengen, wenn er lächelt. Wir zwei könnten kaum unterschiedlicher sein, zumindest rein äußerlich. Ich habe rote Haare, blaue Augen und bin sehr blass, mit viel zu vielen Sommersprossen. Chirags karamellbraune Haut ist makellos. Für ihn sind meine Sommersprossen exotisch. Er hat mir sogar mal versichert, dass er sie total sexy findet, wie Hunderte winziger Tattoos.

Heute Abend treffen wir uns wieder. Vielleicht sage ich es dann. Wenn er es als Erster sagt, dann ziehe ich auf jeden Fall nach. Ich fange schon mal an zu üben, flüstere es leise mit jedem Ausatmen vor mich hin: »Ich liebe dich auch. Ich liebe dich auch. Ich liebe dich auch.« Dann sprinte ich keuchend los, jedes Wort ein Kraftaufwand. Das hier ist das letzte Stück bergauf, bevor ich umdrehe und wieder nach Hause laufe. Nur noch um die Kurve. Schweiß rinnt mir unter meinem Pferdeschwanz den Nacken hinunter, bis mein Sweatshirt ihn aufsaugt.

Das Kleid, das ich zum Abschlussball tragen will, habe ich schon vor über einem Monat in einer Zeitschrift entdeckt. Es ist aus grünem, leicht schimmerndem Stoff und quasi rückenfrei. Dazu gibt es sogar einen Fascinator im passenden Grünton, zu dem ich mein langes Haar hochgesteckt tragen könnte. Ziemlich teuer zwar, aber ich bin sicher, dass ich meine Mom überreden kann. Das ist sie mir nach gestern Abend mindestens schuldig. Typisch meine Eltern, mir einen der wichtigsten Momente meines Lebens mit ihrem Gezänk zu verderben. Na ja, um auf dem Ball den Fascinator zu tragen, müsste ich so oder so all meinen Mut zusammennehmen. In Kombination mit meinen roten Haaren könnte mich so ein grüner Beinahe-Hut leicht wie ein Weihnachtself oder Kobold oder so was in der Art aussehen lassen. Neulich habe ich Serena das Bild von dem Kleid gezeigt, und sie meinte, ich könnte so was locker tragen, aber ganz überzeugt bin ich noch nicht.

Jetzt mache ich kehrt und laufe zurück. Das hier ist der angenehmste Teil der Strecke, es geht größtenteils bergab, und am Ende winken eine heiße Dusche und das Frühstück. Die ersten paar Tropfen bemerke ich kaum, sie mogeln sich einfach unter meinen Schweiß. Aber dann setzt der Regen richtig ein und lässt sich nicht mehr ignorieren. Serena würde jetzt fragen, warum ich mir nicht die Wettervorhersage angesehen habe, bevor ich losgelaufen bin. Serena würde aber sowieso nicht verstehen, warum ich mich schon Stunden vor dem eigentlichen Weckerklingeln aus dem Bett gequält, im Dunkeln angezogen und das Haus verlassen habe, ohne auch nur einen Blick in den Spiegel zu werfen, vom Wetterbericht ganz zu schweigen.

Ich habe mich heute für die kurze Strecke entschieden, falls Chirag nach der Schule noch mal laufen gehen will. Wenn wir gemeinsam losziehen, artet das Ganze immer irgendwie zu einem kleinen Wettkampf aus, eine Herausforderung nach der anderen. Wer schafft es als Erster bis zum Ende der Straße? Wer ist schneller auf dem Hügel? Wer macht den höchsten Satz über den Baumstumpf bei mir an der Straßenecke?

Ein zweites Training heute würde mir nichts ausmachen, ich freue mich über jeden Vorwand, mehr Zeit mit Chirag zu verbringen – und über jeden Vorwand, noch nicht nach Hause zu meinen streitenden Eltern zu müssen.

Nur noch ein paar Blocks, ich kann den Baumstumpf schon sehen. Früher war das mal eine mächtige Eiche, aber vor ein paar Jahren hat dort der Blitz eingeschlagen. Die Äste sind durch die Fenster des Hauses daneben gekracht, der Stamm fiel quer über die Straße und verursachte einen schlimmen Autounfall. Aber den Stumpf haben sie einfach so stehen lassen. Angeblich wurzelt er so tief, dass es total teuer wäre, ihn auszugraben, und die halbe Nachbarschaft erst mal ohne Wasser dastände. So hat mein Vater mir das zumindest erklärt. Vielleicht hat er das Ganze aber auch ein bisschen dramatisiert, damit ich mehr Respekt vor Gewittern kriege. Solchen wie diesem hier.

Der Regen wird mit einem Mal eiskalt, rinnt unter mein Sweatshirt und schwappt mir in die Schuhe. Ich fange an zu zittern. Beim ersten Donnerschlag zucke ich zusammen. Wieder sprinte ich los; von hier aus kann ich fast schon unser Haus sehen. Mir ist klar, dass ich mich ganz schön anstelle – wer hat denn bitte Angst vor diesem bisschen Gerumpel? Als ich klein war, bin ich bei Gewitter immer zu meinen Eltern ins Bett gekrochen und habe mich zwischen sie gekuschelt. Das ginge jetzt nicht mehr, selbst wenn ich wollte. Mein Vater schläft schon seit Monaten im Hobbyraum.

Ein Blitz zuckt über den Himmel, zerreißt den Nebel und taucht die ganze Straße in grelles Licht. Für einen Sekundenbruchteil ist die Luft glasklar, die Umgebung so hell erleuchtet, als sei es mitten am Tag und nicht sechs Uhr morgens. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich gar nicht mehr laufe. Ich stehe einfach da.

Noch mal Blitz und Donner, diesmal ganz nah. Ich wirbele herum. Hinter mir hat es einen Baum erwischt, nur wenige Meter von dem Eichenstumpf entfernt.

Wer hat eigentlich behauptet, dass der Blitz nie zweimal an derselben Stelle einschlägt? Ein schwarz verkohlter Ast, den nur noch ein paar Holzfasern am Stamm halten, senkt sich auf die Strom- oder Telefonleitungen oder was auch immer das für Kabel sind, die dort im Wind zucken, und entfacht ein wahres Funkenfeuerwerk.

Ich sollte jetzt wirklich nach Hause, die klitschnassen Sachen ausziehen und mich zum Aufwärmen auf die Heizung setzen. Aber aus irgendeinem Grund stehe ich immer noch da wie erstarrt und sehe zu, wie die Glut zu Boden segelt. Erstaunlich, dass in diesem immer stärker werdenden Regen überhaupt noch Funken fliegen, und noch erstaunlicher, dass jetzt Flammen daraus werden. Es rauscht richtig, als sich das Feuer blitzschnell den Ast hochfrisst, bis kurz darauf mit einem trockenen Knistern das Laub zu brennen beginnt und die Luft mit winzigen weißen Aschebröckchen erfüllt. Ich schmecke Rauch in meiner Kehle, so dick und scharf, dass ich beinahe würgen muss.

Erschrocken presse ich die Hände auf die Wangen, als der Ast schließlich abbricht und die Leitungen mit einem Krachen, mindestens so laut wie der Donner, zu Boden reißt.

Ein weiterer Blitz lässt den Himmel aufleuchten, aber um mich ist es bereits taghell vor lauter Feuer und Funken aus den Leitungen. Es zischt, als sie auf den nassen Boden treffen.

Ich schließe die Augen und lausche: Das Zischen klingt beinahe wie ein Flüstern.

Zisch, zisch, zischhhhhhhhhhh.

ZWEI

Ich schwimme. Nein, ich war doch gar nicht schwimmen. Ich war laufen.

Einatmen, zwei, drei, vier. Ausatmen, zwei, drei, vier.

»Sie bewegt sich!«, ruft jemand.

Das ist mein Vater. Was macht der denn hier? Wir waren seit Jahren nicht miteinander laufen. Er kann nicht mehr mit mir mithalten.

Einatmen, zwei, drei, vier. Ausatmen, zwei, drei, vier.

Ganz langsam wird mir bewusst, dass ich nicht aufrecht stehe. Dass meine Füße nicht rhythmisch auf den Asphalt treffen, sondern unkontrolliert strampeln, gefangen unter einer engen Decke. Dass ich dachte, ich würde schwimmen, hatte gar nichts mit Wasser zu tun, sondern mit diesem Gefühl, nach langem, tiefem Schlaf wieder an die Oberfläche zu kommen.

»Beeilen Sie sich!« Meine Mutter. »Sie bewegt sich!«

Wieso schreien die beiden nur so, als wäre es ein Wunder, dass ich mich bewege? Ich bewege mich jeden Tag, ununterbrochen. Sogar im Schlaf werfe ich mich unruhig hin und her – ich bin einer von diesen Menschen, die nie in derselben Position aufwachen, in der sie eingeschlafen sind.

Eine tiefe Stimme, die ich nicht erkenne, sagt meinen Namen, dann noch einmal. Jemand leuchtet mir mit einem grellen Licht in die Augen. »Geweitet«, murmelt die tiefe Stimme. Dann lauter: »Sie wird in der nächsten Stunde öfter mal aufwachen und wieder wegdämmern. Wundern Sie sich nicht, wenn sie noch ein Weilchen benommen ist.«

Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass der Mann mit der tiefen Stimme nicht mit mir spricht, sondern über mich. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber da übermannt mich wieder der Schlaf und verschluckt meine Fragen.

 

So geht es noch mindestens dreimal: Ich bewege mich, meine Eltern fangen an zu schreien, jemand blendet mich, und dann schlummere ich wieder ein. Erst beim vierten Mal bleiben meine Augen offen.

Mein gesamter Kopf ist mit irgendetwas Dickem, Wulstigem umwickelt, sodass ich mich fühle, als hätte ich Scheuklappen auf. Ich kann nur sehen, was sich direkt vor mir befindet, und da ich flach auf dem Rücken liege, ist das nur die Zimmerdecke, die in einem klebrig wirkenden Farbton gestrichen ist. Vermutlich hat den mal jemand für ein freundliches Himmelblau gehalten.

Ich will etwas sagen, bringe jedoch nur ein erbärmliches Krächzen zustande, als hätte ich seit Wochen nichts getrunken. Meine Kehle ist rau wie Schmirgelpapier, und meine Lippen prickeln, als würden mich Hunderte kleiner Nadeln stechen.

»Mom?«, flüstere ich. Ich versuche mich zu räuspern, zu schlucken, aber alles ist knochentrocken. Meine Lippen sind aufgerissen, und als ich mit der Zunge darüberfahre, berührt sie etwas Fremdes, das gar nicht in mein Gesicht zu gehören scheint.

Ich glaube, es ist ein Verband. Ich glaube, ich bin im Krankenhaus.

»Mom?«, versuche ich es erneut. Ich will mich auf die Seite drehen, aber meine linke Körperhälfte scheint tausend Kilo zu wiegen. Ich kann mich nicht umdrehen.

»Ich bin hier, Schatz.« Die Stimme meiner Mutter klingt sanft und beruhigend, kein bisschen wie zuvor, als sie nach Hilfe gerufen hat.

Ich will den Kopf heben, um ihr ins Gesicht zu sehen, aber auch das funktioniert nicht. Mein ganzer Schädel fühlt sich an wie eingegipst. Vielleicht ist er das ja wirklich. Mir bricht der Schweiß aus, Panik schlingt sich um meine Brust wie ein Seil. Was ist hier los?

Meine Mutter muss sich vorgebeugt haben, denn plötzlich schwebt ihr Gesicht über mir. Das Panikseil strafft sich, als ich ihre Miene sehe. Ich habe sie noch nie so verängstigt erlebt. Sie wirkt glatt zehn Jahre älter.

Oh Mann, es muss wirklich was Schlimmes passiert sein. Mein Herz fängt an zu pochen, so schnell, dass irgendein Gerät in der Nähe aufjault.

»Liebes«, sagt meine Mom und streckt die Hände aus, aber ich schüttele den Kopf. Oder versuche es zumindest. Ich kann meinen Hals nicht bewegen. Oh Gott, ich bin gelähmt. Oh Gott, ich habe mir das Rückgrat gebrochen und werde nie wieder laufen können. Ich werde zu den Leuten gehören, die im Rollstuhl sitzen und sich nur vorwärtsbewegen können, indem sie in so ein Mundstück pusten.

Nein. Reiß dich zusammen, Maisie. Schließlich habe ich gerade erst meine Beine bewegt. Ich strampele kurz, nur um mich zu vergewissern, dass es noch geht. Dann atme ich auf – meine Kehle ist immer noch trocken, aber mein Herz schlägt schon etwas ruhiger. Das Gerät nimmt sein gleichmäßiges Piepen wieder auf. Ich lausche ein bisschen und komme zu dem Schluss, dass es direkt neben meinem Bett stehen muss, ein Stück rechts oberhalb meines Kopfs.

»Wasser«, krächze ich. Es ist nicht leicht, unter all dem, was um mein Gesicht gewickelt ist, Worte zu formen, also klingt es mehr wie Wa-wa, aber meine Mutter scheint mich verstanden zu haben, denn sie nickt und verschwindet kurz. Sie geht nicht weg, sondern nimmt offenbar nur einen Becher von meinem Nachttisch, aber der befindet sich bereits außerhalb meines Blickfelds.

»Ist das in Ordnung?«, fragt sie.

Eine Frauenstimme antwortet. »Ja, aber nicht zu viel.«

»Wer ist da?«, frage ich. Ich wünschte, ich könnte mehr sehen. Ich wünschte, ich könnte mich aufsetzen. Ich wünschte, ich könnte mich bewegen.

»Eine von deinen Krankenschwestern«, erklärt Mom. »Anna.«

Dann erscheint sie wieder über mir. Sie schiebt mir sachte einen Strohhalm in den Mund, den ich mit den Lippen zu umschließen versuche, aber es tut zu weh. Also halte ich ihn mit den Zähnen fest. Noch nie hat Wasser so gut geschmeckt. Ich könnte zehn, zwanzig, dreißig Becher davon trinken. Ich spüle mir den Mund aus und benetze alle Stellen, die sich so furchtbar trocken anfühlen.

»Nicht zu viel, Liebes«, mahnt meine Mutter und nimmt den Becher wieder weg. Dann kehrt ihr Gesicht an den Platz über meinem zurück. Was ist bloß los mit mir, dass schon Wasser gefährlich ist?

Schritte: Jemand kommt ins Zimmer.

»Lass sie doch, Sue«, sagt eine andere Stimme. Mein Vater. »Sie hat doch seit fast einem Monat nichts getrunken.«

Im Liegen zu trinken ist nicht leicht, und prompt gerät mir der letzte Schluck in den falschen Hals. Ich muss husten – oder versuche es zumindest, aber auch das ist kaum möglich, wenn man so steif daliegt wie ich.

Was soll das heißen, seit fast einem Monat nichts getrunken? Ich muss mich verhört haben. Dank des ganzen Zeugs um meinen Kopf dringt ja auch alles nur gedämpft zu mir durch.

»Was ist passiert?« Selbst nachdem ich etwas getrunken habe, klingt meine Stimme noch seltsam. Ich kann kaum den Mund bewegen: Wa i pa-ier?

»Du bist im Krankenhaus«, sagt Dad, was meine Frage nicht beantwortet. Ich kann ihn nicht sehen, aber es klingt, als stände er am Fußende meines Betts. In meinem eingeschränkten Blickfeld ist nur Platz für eine Person, und den nimmt immer noch meine Mutter ein.

»Auf der Station für Verbrennungen«, fügt er hinzu. »Du hattest einen Unfall, erinnerst du dich?«

Ich habe schon wieder vergessen, dass ich nicht den Kopf schütteln kann. Station für Verbrennungen. Das Panikseil um meine Brust zieht sich noch straffer. So was klingt nicht nach einem Ort, an dem man gern sein möchte.

»Du warst laufen«, berichtet Dad. Seltsam, seine Stimme zu hören, seine Anwesenheit im Zimmer zu spüren, ohne dabei sein Gesicht sehen zu können. »Und dann gab es ein Gewitter.«

Mir fällt etwas ein. »Blitze«, sage ich. Wieder klingt es dumpf, als hätte jemand mir den Mund mit Gaze ausgestopft. »Wurde ich vom Blitz getroffen?«

Ich ernte nur Schweigen. Dabei wäre diese Frage früher nichts als ein Scherz gewesen. Kein Mensch wird schließlich vom Blitz getroffen, oder? Natürlich weiß ich, dass es ein paar Leute gibt, irgendwo. Aber das ist doch total selten. Vor Nervosität rinnt mir Schweiß den Nacken hinunter, sickert in meinen Verband.

Endlich sagt meine Mutter etwas: »Sie kann nicht sehen, dass du den Kopf schüttelst, Graham.«

»Es hat gebrannt«, antwortet Dad schließlich. Seine Stimme klingt komisch, als könnte er es kaum ertragen, das Wort auszusprechen.

Mom verschwindet; ich höre ihre Absätze klappern, als sie durchs Zimmer geht. Will sie meinen Vater etwa in den Arm nehmen? Ich kann mich kaum erinnern, wann sie sich das letzte Mal auch nur angefasst haben.

Was auch immer mit mir passiert ist, es muss furchtbar sein, wenn sie ihn tröstet.

Mein Herz fängt wieder an zu hämmern. Ich beschwöre es, sich zu beruhigen, damit das Gerät nicht wieder losheult, konzentriere mich voll und ganz darauf, wie beim Laufen, wenn ich meine Kräfte für den Endspurt sammele. Aber mein Wille ist nicht stark genug, um meinen Körper zu bezwingen, zumindest nicht diesmal, und das Gerät schlägt wieder an. Ich höre Schritte, und der Lärm bricht ab – diese Krankenschwester, Anna, muss es ausgestellt haben.

»Dad, bitte. Was ist los mit mir?« Die Frage klingt so absurd: Wa i lo mi mi? Ich wiederhole sie, bemühe mich, deutlicher zu sprechen. Wenn ich wie ein Baby brabble, sagen sie mir doch nie was.

So schlimm wird es schon nicht sein. Ich bin kein Mensch, dem richtig schlimme Sachen passieren. Richtig tolle vielleicht auch nicht unbedingt.

Ich bin völliger Durchschnitt. Nicht das beliebteste Mädchen der Schule, aber auch kein Obernerd ohne Sozialleben. Ich habe einen Freund, aber der ist weder Kapitän des Footballteams, noch habe ich Chancen, Abschlussballkönigin zu werden. Seit der ersten Klasse habe ich dieselbe beste Freundin. Meine Eltern streiten sich ständig, aber wessen Eltern tun das nicht? Ich bin absolut normal.

Nein, so schlimm kann es nicht sein, ich habe ja nicht mal Schmerzen. Nichts tut weh. Ich versuche, den rechten Arm zu heben; kein Problem. Aber links stoße ich plötzlich auf Widerstand.

Schließlich sagt Mom: »Der Arzt ist sicher jeden Moment hier. Dein Vater hat ihn sofort, als du aufgewacht bist, rufen lassen.«

»Warum kann ich den linken Arm nicht bewegen?«

»Der ist komplett bandagiert, Schätzchen. Du hast Verbrennungen zweiten Grades am linken Arm und am Oberkörper.«

Ich atme geräuschvoll aus. Verbrennungen zweiten Grades. Das geht doch noch, denke ich. Kann man sich so was nicht schon holen, wenn man nur zu lange in der Sonne bleibt? Es wird alles wieder gut. Das Panikseil lockert sich, mein Herzschlag wird langsamer.

Wieder Schritte. Dann schiebt sich ein Gesicht, das ich noch nie zuvor gesehen habe, über meines. Doch als der Mann zu sprechen anfängt, erkenne ich seine Stimme. Er ist der, der gesagt hat, ich würde noch ein Weilchen benommen sein.

»Verbrennungen zweiten Grades sind doch nicht so schlimm, oder?«, frage ich gleich.

Er geht nicht darauf ein. Vielleicht hat er mich auch gar nicht verstanden. Wie soll ich bloß an Antworten kommen, wenn ich mich nicht artikulieren kann? Mir wird heiß unter meinem Verband. Ich kämpfe gegen den Drang an, daran zu zerren wie an einem zu engen Kragen.

»Maisie, ich bin Dr. Cohen. Ich kümmere mich seit deiner Einlieferung um dich.«

Etwas daran, wie er dieses seit deiner Einlieferung betont, lässt durchblicken, dass ich schon lange hier sein muss. Mir kommen wieder die Worte meines Vaters in den Sinn.

»Wie hat mein Dad das gemeint, als er gesagt hat, ich hätte seit fast einem Monat nichts getrunken?« Es dauert, bis diese lange Frage raus ist. Ich muss erst jedes Wort im Mund hin und her drehen, bevor ich es loslassen kann.

Dr. Cohen zögert, blinzelt. Er wendet kurz den Blick ab und sieht vermutlich meine Eltern an. Dann nickt er. Seine dunkelbraunen Augen erinnern mich an Chirags, obwohl dessen noch wärmer sind, tiefgründiger. Im richtigen Licht sehen Chirags Augen aus wie zwei Tassen schwarzen Kaffees.

»Du wurdest über den Tropf mit Flüssigkeit versorgt«, erklärt Dr. Cohen geradezu begeistert, als wäre das ein viel bequemerer Weg, nicht auszutrocknen, verglichen mit so etwas Abwegigem wie Trinken.

»Hab ich im Koma gelegen oder so?«, frage ich langsam.

»Etwas in der Art«, sagt Dr. Cohen. »Nur vielleicht nicht ganz so, wie du es dir vorstellst.«

Was soll das denn bitte heißen?, denke ich, spreche es jedoch nicht aus. Eigentlich hatte ich bislang gar keine nähere Vorstellung von so was.

»Wir haben dich in ein künstliches Koma versetzt«, fährt er behutsam fort.

Mit einem Mal wünschte ich, es wäre das Gesicht meiner Mutter, das ich vor mir habe, und nicht Dr. Cohens, ganz egal, wie verängstigt sie aussieht. Tatsächlich wünsche ich mir zum ersten Mal seit Langem – oder vielleicht überhaupt zum ersten Mal –, ich könnte auf ihrem Schoß sitzen, mich wiegen und von ihrer Stimme einlullen lassen, die Das wird alles wieder gut, Liebes und Keine Sorge, ist doch nur ein kleiner Kratzer murmelt.

»Warum das denn?«, frage ich jetzt.

»Bei deinen Verletzungen … Maisie, du hast sehr starke Verbrennungen erlitten.« Seine Miene ist ernst; jedes Mal, wenn er nicht spricht, pressen sich seine Lippen zu einer schnurgeraden Linie zusammen. »Sie waren so schwerwiegend, dass wir beschlossen haben, dich ins Koma zu versetzen, bis wir deine Schmerzen in den Griff bekommen haben. Dein Körper brauchte etwas Zeit, um sich zu erholen.«

Das klingt doch gar nicht übel – dann bin ich sicher fast wieder gesund, wenn sie sich dazu entschieden haben, mich aufzuwecken. Wahrscheinlich habe ich das Schlimmste einfach verschlafen.

»Wie lange?«, will ich wissen.

»Ein paar Wochen«, antwortet Dr. Cohen.

Ein paar Wochen? Wochen? Ich weiß, eigentlich dürfte mich das nicht überraschen, nachdem Dad von fast einem Monat geredet hat, aber im Ernst, wofür halten sich diese Ärzte eigentlich? Die böse Fee aus Dornröschen?

Ich schließe die Augen, denke an alles, was ich verpasst haben muss. Den Abschlussball, klar. Serena und ich wollten uns zusammen um unsere Outfits kümmern. Sie wollte mich frisieren, weil ich keine Geduld für etwas Komplizierteres als einen Pferdeschwanz habe. Und dann hätte sie mit der Kamera im Anschlag bereitgestanden, um Chirags Gesicht festzuhalten, wenn er mich zum ersten Mal in meinem Kleid sah. Wir wollten die ganze Nacht durchtanzen.

Ob das Schuljahr schon vorbei ist? Ist denen eigentlich klar, dass ich nicht einfach so meine Abschlussprüfungen verpassen darf? Ich muss Aufsätze schreiben. Wettkämpfe laufen. Muss ich etwa die elfte Klasse wiederholen? Wie soll ich es denn so an die Berkeley schaffen?

Ferienkurse. Ich könnte einen Ferienkurs belegen, das machen schließlich viele. Und die Ärzte könnten mir ein Attest ausstellen, das belegt, dass ich keine Schulschwänzerin oder so was bin, sondern einen Unfall hatte.

»Wann darf ich nach Hause?«, will ich fragen, aber die Worte purzeln zu schnell heraus, und es klingt wie Wa da i na Hau-e. Ich wiederhole es, langsamer diesmal.

Dr. Cohen blinzelt wieder. »Ich fürchte, du wirst noch eine Weile bei uns bleiben müssen, Maisie.«

»Wieso das denn? Wegen ein paar Verbrennungen zweiten Grades?« Schon während ich es ausspreche, wird mir klar, dass da noch mehr sein muss, etwas, das sie mir bisher verschwiegen haben.

Mit einem Schlag trifft mich die Erkenntnis, dass mit mir irgendetwas Furchtbares passiert ist. Ich kann es in Moms bebender Stimme hören und in dem künstlichen Lächeln sehen, das wie festgetackert in Dr. Cohens Gesicht hängt. Wieder überkommt mich Panik. Mein Herz schlägt schneller. In meinem Nacken bildet sich Schweiß.

Wegen ein paar Verbrennungen zweiten Grades wird man nicht ins künstliche Koma versetzt.

Da ertönt die Stimme meiner Mutter, glockenklar. »Maisie. Die Verbrennungen sind nicht nur an deinem Körper.«

DREI

Es ist mein Gesicht. Elektrische Verbrennungen von der Stromleitung, die der Ast heruntergerissen hat. Stück für Stück erzählen sie mir alles. Das Letzte, woran ich mich erinnere, sind die Funken, die aussahen wie ein Feuerwerk, und ich lausche der Geschichte, als sei sie jemand völlig anderem passiert.

»Die Smiths haben den Rettungswagen gerufen«, sagt Dad.

Die Smiths sind unsere Nachbarn, sie wohnen drei Häuser weiter.

»Evan Blake ist mit dem Feuerlöscher raus und hat versucht, die Flammen zu ersticken«, ergänzt Mom.

Evan wohnt links neben uns. Dad geht manchmal mit ihm angeln. Ob meine Eltern mit ansehen mussten, wie Evan mit dem Feuerlöscher zu ihrer brennenden Tochter gerannt ist? Oder haben sie sich das erst nachher zusammengereimt, als er mit dem roten Metallzylinder neben meinem schaumbedeckten Körper stand?

Mom sagt, als der Rettungswagen kam, habe der Baum nur noch geschwelt, aber von mir sei immer noch Rauch aufgestiegen. Ich war bewusstlos, ob von dem vielen Qualm, den ich eingeatmet hatte, oder aufgrund des Schocks, wussten sie nicht. Sie waren nicht mal sicher, ob ich überleben würde, aber wie durch ein Wunder habe ich es wohl geschafft.

»Ist das nicht großartig?«, findet Dr. Cohen. »Ein Wunder

Ich dachte immer, Ärzte glauben nicht an Wunder. Das sind doch nüchterne Wissenschaftler. Chirag ist noch kein Arzt – er will einer werden –, aber er würde das, was mir passiert ist, niemals als Wunder bezeichnen. Stattdessen würde er versuchen, mir die Tatsache, dass ich überlebt habe, logisch zu erklären.

Ich wünschte, Chirag wäre hier. Anders als Dr. Cohen würde er mir nicht vorschreiben, gefälligst dankbar zu sein. Aber ich wünsche mir nicht nur den Chirag von heute her – den Leichtathletikstar unserer Highschool, der mir einen Kuss auf die Fingerknöchel drücken würde –, sondern gleichzeitig den Chirag, der er in zwanzig Jahren sein wird. Den Mann, der über das nötige medizinische Wissen verfügt, um mir meinen Zustand begreiflich zu machen. Ich schließe die Augen und stelle mir Chirag in einem langen weißen Kittel vor, als Dr. Cohen erneut anfängt: »Ist dir eigentlich klar, was für ein Glück du gehabt hast?«

 

Ein paar Stunden nach dem Aufwachen setzt der Schmerz ein. Offenbar lässt die Wirkung all der Medikamente nach, die sie mir verabreicht haben, um den Übergang sanfter zu gestalten.

Als ich ihn das erste Mal spüre, stöhne ich auf. Zwar kann ich mich nicht erinnern, wie das Feuer selbst sich angefühlt hat – vielleicht ist mein Körper auch sofort in einen Schockzustand verfallen, sodass ich gar nichts mitbekommen habe –, aber schlimmer als jetzt kann es kaum gewesen sein. Ich wusste nicht, dass solche Schmerzen überhaupt möglich sind.

Dr. Cohen sagt, der Körper könne sich eigentlich gar nicht an Schmerz erinnern. »Sonst würde wohl keine Frau mehr als ein Kind bekommen«, fügt er mit einem ironischen Lächeln hinzu.

Selbst unter besten Voraussetzungen hätte ich so einen lahmen Witz kaum lustig gefunden, und momentan kann ich mir sowieso nicht vorstellen, jemals wieder zu lachen.

Außerdem glaube ich ihm nicht. Er hat solche Schmerzen schließlich noch nie gehabt. Also hat er auch keine Ahnung, wovon er redet. Ich dagegen werde das hier nie vergessen: dieses Gefühl, als würden eine Million Nadeln auf einmal in meine eine Körperhälfte gestoßen; wie meine linke Hand aus Protest aufbrüllt, wenn ich sie auch nur einen Millimeter bewegen will. Tränen verschleiern mir den Blick, aber das Weinen tut zu weh und ist gleichzeitig völlig unzureichend für das, was ich empfinde. Mein Gott – wenn sie der Meinung waren, dass ich das hier ruhig wach ertragen kann, wie muss es dann erst gewesen sein, als sie mich ins Koma versetzt haben?

Ich höre Dr. Cohen Morphium anordnen, dann das Klicken der Spritze, die in meinen Infusionsschlauch geleert wird. Ich dachte immer, nur alte Menschen bekämen Morphium, solche, die im Sterben liegen. Aber anscheinend verabreicht man es auch Leuten wie mir.

Und dann, so plötzlich, wie er gekommen ist, hört der Schmerz auf. Wieder stöhne ich auf, aber diesmal vor Erleichterung.

 

Mit einem so eingeschränkten Blickfeld – lauter Stimmen, die ich nicht erkenne, keine Gesichter, die ich ihnen zuordnen könnte – ist die Welt schon seltsam genug, im Laufe der nächsten Tage aber wird mir klar, dass sie durch einen Schmerzmittelschleier betrachtet noch wesentlich bizarrer ist. Es fühlt sich an, als würde ich durch Baumwolle waten. Nicht dass ich auch nur annähernd gehen könnte: Ich habe seit dem Aufwachen keinen Fuß aus dem Bett gesetzt.

Als zum ersten Mal eine Schwester kommt, um Salbe auf die Verbrennungen an meinem linken Arm und meiner Seite zu schmieren, kapiere ich zunächst gar nicht, was vor sich geht, bis sie mir die ohnehin schon dünne Decke wegzieht und meinen übel zugerichteten Körper den Blicken aller ausliefert, die gerade in der Nähe sind. Da ich selbst ja nur an die Decke starren kann, weiß ich nicht, ob meine Eltern mit im Zimmer sind. Ich frage mich, wie oft sie – und wie viele Leute sonst noch – mich seit dem Unfall wohl nackt gesehen haben. Und was es da überhaupt noch zu sehen gibt.

Ich schäme mich in Grund und Boden. Ich habe es sogar gehasst, mich in der Umkleide vor meinen Freundinnen und Mannschaftskameradinnen auszuziehen. Und dabei kannten die mich wenigstens und waren selbst genauso nackt.

Ich spüre die Hände der Krankenschwester auf mir, wenn auch nur ganz vage, wie eine Art Echo, etwas, das schon Stunden her ist. Ein Schauder läuft mir über den Rücken, und ich will unwillkürlich die Schultern hochziehen, aber mein Körper gibt sich unkooperativ.

Ich dachte immer, Salbe sollte eine lindernde Wirkung haben, aber diese hier macht alles nur schlimmer, sie brennt und beißt. Mit der rechten Hand drücke ich auf die Taste, die dafür sorgen soll, dass eine Dosis Morphium durch den Tropf in meine Blutbahn gelangt, obwohl ich überzeugt bin, dass kein Schmerzmittel der Welt stark genug sein könnte, um gegen das hier anzukommen. Mit aller Kraft versuche ich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, genau wie beim Laufen. Während des Verbandswechsels schließe ich die Augen und stelle mir vor, ich hätte den Abschlussball gar nicht verpasst, sehe mich in meinem grünen Kleid, wie ich eng umschlungen mit Chirag tanze. Jeden Tag wähle ich einen anderen Song dafür aus und lasse ihn in Endlosschleife laufen, bis der Schmerz nachlässt. Ich stelle mir vor, es wäre Chirag, der die Arme um mich legt, und nicht die Schwester. Wenn sie Salbe auf meine Wunden reibt, denke ich an Chirags Hände, die über meinen Rücken streichen. Und wenn der Schmerz so schlimm wird, dass ich buchstäblich die Zähne zusammenbeißen muss, um nicht aufzuschreien, träume ich von Chirags Mund auf meinem, von einem langen, wundervollen Kuss. Wenigstens meine Lippen haben nur Verbrennungen ersten Grades davongetragen, die auch schon größtenteils verheilt waren, als sie mich aus dem Koma zurückgeholt haben.

Immer wieder kommen Ergotherapeuten, die meine Gliedmaßen bewegen, damit ich mich nicht wundliege und meine Gelenke nicht versteifen. Manchmal, wenn sie glauben, dass ich schlafe, kommen auch Ärzte mit einem Rudel Studenten im Schlepptau. Dann höre ich zu, während sie über meinen ach so besonderen Fall referieren.

Ich fühle mich überhaupt nicht besonders. Nur gefangen. Am liebsten würde ich mir diese ganzen Schläuche und Kabel abreißen, in meine Laufschuhe schlüpfen und einen Sprint hinlegen, den Flur entlang, die Treppe runter und nach draußen. Im Traum sehe ich mich auf dem Sportplatz hinter der Schule, sehe mich jeden Wettkampf gewinnen, sehe mich Chirag beim Rennen zu unserem Baumstumpf schlagen. Im Traum spüre ich den Wind im Gesicht.

Meine Gesichtsverbände wechseln sie nur, wenn ich schlafe. Solange ich wach bin, wagen sie sich nicht daran.

Anscheinend ist so ein Elektrobrand heißer und intensiver als ein normaler. Anscheinend lodert er selbst im Regen unbeirrt weiter. Sie haben mir erklärt, das Feuer sei so heiß gewesen, dass es blau war. Irgendwann eröffnen sie mir, dass ich keine Verbrennungen zweiten Grades im Gesicht habe. Als ich wissen will, ob dritten Grades, verneinen sie, sagen aber auch nichts von Verbrennungen vierten Grades. Ich beruhige mich damit, dass es so schlimm ja wohl nicht sein kann, schließlich tut mein Gesicht nicht annähernd so weh wie mein Oberkörper.

Jeden Tag frage ich – einen der Ärzte, eine Schwester, meine Eltern: »Wann wird mir endlich der Gesichtsverband abgenommen? Wann bin ich wieder gesund?«

Doch keiner gibt mir eine direkte Antwort, und jedes Mal, wenn wieder jemand der Frage ausweicht, zurrt sich das Panikseil um meinen Brustkorb fester, bis ich nur noch denken kann: Das wahre Wunder ist, dass meine Rippen noch nicht mitten durchgeknackst sind.

Ich frage, ob Serena und Chirag schon da waren, aber sie sagen, nur die engsten Familienmitglieder dürfen mich besuchen. Meine Mutter verspricht mir, die beiden anzurufen und ihnen auszurichten, dass sie mir fehlen. Ich rede immer noch so undeutlich, dass sie mich nicht verstehen würden, wenn ich es selber täte.

 

Am Ende ist es mein Vater, der mir die Wahrheit sagt. Als ich mitten in der Nacht aufwache, ist ausnahmsweise mal nur er mit mir im Zimmer anstatt der üblichen Armee aus Ärzten, Pflegern und wer weiß wem sonst noch. Ich erkenne ihn an seinem Atem. Ich höre einen Bleistift über Papier kratzen, daher weiß ich, dass er nicht schläft. Wahrscheinlich löst er ein Kreuzworträtsel.

»Daddy?«, frage ich ins Dunkel.

»Ich bin hier, mein Schatz.« Sein Stuhl quietscht über den Linoleumboden, als er ihn an meine Bettkante zieht. Dann nimmt er meine Hand zwischen seine. Seine Handflächen sind heiß und feucht, als wäre er wegen irgendetwas nervös. Er bleibt sitzen, anstatt aufzustehen und sein Gesicht über meins zu schieben, sodass ich ihn nicht sehen kann.

Zum gefühlt millionsten Mal frage ich: »Wann nehmen die mir den Verband ab? Wann ist das alles wieder verheilt?« Mittlerweile spreche ich schon viel klarer unter meinen Verbänden, aber die Worte finden immer noch zu langsam ihren Weg aus meinem Mund.

Dad antwortet so lange nicht, dass ich schon befürchte, er könnte eingeschlafen sein. Aber schließlich sagt er: »Dein Gesicht wird niemals heilen.«

Was für ein Blödsinn. Alles heilt doch irgendwann mal, oder etwa nicht? Wenn ich nicht wieder gesund werde, wieso liege ich dann hier im Krankenhaus? In Mathe haben wir mal Bedingungssätze durchgenommen, deren unanfechtbare Logik mir gefallen hat. Also stelle ich meinem Vater die unanfechtbar logischste Frage, die mir einfällt: »Wenn ich nicht wieder gesund werde, dann heißt das, ich sterbe. Stimmt’s?« Die Worte pressen sich mühsam an dem Kloß vorbei, der sich plötzlich in meinem Hals gebildet hat.

»Nein, Schatz. Aber deine Verbrennungen –«

»Ich weiß«, unterbreche ich ihn, gedämpft durch meinen Verband. »Das hab ich alles schon x-mal gehört. Die sind schlimm. Viel schlimmer als die an meinem Arm und Oberkörper. Brauche ich eine Hautverpflanzung oder so was?« Darüber haben wir in der Neunten mal in Bio gesprochen. Bei Verbrennungen dritten Grades wird unversehrte Haut von einem anderen Körperteil entnommen und über die verbrannte Stelle genäht.

Mein Vater drückt meine Hand. »Dein Gesicht ist mehr als nur verbrannt. Es –« Er hält inne. Atmet tief durch. Als er weiterredet, zittert seine Stimme. »Ein Teil davon ist zerstört.«

Zerstört. Was für ein unpassendes Wort. Zerstört sind Dörfer, über die ein Tsunami hereingebrochen ist. Oder Gebäude, die von einer Bombe getroffen wurden. Schiffe, die auf den Meeresgrund sinken. Aber etwas so Kleines, Unbedeutendes wie das Gesicht eines einzelnen Menschen kann doch nicht zerstört werden.

Dad redet weiter. »Deine Nase, deine linke Wange und das meiste von deinem Kinn. Das Gewebe dort wurde bei dem Brand abgetötet.«

Zerstört. Abgetötet. Es ist, als hätte ich diese Worte noch nie zuvor gehört. Ich begreife nicht, was er meint. Wie kann ein Teil eines Gesichts sterben?

»Die Ärzte mussten alles entfernen – die abgestorbene Haut, die Muskeln, die Knochen.«

Dafür mussten sie mich dann wohl ins Koma versetzen. Anders hätten sie die Schmerzen wahrscheinlich gar nicht in Schach halten können.

»Momentan ist dein Gesicht mit einem Spezialverband aus antiseptischer Gaze umwickelt, eine Art zeitweiliger Ersatz –«

»Ein Teil von meinem Gesicht ist weg?«, unterbreche ich ihn. Wie kann das sein? Um was genau ist der Verband denn dann gewickelt?

Mein Vater sagt nichts. Sein Atem klingt rau und abgehackt. Er weint. Ich glaube, ich habe meinen Vater noch nie weinen sehen. Das heißt, natürlich sehe ich ihn jetzt auch nicht. Ich höre ihn nur.

Ein Elektrobrand ist heißer und intensiver als ein normaler. Wie komisch, dass das Feuer sich, als es heißer wurde, blau verfärbt hat. Blau ist doch die Farbe der kalten Bucht vor San Francisco, des kühlen Nachmittagshimmels, die Farbe eisiger Lippen und Finger. Ein heißes Blau kann ich mir nicht vorstellen.

Vielleicht würden die Worte meines Vaters mehr Sinn ergeben, wenn ich noch wüsste, wie es sich angefühlt hat, in Flammen zu stehen – aber meine Erinnerung setzt an dieser Stelle vollkommen aus. Vielleicht hatte ich zu dem Zeitpunkt schon das Bewusstsein verloren. Oder vielleicht ist das eine Gefälligkeit, die einem das Hirn erweist: eine Art punktuelle Amnesie, damit man sich nicht an den schrecklichsten Augenblick seines Lebens erinnert. Trotzdem wünschte ich, ich wüsste wenigstens noch irgendetwas von alldem. Denn im Moment klingt einfach nichts von dem, was mein Vater sagt, als könnte es wahr sein. Nichts davon klingt, als wäre es mir passiert.

»Soll das heißen, mein Gesicht – meine Nase, meine Wange, mein Kinn – das ist alles im Feuer geschmolzen?« Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen, wie anstelle meiner linken Gesichtshälfte ein riesiges ausgefranstes C klafft. Es wirkt wie etwas aus einer Gruselgeschichte, einem Horrorfilm.

»Ja«, sagt mein Dad heiser. »So in etwa.« Wieder scharrt der Stuhl übers Linoleum. Er steht auf. »Ich hole dir ein Taschentuch.«

»Wofür?«

»Du weinst.«

Den Kloß im Hals habe ich gespürt, aber die Tränen nicht, und dass mir die Nase läuft, habe ich wohl nicht gemerkt, weil ich gar keine mehr habe.

Oh Gott, ich habe keine Nase mehr. Der Kloß in meinem Hals schwillt an, bis ich fürchte, daran zu ersticken. Jetzt schiebt mein Vater sich in mein Blickfeld und tupft mir vorsichtig mit einem Taschentuch die Augen ab. Ich spüre seine Berührung genauso wenig, wie ich die Tränen bemerkt habe, die unter meinen Verband rinnen.

»Warum fühle ich nichts?«

»Das Gewebe ist tot, Liebes. Du kannst da nichts fühlen.«

Schätze, damit wäre auch erklärt, warum mein Gesicht weniger wehtut als meine Seite. Aber ich begreife es noch immer nicht. Wie kann man keine Nase, keine zwei Wangen, kein Kinn haben? Das geht doch nicht. Irgendwas muss übrig sein. Schließlich kann dort, wo früher meine Nase war, nicht einfach ein großes schwarzes Loch sein, oder?

Ein rosa Schimmer dringt zu den Fenstern herein. Draußen muss gerade die Sonne aus dem Nebel aufsteigen.

Es ist wenig Licht, aber es wird reichen. Viel lässt sich wahrscheinlich sowieso nicht erkennen, so komplett bandagiert, wie mein Gesicht ist, aber ich muss es mir einfach anschauen. Vorher werde ich es nicht glauben können. Nicht, weil ich denke, dass Dad lügt – sondern weil ich es schlicht nicht fassen kann. Die Realität dringt einfach nicht zu mir durch.

»Ich muss es sehen«, sage ich leise. »Bitte.«

Mein Vater nickt und verschwindet.

Zuerst denke ich, er geht einen Arzt holen oder eine Schwester, um sie zu bitten, meine Morphiumzufuhr zu erhöhen, damit ich wieder einschlafe. Vielleicht hofft er ja, dass ich, wenn ich aufwache, mich an nichts mehr erinnere oder das alles für einen Traum halte. Es ist ja auch wie in einem Traum, einem Albtraum. Denn in der echten Welt gibt es so etwas Grauenhaftes wie ein Mädchen ohne Gesicht nicht.

Zu meiner Überraschung kommt mein Dad jedoch kurz darauf mit einem Handspiegel zurück. »Ich warte ab, bis er ihn mir übers Gesicht hält, sodass ich mich sehen kann.«

Mein ganzer Kopf ist bandagiert, aber ich sehe sofort, dass an der Stelle, wo die Erhebung meiner Nase sein müsste, alles flach wie ein Pfannkuchen ist. Und unterhalb meines Mundes bricht mein Gesicht einfach mehr oder weniger ein – wo einmal mein Kinn war, wölbt sich die Gaze nach innen, als hätte jemand mit der Axt ausgeholt und sauber den Knochen abgetrennt, sodass zwischen Lippen und Hals nur noch Leere ist.

Das Panikseil um meinen Brustkorb sitzt eng, enger als je zuvor. Ich habe noch nie etwas so Hässliches gesehen. Ich bin ein Zirkusfreak, eine Außerirdische, eine Statistin aus einem Science-Fiction-Streifen. Ich bin ein Monster, das Kinder zum Weinen bringt, ein abschreckendes Beispiel.

Meiner Kehle entweicht ein erstickter Laut, und meine Augen – das Einzige, was ich noch an mir wiedererkenne – füllen sich erneut mit Tränen. Was wird aus einem so zerstörten Mädchen? Bleibt sie für immer im Krankenhaus, wie ein Oger aus einem Märchen, der in ein Verlies gesperrt wird? Geht sie wieder zur Schule, wo alle mit dem Finger auf sie zeigen, sie anstarren, über sie tratschen? Wird ihr Freund … oh Gott, ihr Freund. Chirag darf mich so nicht sehen. Chirag darf mich nie wieder sehen. Habe ich die Vorstellung, dass er neben meinem Bett sitzt und meine Hand hält, wirklich mal als tröstlich empfunden? Weiß Chirag überhaupt Bescheid? Wie viel haben meine Eltern ihm verraten? Ich wünschte, ich hätte Mom nicht gedrängt, ihn anzurufen. Mein Herz klopft so laut und heftig, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalten würde.

Bevor mein Dad geht, bitte ich ihn, den Spiegel rechts neben mir auf die Matratze zu legen. Ich will ihn in Reichweite haben, damit ich jederzeit danach greifen kann, wenn ich mich daran erinnern muss, wie falsch ich lag: Es gibt tatsächlich so etwas Grauenhaftes wie ein Mädchen ohne Gesicht.